Klaus M. Rarisch über Giuseppe Gioacchino Belli

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Klaus M. Rarisch
EINE MENSCHLICHE KOMÖDIE IN SONETTEN
Über Giuseppe Gioacchino Belli (1791–1863)

Rom vor 150 Jahren: als Stadt von 150.000 Einwohnern Zentrum des Kirchenstaates, des korruptesten und rückständigsten Territoriums auf italienischem Boden. Meuchelmord und Totschlag, Straßenüberfälle und Taschendiebstähle sind an der Tagesordnung; die Bürger tragen den Rosenkranz und das Messer in der Tasche, Vornehmere bevorzugen als besonders heimtückische Waffe den Stockdegen. Öffentliche Hinrichtungen und Prügelstrafen dienen zur Volksbelustigung. In Regierung und Verwaltung dominieren Nepotismus und Mißwirtschaft; das Elend der Unterschicht nimmt ständig zu. Täglich werden neue Gesetze, Dekrete und Verordnungen erlassen, um die sich niemand kümmert. Die kirchliche Justiz lebt von Denunzianten, Agenten und Lockspitzeln. Das Chaos wächst, der Polizeistaat wird immer perfekter. Wer nicht von den Kutschen der Besitzenden rücksichtslos überfahren werden will, kann sich abends und nachts nicht mehr auf die engen Straßen wagen. Die Müllabfuhr ist Sache von privaten Lumpensammlern und Sträflingen. Niemand findet etwas dabei, daß man ein Zweiklassenbestattungswesen praktiziert: die Leichen der Armen werden in der Morgendämmerung zu den Massengräbern gekarrt, wenn der Gestank am wenigsten stört. Das römische Umland, die Campagna, ist eine menschenleere Wüste, die wegen der Raubüberfälle nur unter Lebensgefahr passiert werden kann.

Die Moral war in Rom außer Kurs gesetzt. Man konnte sich im Bürgertum durch eine reiche Heirat finanziell sanieren oder eine Konventionalehe führen, bei der man der Gattin den festen Hausfreund zugestehen mußte. Daß proletarische Ehefrauen unter – nicht uneigennützig gespendeter – kirchlicher Absolution ihr Haushaltsgeld durch Prostitution aufbesserten, war selbstverständlich. Ein Mädchen, das mit sechzehn Jahren noch Jungfrau war, galt als Weltwunder. Die Leute aus dem Volk mußten Überlebenskünstler sein; reiche Fremde am Forum Romanum mit gefälschten Antiquitäten zu betrügen, war damals wie heute noch ein ehrbares Gewerbe. Die Bettelei vor und in den Kirchen war üblich; wer sich als Bettler blind stellte, befolgte nur die zünftigen Berufsregeln.

Belli 1841

Giuseppe Gioacchino Belli
1841

In diesem Staatsgebilde konnte nur durch die napoleonischen Interventionen (bis 1814) und durch die Ausrufung der kurzlebigen »Römischen Republik« (1849) politisch etwas bewegt werden, bis der Kirchenstaat 1870 glücklich liquidiert wurde. In diesem bedrückenden Milieu lebte und arbeitete, zeitweilig in päpstlichen Diensten, der Bürgersohn und Dichter Giuseppe Gioacchino Belli (1791–1863). Wäre er nur als Mitbegründer und späterer Präsident der literarischen Akademie »Tiberina« sowie als Übersetzer und Verfasser konventioneller Poesien hervorgetreten, brauchte man von ihm nicht mehr zu sprechen. Aber Belli führte eine höchst modern anmutende Doppelexistenz, da er unter den Augen von vier Päpsten (Leo XII., Pius VIII., Gregor XVI. und Pius IX.) in den zwanzig Jahren von 1829 bis 1849 heimlich seine phänomenalen 2279 römischen Sonette schrieb, von denen er nur ein einziges zu Lebzeiten selbst veröffentlichte. Jährlich entstanden im Durchschnitt 114 Sonette, manchmal mehrere an einem Tag, fast alle datiert: schon quantitativ ein überwältigendes Werk! Aber die Fülle verblaßt vor der thematischen Mannigfaltigkeit und formalen Qualität der Verse, mit denen Belli eine veritable Comédie humaine schuf, wie sie der fast gleichaltrige Balzac nicht weniger realistisch, aber viel weitschweifiger und lockerer gefügt in seinen Romanen dem Leser vor Augen führte. Die oben nur andeutungsweise geschilderten Zustände im Kirchenstaat werden in Bellis Sonetten zu einer umfassenden Kultur- und Sittengeschichte seiner Zeit komprimiert, die nicht nur historischen Wert besitzt, denn dieser Dichter hat dem Volk aufs Maul geschaut und dabei eine sprachschöpferische Kraft erwiesen, die hinter Luther nicht zurückbleibt.

