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Kommentare zum Sonett »Vorsicht ... Leben!« von Daniel Goral


Robert Wohlleben in E-Post vom 6. Juli 2001

Lieber Daniel Goral!

Bin »enchanté«.

Werkstättlich und höchst parenthetisch angemerkt: Die Kadenz in der letzten Zeile find ich n beten »hart gedrängt«, oder so ... was Sie wohl auch selbst wissen. Klar: So direkt mit dem Tod zu hantieren ist so letal »heikel«. Kann wohl gehn, in dann wohl anders beschaffnem Kontext. Freund Hein ist eigentlich insofern aktiver, als er nicht gebracht wird, sondern von sich aus kommt und zugreift. Ich war grad am Überlegen, ob sich ein auf »...ingt« reimendes Äquivalent erwägen ließe ... habs aber – zu dieser späten Stunde – schon aufgegeben ...

GRUSS!
Ihr Robert Wohlleben


Daniel Goral in E-Post vom 6. Juli 2001

Lieber Robert Wohlleben,

da haben Sie kräftig Salz gestreut. Der letzte Vers ist einer von zwei Punkten, die ich an meinem jüngsten Sonett auszusetzen habe. Anfangs stand »... weil Zeit den Tod nur bringt ...«, aber das war mir, wie Sie ganz zutreffend erkannt haben, zu pathetisch, zu dick aufgetragen. Danach war mir ein Vers zugefallen, dem ich noch stark nachtrauere: »..., weil ›Zeit‹ wie ›Schnitter‹ klingt ...«. M.E. eine SEHR gute Möglichkeit, das Pathos auszusperren. Nur wußte ich nicht, ob das doch nicht *zu* kryptisch wäre, also entschied ich mich für »Freund Hein«. Und bin nicht zufrieden.

Wenn ich es mir nun aber recht überlege, pfeife ich auf die Grenzen des Verständnis-Horizontes. ;-)

Ich wäre Ihnen dankbar, würden Sie den letzten Vers wie folgt abändern: »Und dann zerbricht, weil ›Zeit‹ wie ›Schnitter‹ klingt ...« Nebenbei: Der andere, mein Mißfallen hervorrufende Punkt ist die qualitative Diskrepanz zwischen dem Eingangsvers und den übrigen 13. Ein (m. M. n.) so starker Vers (wie der erste) steht aber wohl meist allein auf weiter Flur – und vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlich sogar gut, wenigstens mit dem letzen Vers, mit dem Erscheinen des Todes, Paroli zu bieten ...

Herzlichen Grußes
d


Klaus M. Rarisch im Brief vom 8. Juli 2001

Lieber Robert

Dein Brief an mich vom 6. Juli enthielt auch einen elektronischen Brief an Daniel Goral mit Anmerkungen zu dessen Sonett. Es interessiert mich. Zunächst finde ich die Reime 3/6 unschön – »verrichten / berichten«: darauf sollte man eher verzichten als »auf’s Bräunen«. – – – Gut dagegen der dreifach reiche Binnenreim 9/10:

    Ganz herdenlos im Traum ...
    gebärdenlos den Raum ...

Aber das Problem ist natürlich der Schlußvers. Laut Deinem Kommentar verstehst Du »weil Zeit Freund Hein nur bringt« rein passivisch, also in dem Sinne, daß der Tod nur von der Zeit gebracht wird – was durchaus angreifbar ist, weil es ja auch den plötzlichen (z.B. Unfall-) Tod gibt, der unerwartet kommt und für sein Auftreten kaum Zeit braucht, jedenfalls sehr wenig Zeit, so daß bei Deiner Deutung das »nur« vom Autor verfehlt eingesetzt wäre, so daß das »nur« nur als entbehrliches metrisches Füllsel wirkt. Und überhaupt paßt ein Zerbrechen im vorangestellten Hauptsatz, also ein jähes letales Ende, schlecht zu dem »nur Zeit«. Als Sentenz stimmt also der Schlußvers vorne und hinten nicht.

Möglich ist aber auch die gegenteilige (aktivische) Interpretation: nur Freund Hein bringt einem die Zeit zum Ausruhen, die man im »Leben«, vor dem der Autor ja ausdrücklich warnt, eben nicht hatte. Das wäre eine tiefe und tief resignative Metapher: Nach dem Tode hätte man zwar unendlich viel Zeit, aber man kann nichts mehr damit anfangen, weil man tot ist. So verstanden, ist es eine starke, weil allgemeingültige Sentenz, wie so oft bei Shakespeare.

Herzlich
Dein Klaus


RW im Brief vom 10. Juli 2001

Lieber Klaus!

Ja, der »rührende« Reim »verrichten / berichten« ... weil ich selbst so was nach Möglichkeit zu vermeiden suche (bei andern gehts durch), könnt ich »fast« auch noch »gelingt / klingt« dazusetzen. Nu, ich war erst mal beim Motivischen geblieben.