Wer heute als Tourist vor dem Vatikan steht, in dem der Papst ja nur wenige Gemächer bewohnt, und einen einfachen Römer fragt, was denn in den weiten Räumen vor sich gehe, darf sich nicht über die naive Antwort wundern: da wird Geld gezählt! Läßt doch schon Belli in dem ironischen Sonett vom 31. Dezember 1845 einem Skeptiker die Antwort zuteil werden, der Papst führe »ein Hundeleben«, weil ihm niemand beim Geldzählen helfe. Kaum ein Fremder wird in Rom die allenthalben eingemeißelte Inschrift »S.P.Q.R.« (Senatus PopulusQue Romanus) übersehen können, aber wer weiß schon, wie das Volk in Rom die ihm unverständlich gewordene Abkürzung interpretiert: nämlich nach Bellis gleichnamigem Sonett vom 4. Mai 1833 als »soli preti qui regneno« (nur Priester regieren hier). Auch Mord nach Entführung und Lösegelderpressung kannte Belli schon, nur daß die Täter bei ihm Klosterbrüder sind, was aus dem Jahre 1837 historisch verbürgt ist.

Belli selbst bezeichnete die Helden seiner Comédie humaine, seiner häufig mono- oder dialogisch angelegten Sonette als Personen eines Dramas. In diesem Panorama römischen Lebens figurieren Päpste und Prälaten, Prostituierte und Kupplerinnen, ambulante Händler und philosophische Analphabeten, geschminkte Damen und Säufer, Astrologen und Hexen, Quacksalber und keifende Schwiegermütter, Hausknechte und Pfaffen, Mönche und Luxusäbtissinnen, Faulpelze und prahlerische Soldaten bis hinab zum »nackten Bettler« (so Belli in seiner Einführung), und fast immer bleibt der Dichter in Distanz, fast nie legt er seinen Figuren seine eigene Meinung in den Mund. Religiöse oder sexuelle Tabus kennt er dabei freilich nicht. Die Päpste, seine Herrscher und Brotgeber, greift er sowohl als Individuen wie als Repräsentanten der Institution an. Pius VIII. ist bei Belli ein »häßlicher Klepper«, Gregor XVI. ein Säufer. Einmal heißt es, alle sieben Todsünden würden dem Papst wohl anstehen. Und das Sonett »Gründonnerstag« ist von einer für die Entstehungszeit (1833) unerhörten Kühnheit: zwei Homosexuelle, die sogar leibliche Brüder sein können, werden beim Geschlechtsakt von einem fernen Kanonenschuß unterbrochen, der den päpstlichen Segen ankündigt.

Selbstverständlich konnte Belli nur zu Beginn seiner Arbeit, als er sich über die Brisanz der Sonette selbst noch nicht klar war, an eine Veröffentlichung denken. In dieser Zeit schrieb er eine Einführung zu dem Werk, deren Kernsätze für sich sprechen:

    Ich habe beschlossen, ein Denkmal dessen zu hinterlassen, was heute die Plebs von Rom ist. Dieses Volk besitzt sicher eine gewisse Originalität; und seine Sprache, seine Einfälle, die Gemütsart, die Kleidung, die Sitten, die Gebräuche, die Einsicht, der Glaube, die Vorurteile, der Aberglaube, kurz alles, was es betrifft, trägt ein Gepräge, das es sehr von jedem anderen Volkscharakter unterscheidet … Die Leute aus unserem Volk haben keine Kunst, weder Rhetorik noch Poesie … Ich will auf meinen Blättern nicht etwa die Volkspoesie präsentieren, sondern die Redeweise des Volkes sich aus meiner Poesie entwickeln lassen … Ich zeichne hier die Ideen eines unwissenden, jedoch großenteils einfallsreichen und scharfsinnigen Volkes, und ich zeichne sie, möchte ich sagen, mittels eines fortwährenden Idioms, einer ganz verdorbenen und verderbten Sprache, einer Sprache, die schließlich nicht Italienisch und nicht einmal Römisch ist, sondern Romanesco … Jedes Viertel Roms, jedes Individuum unter seinen Bürgern vom Mittelstand abwärts hat mir Episoden für mein Drama vermittelt … Jede Seite ist der Anfang des Buches, jede Seite das Ende.