Deiner Alternativdeutung vom Freund Hein, der uns die Zeit bringt, kann ich nur »gequält« folgen. Im Vers

    Und dann zerbricht, weil Zeit Freund Hein nur bringt ...

können »Zeit« wie »Freund Hein« unbestreitbar beide so gut als Nominativ wie als Akkusativ durchgehen. Im ersten Leseangang bietet sich quasi automatisch die Zeit als Nominativ an. Um Freund Hein diesen grammatischen Status zu geben, braucht es eine gründliche Verwindung der Satzstruktur ... zwar möglich, aber doch so gewaltsam, daß ich mich – wie Du’s von mir kennst – tendenziell dagegen sperre.

GRUSS!
Dein Robert


Klaus M. Rarisch im Brief vom 11.7.2001

Lieber Robert

(...) Zu Deiner Argumentation: Wenn »Zeit« Akkusativ und »Freund Hein« Nominativ sein kann, verstehe ich nicht, was gegen meine Interpretation sprechen sollte. Was sich im »ersten Lesedurchgang« anbietet, und zwar, wie Du meinst, »quasi automatisch«, muß ja nicht richtig sein. Inwiefern bei meiner Deutung eine »gewaltsame« bzw. »gründliche Verwindung der Satzstruktur« vorliegen sollte, ist mir unerfindlich. Es gehört doch gerade zu den schätzenswerten Besonderheiten der deutschen Grammatik, daß wir ganz zwanglos das Objekt (»Zeit«) dem Subjekt (»Freund Hein«) voranstellen können, ohne uns oder die Sprache damit zu verbiegen. Warum sollte denn ein Sonettist auf diese Möglichkeit einer großartigen poetischen Freiheit verzichten?

Gorals Zweitfassung mit dem geänderten Schlußvers

    zerbricht, weil »Zeit« wie »Schnitter« klingt ...

ist leider eine Verschlimmbesserung. Denn nichts zerbricht, nur weil ein Begriff wie ein anderer »klingt«, ohne daß beide einander ergänzen oder widersprechen. Goral will offenbar an dem ziemlich gesuchten, jedenfalls weit hergeholten Beqriffspaar »Zeit« und »Tod« festhalten und ersetzt nun den in der Akkusativbedeutung verunglückten »Freund Hein« durch den »Schnitter«, der erstens weit pathetischer wirkt als »Freund Hein« und der zweitens der »Zeit« lediglich durch einen schwachen, schon von Gottfried Benn prinzipiell kritisierten Wie-Vergleich zugeordnet werden kann Zudem wird der Vergleich noch durch das »klingt« abgeschwächt: Im Sonett sollen Worte, Vokale und Reime klingen, nicht aber Begriffe.

Goral, als jüngerer Sonettist, verfügt nicht über unsere Erfahrung und ist naturgemäß unsicher. Meine Kritik soll ihn nicht entmutigen, sondern ihm helfen. Ich weiß, wie schwer es ist, eigene Versalternativen richtig zu bewerten; über das Problem habe ich mich theoretisch ausgelassen, in der Erläuterung zu Vers 8 meines Sonetts »Unterwegs« (GEIGERZÄHLER S. 140). Gorals Unsicherheit in der Bewertung eigener Verse zeigt sich auch bei der Überschätzung seiner Anfangszeile

    Die Karzinomgebirge expandieren

Nietzsche hätte kürzer und treffender geschrieben:

    Die Wüste wächst, bzw.:
    Die Karzinome wachsen

Und hoffentlich wird sich Goral nicht auf einen Nobelpreisträger berufen.

Böll schrieb (»Die verlorene Ehre der Katharina Blum«, dtv-Taschenbuchausgabe S. 12 f.):

    ... warum eine so kluge und fast kühle Person wie die Blum den Mord nicht nur plante, auch ausführte und im entscheidenden, von ihr herbeigeführten Augenblick nicht nur zur Pistole griff, sondern diese auch in Tätigkeit setzte.

Bürokratisch gestelzter, poesiefeindlicher gehts nimmer! Hier plant eine Person einen Mord und führt ihn auch aus. Wer anders als diese Person sollte also den »entscheidenden Augenblick« herbeigeführt haben? Die preisgekrönte Prosa ist also nur leere Zeilenschinderei, und Böll in seiner unglaublichen Schludrigkeit stört sich nicht einmal an dem widrigen Gleichklang von »ausführte« und »herbeigeführten«. Wo unser Nobelpreisträger in seiner klugen und fast kühlen Dummheit (man verzeihe den Ausdruck) das Satzungetüm vomiert und damit, wie er glaubt, zugleich wirkungsvoll ein ganzes Kapitel abschließt:

    ... nicht nur zur Pistole griff, sondern diese auch in Tätigkeit setzte –

hätte jeder Klippschüler geschrieben:

    ... sondern auch schoß.

Überflüssig zu betonen, daß ich mit dem Hinweis auf Heinrich Böll unseren Freund Daniel Goral nicht beleidigen wollte.

GRUSS!
Dein Klaus


Daniel Goral im Brief vom 12. Juli 2001

Lieber Klaus M. Rarisch,

herzlichen Dank für den durch RW übermittelten Gruß und die Anmerkungen zu »Vorsicht ... Leben!«.

Ich will dort gleich ansetzen. Zur Entstehungsgeschichte des Schlußverses hatte ich ja schon etwas geschrieben. Damit ist die Diskussion um ›Freund Hein‹ zwar eigentlich hinfällig, doch muß ich trotzdem noch einiges anmerken. M. E. nämlich ist RWs Hinweis ›Freund Hein‹ sei »eigentlich insofern aktiver [als ›der Tod‹], als er nicht gebracht wird, sondern von sich aus kommt und zugreift« derart zu verstehen, daß erst durch diese Personifikation ein (wirkliches) Problem entsteht.

Daß am Ende eines jeden Lebens der Tod steht, jede Geburt den Tod schon beinhaltet, daß mit dem Fortschreiten der LebensZEIT der Tod unaufhaltsam näherrückt, ist ja eine triviale Feststellung und wohl nur schwer anzuzweifeln – aber darum geht es bei RWs Kritik auch nicht, denke ich. Vielmehr – und nichts anderes wollte ich oben ausdrücken – ist es ›Freund Hein‹, der (allein) durch diese Bezeichnung zu aktiv, zu handelnd dargestellt wird, der sich dem Leser assoziativ wie Johannes von Saaz’ Tod zeigen könnte, nicht als etwas, das »gebracht« wird, sondern als Handelnder – als Person, die sich nimmt. Und dieser Argumentation kann ich folgen. Und ich habe den letzten Vers, den Kompromißvers, ja auch schon bereinigt, wie Sie bereits wissen werden.

    »... weil ›Zeit‹ wie ›Schnitter‹ klingt ...«

Die Zeit beinhaltet ein Ende. Jeder Stein, jede Materie hat eine Halbwertzeit, eine Zeit, die verstreichen muß, bis die Hälfte des ehemals vorhandenen (Dinges) nicht mehr (in der dieser Berechnung zugrundegelegten Form) existiert, also nicht mehr IST. Wenn die Zeit eines lebendiges Wesens abgelaufen ist, IST es nicht mehr. Wenn ein lebendiges Wesen nicht mehr IST, ist es tot. Mehr meine ich nicht. (Aber auch nicht weniger.) Insofern ist der jetzt stehende Vers, den ich ursprünglich für nicht eindeutig genug hielt, wahrscheinlich sogar passender.

Sie schreiben weiter: »Und überhaupt paßt ein Zerbrechen im vorangestellten Hauptsatz, also ein jähesletales Ende, schlecht zu dem ›nur Zeit‹«. Das Zerbrechen bezieht sich auf »verkleben« im 12-ten Vers. Eine Möglichkeit der Interpretation lautete: Jedermann setzt im Traum seine Erfahrungs-, Möglichkeits-, Hoffnungs- und viele andere Splitter zusammen, verklebt sie zu einem Gefäß, das schließlich eine Art Lebensziel oder einen Ideallebensablauf darstellt oder beinhaltet. Und die meisten träumen so lange, bis ihre Zeit abgelaufen ist, das Gefäß mit dem Eintreten des Todes zerbricht.

Zwar wird in den Quartetten eindeutig vor einer bestimmten Art des Lebens gewarnt, doch nachfolgend erfährt diese Warnung wieder Relativierung: »ich kann es nicht, ...«.

Die einen träumen, fern von »weltlichen Genüssen« und verschlafen das Leben. Die anderen »bräunen« sich in diesen »Weltgenüssen« und verbrennen. Es läuft wohl, wie so oft, auf einen Mittelweg hinaus – wie abgedroschen.

Den mißratenen Reim »verrichten/berichten« habe ich mir unterjubeln lassen. Raten Sie mal von wem: von der Zeit! Es sind immer die selben Verantwortlichen.

Ich habe das Sonett wieder einmal sehr schnell geschrieben, was der Qualität bekanntlich nicht unbedingt zuträglich sein muß. Aber jetzt steht es da – und ich kann ja schwer alles ändern.

Marco Schmarander, mit dem ich seinerzeit das Machwerk Ab Ovo verfaßte, schrieb mir zu diesem Punkt: »Ansonsten weiß ich mir vor Freude nicht mehr zu helfen. Nicht nur, daß Du wieder ein Sonett bei R.W. unterbringen konntest – Du konntest ihm auch ein stumpfes Reimpaar unterjubeln, gratuliere.« Mit dem »stumpfen Reimpaar« war natürlich dieser falsche, nicht wirklich klingende Reim gemeint. Sie sehen, man schießt von allen Seiten. Und diesbezüglich leider zu Recht.

Mit herzlichen Grüßen
Daniel Goral


Daniel Goral:
Prenzlauer Berg, 22/07/2001

Lieber Klaus M. Rarisch,

danke für Ihre letzte Sendung. In der Kopie des Briefes an RW war das Stichwort ›Unsicherheit‹ zu lesen. Und tatsächlich war ich bis gerade eben unsicher, ob ich argumentativ auf Ihre Äußerungen reagieren sollte oder nicht, was weniger mit einer eventuellen Empörung zu tun hat, als vielmehr mit einem massiven Unverständnis.