Später verfügte er, daß die Sonette nach seinem Tode verbrannt werden sollten, jedoch, wie der Herausgeber Giuseppe Longo anmerkt, »sicher in der geheimen Hoffnung, daß sie diesem Schicksal entgehen würden«. Belli war damit ein radikalerer Vorgänger von Kafka, der immerhin zu Lebzeiten mehr veröffentlichte, als es Belli jemals hätte tun können oder wollen. Gustav René Hocke zieht eine weitere Parallele, wenn er meint: »Wie Kafka blieb Belli ein ›Angestellter‹, der sich gerade durch sein Sonetten-Werk von einer fortschreitenden Angstneurose erholte, die ihn im Alter aber schließlich überwältigte …«

Für mich ist Belli nicht der typische Angestellte, ganz abgesehen davon, daß er zeitweise auch als freiberuflicher Journalist arbeitete oder privatisierte. Belli empfand die Welt der Kanzleien nicht als Labyrinth ohne Ausweg, sondern als zwar chaotischen, aber durchaus transparenten Käfig, als Fundament des Heiligen Stuhles. Die Insassen des Käfigs konnten es sich je nach Temperament darin wohl sein lassen, wenn sie den Papst einen guten Mann sein ließen, oder sich mit List und Schlauheit einen Passierschein zur Außenwelt beschaffen.

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Bellis Sonette wurden posthum sehr dilatorisch publiziert und von den deutschen Romanisten Hugo Schuchardt und Karl Vossler entdeckt. Paul Heyse, der deutsche Nobelpreisträger von 1910, übersetzte erstmals zwischen 1878 und 1894 63 Belli-Sonette, allerdings solche der harmloseren Art. Eine erste italienische Gesamtausgabe erschien 1886–89, herausgegeben von Luigi Morandi. Seitdem hat sich in Italien eine solide Belli-Forschung entwickelt, von deren Resultaten aber bisher nur wenig zu uns gedrungen ist. Als ich 1983 in Italien eine kleine Auswahl der Sonette las, war mir der Name Belli ganz unbekannt, aber ich spürte sogleich, einem Giganten begegnet zu sein.

In deutscher Sprache liegt die inzwischen wieder aus dem Buchhandel verschwundene Monographie vor: »Giuseppe Gioachino Belli, Die Wahrheit packt dich … Eine Auswahl seiner frechen und frommen Verse, vorgestellt und aus dem Italienischen übertragen von Otto Ernst Rock. Mit einem Essay von Gustav René Hocke«, Heimeran Verlag, München 1978, 291 Seiten. (Die Schreibweise des zweiten Vornamens von Belli, Gioacchino, schwankt ebenso wie die von ihm erfundene Orthographie seiner Texte in Romanesco.)

Das verdienstvolle Buch von Rock, das diesen Ausführungen zugrunde liegt, bringt eine Einleitung des Herausgebers und Übersetzers, Fragmente aus der authentischen Einführung von Belli, eine zweisprachige, chronologisch angeordnete Auswahl von 104 Sonetten (also 4,5 % des Gesamtwerks), ausführliche und kulturhistorisch höchst informative Anmerkungen (bei denen allerdings die Textwiederholungen auf S. 204, 219, 229 und 253 entbehrlich sind), sechs Sonette in der Übersetzung anderer Autoren, eine Zeittafel, den Essay von Hocke, einen Quellennachweis und zeitgenössische Illustrationen. Ende 1984 ist als Insel Taschenbuch Nr. 754 erschienen: »Die Wahrheiten des G. G. Belli. Römer, Huren und und Prälaten. Eine Auswahl seiner frechen und frommen Verse. Vorgestellt und aus dem Italienischen übertragen von Otto Ernst Rock«, 352 Seiten, DM 14,—. Der Text ist im wesentlichen identisch mit dem der Ausgabe von 1978. Rock bringt nunmehr 129 Beispiele (5,7 % der Sonette) in eigener Übersetzung, läßt aber fast alle italienischen Originaltexte weg, so daß hier aus der vergriffenen Heimeran-Ausgabe zitiert wird. Zusätzlich stand eine italienische Taschenbuchausgabe zur Verfügung: »Il Belli tascabile – 210 sonetti, Scelti e annotati da Giuseppe Longo«, Pan editrice, Milano 1976, 250 Seiten, die mit 210 Sonetten immerhin 9,2 % des Werkes präsentiert. Wer sich intensiver mit Belli befassen will, sei auf die neuen italienischen Gesamtausgaben verwiesen (bei Mondadori, Roma 1952, hrsg. v. Giorgio Vigolo, und bei Feltrinelli, Milano 1965, hrsg. v. Maria Teresa Lanza).