Von einer ›Unsicherheit‹ bei der Bewertung von Versen zu sprechen, setzte ja eine existierende Sicherheit voraus, einen Qualitätskatalog, den es aber in der Literatur nicht geben kann, da die unterschiedlichen Ausdrucksformen gerade das Wesen der Literatur, besonders der Lyrik maßgebend mitbestimmen. Natürlich ließe sich vieles, sogar fast alles kürzer (be-)schreiben. Ich halte das für ein vollkommen aliterarisches Denkschema. Natürlich hätte ich anstelle des Sonetts auch einen Haiku fabrizieren können ...

»Die Karzinomgebirge expandieren.« >>> Geht es nicht immer auch um Stimmungen? Besonders bei Lyrik? Ich denke, schon. Meine Verse entstehen größtenteils ja keineswegs unüberlegt. Und auch das Wort ›expandieren‹ habe ich nicht ohne Grund verwendet. Denn neben der eigentlichen Wortbedeutung »sich ausdehnen, sich erweitern, usw.« schwingen da noch Konnotationen mit, wie ›Wirtschaft‹, ›Kapital‹, ›Automatisierung‹, ›Entlassungen‹, ›billige Arbeitskräfte‹, ›aggressives Management‹ – Sie wissen schon.

Und es ging mir beim Schreiben eben nicht um ein Geschwür, ich wollte es drastischer: ›Karzinomgebirge‹, furchtbares, schmerzvolles Nebeneinander. Ich wollte einen ersten Vers wie einen Fausthieb, was mir m.E. gelungen ist. Der Leser wird anfangs denken, ich wende mich gegen die Aussage Biehls – am Ende weiß er mehr.

Dabei teile ich Ihre Meinung bezüglich der zitierten Böll-Passage durchaus. Und ich würde dort auch mit den Worten »Bürokratisch gestelzt« und »poesiefeindlich« arbeiten. Nur gelingt es mir nicht, die Brücke zu meinen Versen zu schlagen ...

Was das »ziemlich gesuchte, jedenfalls weit hergeholte Begriffspaar ›Zeit und Tod‹« betrifft, kann ich Ihrer Argumentation nicht folgen. Keineswegs – ich möchte fast schreiben ›leider‹ – ist es »weit hergeholt«. Vielmehr handelt es sich um ein öfter, jedenfalls nicht selten gebrauchtes Motiv: Leben als Krankheit zum Tod. Oder wie Beckett schrieb: Wir gebären rittlings über dem Grabe.

Wenn Sie bedauernd und höchstpathetisch feststellen, daß mir aufgrund des sog. Mangels, den Traum eines Jeden nicht träumen zu können, »eine wichtige Farbe auf der breiten Palette des Dichtertums« fehlt, bleibt mir nur, auf die Existenz verschiedenster Paletten hinzuweisen.

Sie schreiben, mein Brief habe Ihnen einen Punkt erklärt, welchen der Text meines Sonetts nicht »hinreichend klargemacht« hätte. Darauf Bezug nehmend möchte ich bemerken, daß Literatur m.M.n. nicht unbedingt Dinge präzise klären muß, weil sie durch Eindeutigkeit oftmals in das Netz der Trivialität stürzt. Es stellt sich die Frage, ob ein Dichter, der sich in seinem Werk erklärt, einer sein kann.

Für das »weitere Material zur Literatur« einen herzlichen Dank! Ihr ›Traum von der Stiefelspitze‹ hat mich sonderbar beklemmend berührt. Obwohl ich solch flirrende Hitze eigentlich fliehe, gefällt mir dieses Sonett (mal wieder) sehr gut, obwohl ich ›schlafen‹, ›Hafen‹ und ›Grafen‹ nicht auf ›Braven‹ gereimt hätte ...

Vorsichtshalber hier am Ende auch von meiner Seite der Hinweis, daß nichts von dem Geschriebenen eine Beleidigung oder feindliche Äußerung darstellen soll – und nicht nur deshalb mit unverändert

herzlichem Gruß

Daniel Goral


Klaus M. Rarisch im Brief vom 25. Juli 2001

Lieber Daniel Goral –:

ich bestätige dankend Ihren Brief vom 22. Juli und akzeptiere Ihre Kritik, wonach der Reim »Braven« (Traum von der Stiefelspitze, Vers 8) nicht korrekt ist.

Vorausschicken möchte ich, daß Sie möglicherweise nicht den Vorzug verstehen, den Ihr Sonett durch eine breite Diskussion genießt, die der Vermittlung von Robert Wohlleben zu verdanken ist. Ich will Sie nicht kränken und verzichte darauf, Ihnen hier etwa vernichtende Urteile über Ihr Sonett zu zitieren. Aber vielleicht gestatten Sie mir, von Erfahrungen zu berichten, die ich vor mehr als 40 Jahren machen mußte. Ein älterer Autor, der inzwischen längst tot ist, hatte einige meiner ersten Sonette gelesen und meinte dazu sinngemäß: »ganz nette Etüden«. Er wollte damit seine eingebildete Überlegenheit demonstrieren, ich aber nahm es als Kompliment, denn die 24 Etüden op. 10 und 25 von Chopin gehören zu den absoluten Gipfelwerken der Klaviermusik überhaupt. Zufällig besteht mein größter Zyklus von 1958 auch aus 24 Sonetten. Jedenfalls fand ich jahrelang keinen Menschen, der ein detailliertes und begründetes Urteil über meine Sonette abgegeben hätte.