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Belli war ein antiklerikaler Katholik. Für Hocke (Rock, S. 278) ist er »stoischer Christ«. Bei aller Skepsis gegenüber jedem Versuch, einen so vielschichtigen und widerspruchsvollen Charakter auf eine simple Formel zu bringen, verstehe ich Belli eher als Skeptiker. Er war kein Gottsucher, er war von Gott heimgesucht. Insofern ist der Untertitel der Rock-Ausgabe irreführend, denn Bellis Verse sind weder frech noch fromm im üblichen Sinne. Im Leben beugte sich Belli existentiellen Zwängen, in seinem Werk aber nicht. Er endete in Resignation und Verbitterung. Nur so ist es zu erklären, daß er als Feind aller Zensur sich dazu erniedrigte, 1852 päpstlicher Theaterzensor zu werden und als solcher z.B. dem harmlosen Libretto von Verdis »Rigoletto« Auflagen zu erteilen. Longo (S. 28) kommentiert: »Gott möge es ihm vergeben.«

In deutschen Lexika wird man Bellis Namen vergeblich suchen. Für die Historiographie des Sonetts jedoch ist sein Werk unübersehbar. In dem Buch »Hans-Jürgen Schlütter, Sonett. Mit Beiträgen von Raimund Borgmeier und Heinz Willi Wittschier«, Metzler, Stuttgart 1979 (Sammlung Metzler, M 177), 160 Seiten, wird er von dem Romanisten Wittschier auf S. 37 zutreffend charakterisiert:

    Innerhalb der italienischen Literatur vermochte diese Gedichtform nur noch Giuseppe Gioacchino Belli (1791–1863) wesentlich zu bereichern; in seinen über 2000 Sonetten schildert er die damaligen politischen und gesellschaftlichen Mißverhältnisse, übrigens oft durch Verwendung von eindrucksvollen Dialogen, womit er eine gewisse stilistische bzw. strukturelle Neuerung schuf. Als einer der ersten Sonettdichter Italiens war er darum bemüht gewesen, das Sonett nicht als bloße Kunstform, sondern als Instrument für die Erfassung von aktueller Wirklichkeit zu verwenden. So ist er einer der wenigen realistischen Lyriker innerhalb einer gewaltigen italienischen und zwar überwiegend unrealistischen, weil ständig von irgendwelchen idealistischen Vorstellungen beeinflußten Sonettmasse!

In der Tat ist der Bruch mit der sublimen Sonett-Tradition seit Petrarca nicht schärfer denkbar, als ihn Belli, bei gleicher formaler Meisterschaft, vollzog.

Ein Wort zur Übersetzung, aus Respekt vor Belli, nicht um die große Leistung Rocks zu benörgeln, der jedenfalls die Sprache Bellis verstanden hat, womit die Arbeit bei dieser schwierigen Vorlage schon zur Hälfte getan war. Rock ist um Allgemeinverständlichkeit bemüht und verzichtet darauf, einen dem Romanesco vergleichbaren deutschen Großstadtdialekt zu wählen, etwa das Berlinische. Statt dessen zieht er sich weitgehend auf die Umgangssprache zurück. Nach der Definition von Wolf Friedrich umfaßt die Umgangssprache »nicht etwa nur die familiäre Sprache der Gebildeten, sondern alles, was wir im Englischen und Romanischen als Slang oder Argot kennen bis hin zum Vulgären oder Obszönen« (zitiert nach Rock, S. 14), also eine im ganzen deutschen Sprachraum verständliche Art, sich salopp auszudrücken. Ich halte Rocks Entscheidung prinzipiell für richtig. Hocke bemerkt dazu in seinem beigefügten Essay (S. 280): »Tatsächlich wäre es unerträglich geworden, eine römische Prostituierte zur Zeit Leo des Zwölften im Landes-Jargon einer heutigen Kollegin im Eros-Center von München sprechen zu lassen.«