Einen Qualitätskatalog zur Bewertung von Versen kann es durchaus geben, nur muß ihn jeder Lyriker für sich selbst entwickeln. Wer es unterläßt, verzichtet auf die notwendige, wenn auch oft schmerzliche Arbeit am eigenen Verseschreiben. Ich wollte Ihnen nicht etwa meine Kriterien aufdrängen, sondern Ihnen nur Anregungen geben.

Sie wollen die Qualität Ihres Anfangsverses verteidigen:

Die Karzinomgebirge expandieren.

Daß bei »expandieren« ökonomische Anklänge mitschwingen (Sie nennen Kapital, Automatisierung, Entlassungen, billige Arbeitskräfte, aggressives Management), ist klar und war mir bei meiner Kritik natürlich bewußt. Aber auch im Sonett sollten Logik und Kausalitäten walten, als Grundlage für das Desiderat des jeweiligen individuellen Qualitätskatalogs. Logisch ist zu differenzieren zwischen naturgegebenen Übeln (z.B. Krebs) und sozialen Mißständen (also den genannten wirtschaftlichen Widrigkeiten, die von Menschen verursacht sind und von Menschen auch hoffentlich eines Tages beseitigt werden können). Ihnen ist es nicht gelungen, diese beiden grundverschiedenen Aspekte in Vers 1 Ihres Sonetts unter einen Hut zu bringen. Und zwar deshalb, weil die »Karzinomgebirge« beides nicht abdecken und weil Ihnen der übergreifende Begriff nicht eingefallen ist. Das könnten z.B. die »Beschwerden« sein, wie in Vers 8 des Vanitas-Sonetts von Andreas Gryphius:

Itzt scheint des Glückes Sonn, bald donnert’s mit Beschwerden.

Darin steckt eine Sprachgewalt (»donnert’s«), eine Dialektik und Dynamik, die Ihr Karzinomgebirge leider vermissen läßt. Vollends mißlungen ist Ihr geänderter Schlußvers

... weil »Zeit« wie »Schnitter« klingt ...

Leben als Krankheit zum Tod, wie Sie meinen, kann ich daraus nicht ablesen. Entweder ist man Agnostiker, dann endet das Leben sowieso mit dem Tod, ob man nun das Leben als Krankheit oder als kurze Glücksspanne wahrgenommen hat. Oder aber man ist auferstehungsgläubig und relativiert den Tod – dann erübrigt sich die weitere Diskussion sowieso.

Sie werfen mir »Trivialität« vor, denn:

Es stellt sich die Frage, ob ein Dichter, der sich in seinem werk erklärt, einer sein kann.

Ich habe niemals Eindeutigkeit oder präzise Klarheit im Gedicht verlangt – ganz im Gegenteil. Vielmehr halte ich die Offenheit für die verschiedensten Interpretationen gerade für ein Merkmal großer Lyrik. Aber was ich vom Lyriker wenigstens erwarten kann, sind klare Hinweise auf eine Deutungsmöglichkeit. Solche Hinweise läßt Ihr Sonett leider vermissen. Deswegen würde ich umgekehrt sagen: Es stellt sich die Frage, ob ein Dichter, der sich in seinem Werk nicht erklären will oder kann, einer sein kann.

Nichts für ungut und

herzliche Grüße Ihres

Klaus M. Rarisch


Daniel Goral:
Prenzlauer Berg, 26/07/2001

Lieber Klaus M. Rarisch,

Ihre beispielhafte Geschwindigkeit beim Beantworten von Briefen drängt mich, es Ihnen (diesmal) gleichzutun. Wahrscheinlich hat das aber auch mit der, sich ein wenig unangenehm fortschraubenden Thematik unserer Korrespondenz zu tun, denn es ist mir ein Bedürfnis, etwas klarzustellen.

Sie werden wissen, worum es geht, deshalb gleich in einem Satz: Ich werfe Ihnen keinesfalls Trivialität vor. Es hat mich sehr erstaunt, daß Sie sich ›diesen Schuh anziehen‹. Dabei passt er doch gar nicht, was auch ohne Anprobe zu sehen sein dürfte ...

Und Sie argumentieren ja auch selbst in diese Richtung, was gar nicht hätte sein müssen, ich glaubte ohnehin zu wissen, daß Sie »die Offenheit für die verschiedensten Interpretationen gerade für ein Merkmal großer Lyrik« halten. Ich würde sogar noch weiter gehen, und behaupten, es ist ein Merkmal für Lyrik überhaupt.

Die – nach wie vor vollkommen ernst gemeinte – Äußerung: »Es stellt sich die Frage, ob ein Dichter, der sich in seinem Werk erklärt, einer sein kann«, war vielmehr aufgrund des Tenors entstanden, der da meinte, mein Sonett sei unverständlich, etliche Zusammenhänge erklärten sich nicht aus der Textdarstellung.

Meinem Lyrik-Verständnis zufolge geht es aber bei der dichterischen Äußerung nicht unbedingt um Erklärung oder um das Erzählen einer Geschichte, sondern in erster Linie um Wirkungen, am besten um emotionale. Und es geht um Anregung. Aber das muß ich wohl nicht betonen.

Möglich, daß sich diese Ansicht von Ihrem Standpunkt unterscheidet – aber ist das schlimm? Bestimmt nicht. Wahrscheinlich rede ich von nichts anderem als von einem Qualitätskatalog in Ihrem Sinne.

Gerne würde ich einlenken, was Eingangs- und Schlussvers betrifft. Aber was soll ich tun, sie gefallen mir, ich empfinde sie als Glücksgriff. (Über meine anfänglichen Zweifel wegen des eventuellen kryptischen Charakters des Ausgangsverses hatte ich ja schon geschrieben.) Die ›Karzinomgebirge‹ werden durch das ›expandieren‹ noch bedrohlicher als ohnehin schon, so daß es fast unerträglich wird. Sie werden auf eine gewisse Art personifiziert, vergleichbar mit einer ›Person Wirtschaftsunternehmen‹, die fortschreitend expandiert, bis sie irgendwann Monopolstellung hat. Man kann nichts dagegen tun. Gegen die Krankheit leider oft auch nicht. Und um so länger ich über den Schlussvers nachdenke, desto mehr gefällt er mir. Was soll ich tun? (De Gustibus ...?)

Sie schreiben, weil Sie mich nicht kränken wollen, würden sie darauf verzichten, mir vernichtende Urteile über mein Sonett zu zitieren. Sie würden mich damit nicht kränken, diese Meinungen würden mich sogar wirklich interessieren, denn es ist ja nicht so, daß ich nichts lernen könnte. Dieser unser Dialog wäre überhaupt nicht zustande gekommen, wäre ich nicht lernwillig und -fähig.

(Hier ganz nebenbei, weil es gerade zu passen scheint, der Hinweis zu meinem ersten Leben-Sonett, in dem das Wörtchen ›wissenssatt‹ nicht etwa nur derart verstanden werden muß, daß das Lyrische Ich nichts mehr lernen möchte, sondern durchaus auch als Ausdruck dessen begriffen werden könnte, wie ein Suchender, ein Lernender fühlt, der einen Aspekt, den er gerade erforschen wollte, umfassend und genauestens betrachtet, erfasst oder verstanden hat, er demnach [nur] diesbezüglich ›satt‹ ist. In jedem Fall wäre es übertrieben zu sagen, das Lyrische Ich sei desinteressiert an jeglicher weiterer Bildung.)

Herzlichen Grußes

Daniel Goral


Klaus M. Rarisch im Brief vom 28. Juli 2001

Lieber Daniel Goral –:

Ihren Brief vom 26. Juli möchte ich postwendend beantworten, wie es meine Gewohnheit ist; denn was lange liegen bleibt, kann schnell in Vergessenheit geraten. – Unsere leider etwas zähe Korrespondenz möchte ich für mich unter das Motto von Arno Holz stellen:

Der ist vom Meister weit entfernt, wer nichts von seinem Schüler lernt.

Ohne Sie für mich als »Schüler« zu reklamieren, habe ich doch von Ihnen etwas Wesentliches gelernt: Plausibel über Lyrik zu schreiben, ist fast so schwer, wie das Gedichtemachen selbst. Das gilt besonders, wenn man es als Kritiker mit dem Autor zu tun hat. Denn da waltet der psychologische Mechanismus, wonach Argumente nichts mehr zählen. Goethe hat das in der »Iphigenie« in klassischer Kürze formuliert:

Man spricht vergebens viel, um zu versagen;
Der andre hört von allem nur das Nein.

Zugleich ist dieses Zitat ein Musterbeispiel für eine herrliche Dppeldeutigkeit, denn der Kritiker hat dem Autor das Lob versagt und hat gleichzeitig versagt bei dem Versuch, dem Autor die Gründe für den Tadel zu erklären. Deshalb ist es auch sinnlos, die Kontroverse über Einangs- und Schlußvers Ihres Sonetts fortzusetzen. Sie haben das Recht, die Verse als Glücksgriff zu empfinden. Zwar trifft es zu: »De Gustibus non est disputandum«; jedoch wollte ich kein rein subjektives Geschmacksurteil abgeben. Wenn Sie meine Argumentation nicht zur Kenntnis genommen haben, war das eben mein Pech – bzw., laut Goethe, mein Versagen.

Ferner ist nach wie vor umstritten, ob der Dichter in seinem Werk (Hervorhebung von mir) etwas erklären soll oder darf. Offenbar habe ich auch dazu nicht präzise genug formuliert, als ich Hinweise auf eine Deutungsmöglichkeit forderte. Ich meinte damit: In Ihrem Sonett (auf nachträgliche Kommentare beziehe ich mich nicht) fand ich Hinweise, die meines Erachtens widersprüchlich sind und mir daher eine sinnvolle Interpretation unmöglich machen. Es fragt sich also, ob Sie nur für sich selbst sonettieren (was natürlich auch legitim wäre) oder ob Sie sich auch an Leser wenden, die Erfahrungen mit der Sonettform haben und um eine schlüssige Interpretation ehrlich bemüht sind.