Wenige Beispiele mögen die Arbeitsweise Rocks belegen. Er setzt »Da quasseln sie« für »è un chiacchierà« (es ist ein Geschwätz, S. 134) oder »auf die Nerven gehen« für scocciare (belästigen, S, 118). Der umgangssprachliche Argot umfaßt großenteils auch populär gewordene Metaphern, die ursprünglich aus der Hochsprache stammen. Rock arbeitet viel mit solchen Floskeln, z.B. »des Knaben Wunderhorn« für »perno de l’amore« (wörtlich: Liebesstift, S. 120) oder »Die gnäd’ge Frau ist wirklich eine Nummer« für »Si la padrona insomma è una girella« (wörtlich: Wetterfahne, S. 125). Zuweilen erfindet Rock auch saloppe Wendungen, die im Original keine Entsprechung haben, und da ist Kritik angebracht (»habt mich gerne«, S. 53). Ganz selten mildert er ab, wo Belli drastischer ist (»Weib« statt »strega nera«, schwarze Hexe, S. 126). Im allgemeinen zeigt Rocks Übersetzung die umgekehrte Tendenz, nämlich zu vulgarisieren, wo Belli sachlich bleibt: z.B. setzt Rock unbedenklich »krepieren« für morire (sterben, S. 136), »verknacken« für sentenziare (aburteilen, S. 104) oder »Scheißkram« für tormento (Qual, S. 85). Solche Vergröberungen sind aber gerade bei Belli verfehlt, der ja alles andere als zimperlich ist und die berüchtigten Vokabeln aus dem Fäkal- und Sexualbereich (cazzo, uccello, fregna) reichlich oft verwendet, so daß er an Drastik ohnehin nicht zu übertreffen ist. Belli selbst, wenn er z.B. häufig sowohl »krepieren« als auch »sterben« gebraucht, setzt bewußt unterschiedliche Sprachebenen gegeneinander ab; der Übersetzer sollte diese Nüancen nicht einebnen.

Da negativ besetzte Wörter bei den Römern oft aus der religiösen Sphäre stammen, bezeichnet Belli beispielsweise auch höchst weltliche Widrigkeiten wie die im Kirchenstaat üblichen Weinpanschereien der Kneipenwirte als »peccati« (Sünden); wenn Rock dafür »Sauereien« setzt (S. 113), trifft er die Vorlage nicht exakt genug. Flüche mit religiösem Bezug sind in Rom ein Stück Religionskritik des einfachen Volkes, das sich nicht anders artikulieren kann. Wenn Belli einen Mann aus dem Volk fluchen läßt »per dio de legno!« (bei Gott aus Holz, beim Kruzifix! – S. 119), sollte die Übersetzung diese Feinheit nicht unterschlagen.

Ohne Not, höchstens dem Zwang von Reim und Rhythmus gehorchend, weicht Rock häufig vom Original ab. Das fängt bei relativ unwichtigen Dingen wie den Vornamen oder Verwandtschaftsbeziehungen der dialogisch agierenden Figuren an: Mario statt Giuvacchino (S. 105), Julius und Dante statt Giorgio und Tomasso (S. 144) oder Giovanni und Aldo statt Girolimo und Taddeo (S. 146) sowie Opa statt Oma (wörtlich: »nonna«, Großmutter, S. 140). Sind solche Ungenauigkeiten verzeihlich, wird es schon ärgerlicher, wenn Rock heftig »mitdichtet« und einen Vers erfindet wie »Man glaubt, man ist in Afrika … in China« (S.141), was sich zwar auf »Katharina« reimt, aber nicht im geringsten von Belli stammt. Mit Recht steht in den Anmerkungen (S. 188): »Belli und seine Römer bejammern oft die hohen Steuern«, nur leider bezieht Rock das auf ein Sonett, in dem zwar er, aber nicht Belli von Steuern spricht (S. 80).

Gravierender als all das ist jedoch Rocks Geständnis: »In der vorliegenden Übertragung ist die strenge Form oft gelockert« (S. 16). Er deutet damit das Dilemma aller deutschen Sonettisten an: Sie müssen sich entscheiden zwischen der strengen und schwierigen Form des klassischen Sonetts mit verbundenen Quartetten (Verse 1 bis 8, Reimschemata abba/abba bzw. abab/abab) oder der erleichterten Schülerfassung mit isolierten Ouartetten (abba/cddc bzw. abab/cdcd). Wer selbst sonettiert, kennt den Anspruch der ersten Alternative, dem er sich stellen oder entziehen kann. Während Belli scheinbar mühelos, wie selbstverständlich, immer die strenge Form erfüllt, bringt Rock nur in 14 seiner 104 Übertragungen verbundene Ouartette und bleibt damit formal weit hinter Belli zurück. Auch der Rhythmus der Rockschen Verse holpert häufig heftig.

*

Belli in Trastevere
Giuseppe Gioacchino Belli
in Trastevere

Diese kritischen Anmerkungen sollen nicht etwa Rock entmutigen, sondern im Gegenteil die Schwierigkeit seiner Aufgabe verdeutlichen. Ein Sonett wie »Gründonnerstag« halte ich schlicht für unübersetzbar. Hier gilt besonders, was Rock in seiner Einleitung (S. 13) feststellt: er konnte nur versuchen, »Bellis römische Sonette so ins Deutsche zu übertragen, daß wenigstens ein Abglanz des Originals und dessen Sprach- und Darstellungskraft spürbar wird«. Meine Kritik will auch nicht besagen, daß der Übersetzer sklavisch an der Vorlage kleben bleiben solle, wie ein Monsignore (oder ein Bonner Minister) an seinem Sessel. Es kommt vielmehr darauf an, die Sprache Bellis seinem Geist und nicht dem Buchstaben entsprechend zu transferieren. In dem Sonett »La morte co la coda« wird bei Belli nicht gebellt, aber »sta cana eternità« (diese Hündin Ewigkeit) ist Originaltext. Was sollte diese Hündin anders tun als bellen? Ich durfte also als Übersetzer Bellis Metapher in seinem Geist erweitern und seine Hündin bellen lassen. Man vergleiche meine nun folgende Übertragung mit der von Rock (S. 149). Übrigens ist der Titel »Der Tod mit dem Schwanz« interpretationsbedürftig. Longo (S. 232) deutet in seiner Fußnote 1 das »coda« einfach als »seguito« (Gefolge) – ein Indiz für die Dunkelheit der Bilderwelt Bellis selbst in den Augen italienischer Experten. Ich dagegen gebe der Interpretation von Giorgio Vigolo den Vorzug, die ich hier (nach Rock, S. 256) dankbar zitiere:

    Der surrealistische und mittelalterliche Titel erinnert an das allegorische Bild der »mors caudata«, jenes seltsamen geschwänzten Ungeheuers oder Skeletts; man konnte sich kein schaurigeres und packenderes Symbol der Ewigkeit ausdenken, dieser niemals endenden Qualen in der anderen Welt. Der Schwanz ist nie bei den Himmlischen zu sehen, nur Tiere und Teufel tragen ihn. Der Tod mit dem Schwanz ist deshalb das Gegenstück zu der barmherzigen Mutter und Heilerin aller Schmerzen der letzten Ruhe; es ist ein entsetzlicher Alptraum, den der Dichter beschwört, man kann ihn nicht vergessen.

Die Dialektfärbung von Bellis Sprache habe ich durch das saloppe »von mir aus« (statt des hochsprachlichen »meinetwegen«) und durch die vulgäre Floskel »armes Schwein« andeutungsweise wiederzugeben versucht.

DER TOD MIT DEM SCHWANZ

Du kannst von mir aus Jakobiner sein,
wenn nicht, dann glaube fest an die Gesetze,
du glaubst, ob Adliger, ob armes Schwein,
daß einer schon für dich die Sense wetze.

Noch läufst du ins Theater und trinkst Wein,
rennst vom Bankett zur Liebschaft, welche Hetze,
noch schacherst du, noch bringt es etwas ein,
du paßt dich an … und hängst dem Tod im Netze!

Und dann? Dann kommt das große Wehgeschrei,
das andre Leben in der andren Welt,
das immer währt und niemals geht vorbei!

Verrücktes Nie! Wie der Gedanke schreit!
Ob oben oder unten, ewig bellt
ins Ohr dir diese Hündin Ewigkeit!