Damit komme ich zum Schluß, zu der Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Briefen. Diese sind, falls ihr Inhalt kränkend wirken könnte, ausschließlich für sehr enge Freunde bestimmt (in meinem Fall für Wohlleben und Dreyer); jene dagegen für erfahrene Sonettisten oder Sonettleser, die sich immer für die »sonettistische Arbeit« (wie Wohlleben das nennt) interessieren. Aus solchen intensiven Korrespondenzen – und Sie sind ja nicht der einzige Betroffene – läßt sich immer theoretischer und/oder praktischer Gewinn ziehen, und deshalb ist auch Ihr Fall von allgemeinerem Interesse.

Herzlich Ihr

Klaus M. Rarisch


Daniel Goral:
Zühlsdorf, 15/08/2001

Lieber Klaus M. Rarisch,

nun habe ich wieder etwas länger gebraucht, auf Ihren Brief vom 28/07/2001 zu reagieren, weil wir einige familiäre Tage im Oderbruch verbracht haben und ich seit kurzem bei Berlin auf dem Land verweile. Trotzdem ist Ihr zu beantwortender Brief nicht in Vergessenheit geraten.

Wahrscheinlich haben Sie recht, daß es im aktuellen Fall unsinnig wäre, die Kontroverse fortzusetzen, da sich keine Lösung andeutet, was ja einerseits auch nicht notwendig ist und andererseits wahrscheinlich auch nicht mal schlecht. Nur möchte ich noch bemerken, daß ich Ihre Argumentation sehr wohl zur Kenntnis genommen habe und Sie demnach nicht, im Goetheschen Sinne, versagt haben. Nur kann ich ihr nicht zustimmend folgen. – Wobei mich am meisten wundert, daß sich unsere Meinungen über das Lyrische in dem einen Punkt so sehr unterscheiden, nämlich darin, ob in einem dichterischen Text etwas nur möglichst kurz und treffend (Rarisch) oder nicht mitunter auch auf größere Wortwirkung bedacht (Goral) formuliert werden sollte.

Sie schreiben, es sei nach wie vor umstritten, ob ein Dichter in seinem Werk (habe die Unterstreichung zur Kenntnis genommen) etwas erklären soll oder darf. Muß ein Dichter wirklich das – wohl kaum jemals zweifelsfrei feststehende Ergebnis – dieser Diskussion abwarten, bevor er dann ›korrekte‹ Dichtung fabriziert, mit einem festgelegten Prozentsatz an Hinweismaterial zur Erklärung des Geschriebenen? Und welche Kräfte streiten da eigentlich über diese Frage? Literaturwissenschaftler? Leser? Dichter selbst? Und mit welcher Zielsetzung?

Ihren Ruf nach einer Deutungsmöglichkeit innerhalb des Sonetts habe ich vernommen, er war mir sogar als Ruf eines jeden potentiellen Lesers während des gesamten Schreibvorganges gegenwärtig. Aber auch hier will ich relativieren. Ist nicht ein Wort in einem bestimmten Zusammenhang schon Deutungsmöglichkeit? Um so eindeutiger, wenn der Zusammenhang klar ist, wie im vorliegenden Fall, wo die Tenzone ja eine, wenn auch weitläufige, Thematik vorgab?

Handelt es sich gezwungenermaßen um schlechte (oder keine) Dichtung, wenn diese Deutungsmöglichkeiten nur sehr spärlich (oder nicht) vorhanden sind? In der aktuellen Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter findet sich ein Gedicht von Marcel Beyer, es heißt

    Nach der Dämmerung

    Vergaß, die Hände anzuschauen gestern abend.
    Die ganze Nacht ein Rudel Hunde draußen auf
    Den Steinen. Dann lief das Wasser über mein

    Gesicht. Vergaß, die Hände anzuschauen. Man
    Sieht das Morgenlicht zwischen den Beinen.

Obwohl ich die Gründe für diese bizarre Stropheneinteilung gerne erklärt bekommen würde, mit der ich nicht besonders viel anfangen kann, und ich auch den eigentlichen Sinn des Gedichtes nicht erschließe, wirkt es auf mich. Dabei weiß ich nicht mal genau, ob es mir gefällt. Aber ich möchte es öfter lesen.

In meinem Gedicht, schreiben Sie, fanden sich Hinweise, die widersprüchlich sind und daher eine sinnvolle Interpretation unmöglich machen. Haben Sie nach Hinweisen gesucht, die solch eine gesuchte sinnvolle Interpretation nahelegen? Ich glaube nicht, daß sich die Wirkung/Aussage/der Inhalt eines Gedichts beim ersten Lesen erschließen muß. Der Leser darf ruhig gefordert werden. Und wenn er am Ende zu einer gänzlich anderen Aussage gekommen sein sollte – na und. Das wäre dann einmal mehr durch das Eigenleben eines jeden künstlerischen Produkts verursacht. Und durchaus im Sinne des Autors.