29. April 1846

Es folgt ein Sonett, das bei Rock fehlt und dessen Originaltitel »Er passa-mano« nicht wörtlich zu übersetzen war, denn er bezieht sich nach Longo (S. 200) eigentlich auf ein Spiel, bei dem ein Gegenstand unter der Hand von einem Spieler zum anderen weitergereicht wird. Der Gegenstand dieses Spiels ist aber typisch für Belli: es ist die Papstwürde.

DER TASCHENSPIELERTRICK

Der Papst, der Vizegott, das große Tier,
ist ewig wie der Herr der Ewigkeit.
Das heißt, er stirbt nicht, er bleibt einfach hier,
und falls er stirbt, stirbt nur sein äußres Kleid.

Denn wenn sein Leib läßt ab von Lebensgier,
macht sich sein Geist in allen Ehren breit,
bei Gott und Teufel nimmt er nicht Ouartier:
der nächste Papst steht schon für ihn bereit.

So ändert sich vielleicht der Hirnbereich,
auch Magen, Ohren, Nase, Haar vergehen;
jedoch der Papst, als Papst, bleibt immer gleich.

Und deshalb fällt herab vom Paradeis
der Körper, der zur Würde ausersehen,
ganz unbeseelt und atmet nur ganz leis.

4. Oktober 1835

*

Um eine Vorstellung vom Klang des Romanesco (wie es übrigens heute noch in Rom gesprochen wird) zu geben, sollen die beiden Sonette im Original, in der von Longo gewählten Schreibweise und mit seinen Fußnoten, den Abschluß bilden.

LA MORTE CO LA CODA (1)

Qua nun ze n’ esce: (2) o ssemo giacubbini,
o credemo a la lègge der Ziggnore.
Si ce credemo, o minenti o ppaini, (3)
la morte è un passo che ve gela er core.

Se curre (4) a le commedie, a li festini,
se va ppe l’ostarie, se fa l’amore,
se trafica, s’impozzeno (5) quadrini,
se fa d’ogn’erba un fascio … eppoi se more!

E doppo? doppo viengheno (6) li guai.
Doppo c’è l’antra vita, un antro monno,
che dura sempre e nun finisce mai!

E’un penziere quer mai, che tte squinterna! (7)
Eppuro, o bene o male, o a galla o affonno,
sta cana (8) eternità dev’èsse eterna!

29 aprile 1846

    (1) Col seguito. – (2) Delle due una. – (3) Popolani o signori. – (4) Si corre. – (5) Si mettono da parte. – (6) Vengono. – (7) Ti sconvolge. – (8) Cagna.

ER PASSA-MANO (1)

Er Papa, er Viceddio (2), Nostro Siggnore,
è un Padre eterno com’er Padr’Eterno.
Ciovè (3) nun more, o, pe dì mejo, more,
ma more solamente in ne l’isterno. (4)

Ché quanno er corpo suo lassa er governo, (5)
l’anima, ferma in ne l’antico onore,
nun va né in paradiso né a l’inferno,
passa subbito in corpo ar zuccessore.

Accusì ppò variasse (6) un po’ er cervello,
lo stommico, l’orecchie, er naso, er pelo;
ma er Papa, in quant’a Ppapa, è ssempre quello.

E ppe questo oggni corpo distinato
a quella indiggnità, (7) casca dar celo
senz’anima, e nun porta antro ch’er fiato. (8)

4 ottobre 1835

    (1) È quel giuoco che consiste nel sottrarre un oggetto e nel passarlo ad altri che a sua volta prosegue nel trasferirlo. – (2) Il vice Dio, il Vicario. – (3) Cioè. – (4) Nell’esterno. – (5) Il potere. – (6) Può cambiare. – (7) Dignità.- (8) Il respiro.

Auch die Kunst des Übersetzens gleicht oft einem Spiel mit verdeckten Karten und kann zum Taschenspielertrick verkommen. Diesem Zwielicht sollten Bellis Sonette nicht länger ausgesetzt bleiben.

*
Etwa in dieser Form abgedruckt in: die horen, Band 142/1986, S. 108-117
Rechte bei Klaus M. Rarisch

HEL geht auf Kölsch an Belli ran:
Le cancelletti

Helmut Schulze überträgt Bellis
La creazzione der monno

Ernst-Jürgen Dreyer überträgt Bellis
L’omaccio de l’ebbrei

     
 

Klaus M. Rarisch bei fulgura frango

   

 

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