Mit der Hoffnung, daß auch Sie gerade eine so angenehme Sommerzeit verleben, wie ich es tue, und nicht Ihre gesamte Zeit im Studierstübchen verbringen, sondern vielleicht auch die eine oder andere Stunde im Garten hinter Ihrem Haus, will ich enden und ich verbleibe

Mit sommerlich-herzlichen Grüßen

Daniel Goral


Klaus M. Rarisch im Brief vom 18. August 2001

Lieber Daniel Goral –:

Ihr Brief aus Zühlsdorf vom 15.8. ist heute eingetroffen. Ich wünsche Ihnen weitere erholsame Ferientage.

Zu dem Gedicht von Marcel Beyer möchte ich mich nicht äußern. Beyer gehört infolge dubioser Protektion von Prof. Riha und wegen der Kriterienlosigkeit der Presse zu den weit überschätzten Erfolgsautoren der jüngersen Generation. Ob er weiß, was ein Sonett ist und ob er selbst eins schreiben könnte, wage ich zu bezweifeln. Als Beispiel für unsere Meinungssverschiedenheit eignet sich sein Gedicht jedenfalls nicht. Ihre Anmerkung dazu könnte allerdings als Muster für die Laudatio zu einer Literaturpreisvergabe dienen:

Obwohl ich [...] den eigentlichen Sinn des Gedichtes nicht erschließe, wirkt es auf mich. Dabei weiß ich nicht mal genau, ob es mir gefällt. Aber ich möchte es öfter lesen.

Nun, das bleibt Ihnen unbenommen. Ich nehme Ihnen auch die subjektive Aufrichtigkeit Ihres Kommentars ab. Jedoch die Mafia ist nicht so naiv und vergibt mit solchen Pseudo- bzw. Nicht-Begründungen, genau in Ihrem Ton, Preise und Publikationschancen. Und daran krankt die deutsche Gegenwartsliteratur.

Leider haben Sie mich erneut mißverstanden, oder ich konnte Ihnen Wesentliches nicht klarmachen, nämlich meine Meinung über »das Lyrische«. Ich behaupte nicht, man müsse immer nur »möglichst kurz und treffend« formulieren und dürfe nicht mitunter auch auf »größere Wortwirkung bedacht« sein. Es handelt sich um alternative Stilmerkmale in der Lyrik; jeder Stil hat seine Berechtigung, sollte aber möglichst rein zum Ausdruck kommen. Die beiden Tendenzen werden von den besten deutschen Lyrikern des 20. Jahrhunderts repräsentiert, von Gottfried Benn und Arno Holz, deren Porträts nicht zufällig in meinem Arbeitszimmer hängen. Holz wollte unter allergrößtem Wortaufwand Eindeutigkeit in der Lyrik erreichen und hat dies nach einem langen Entwicklungsweg im Großen Phantasus auch erreicht (meine diesbezüglichen Studien, soweit sie Robert Wohlleben ins Internet eingegeben hat, können Sie ja am Computer abrufen). Abwegige Interpretationsmöglichkeiten wollte Holz nicht eröffnen; es ist bei ihm wie in einer Schachaufgabe, die nur eine Lösung bieten darf und Nebenlösungen vermeiden muß. Im Gegensatz dazu Benn: seine Gedichte bieten, schon wegen der Vieldeutigkeit seiner Grammatik, größte Möglichkeiten, aber auch größten Bedarf an Interpretation; Eindeutigkeit hat Benn weder intendiert noch geboten. Nun hat Benn niemals sonettiert, aber allein schon die dialektische Sonettstruktur läßt unterschiedliche Interpretationen zu und sollte nicht nach Eindeutigkeit streben. Aber die »größere Wortwirkung« erreicht man eben nicht durch größeren Wortaufwand; die Redundanz, die ich bei Ihnen kritisiere, sollte im Sonett verpönt sein.

Ich bleibe, herzlich grüßend,

Ihr Klaus M. Rarisch


Daniel Goral:
Zühlsdorf, 22/08/2001

Lieber Klaus M. Rarisch,

herzlichen Dank für Ihren Brief vom 18. August, der mich veranlaßte, laut aufzulachen, so daß sogar der schwerhörige Hund, der mir hier Gesellschaft leistet, aufhorchte. Vielleicht sollte ich eine Karriere als Laudatoren-Berater in Betracht ziehen, falls sich nichts anderes ergibt.

Daß mein Brief erst am 18/07/ bei Ihnen eingetroffen ist, liegt z.T. auch an der Tatsache, daß der nächstgelegene Briefkasten hier zu weit entfernt ist, um mit dem (alten) Hund dorthin laufen zu können, aber doch nicht so weit, daß es sich lohnte, das Auto zu benutzen. Und weil ich den Hund nicht allein lassen kann, warte ich, bis ich einen Grund habe, in den Ort zu fahren, wo ich dann als Nebenhandlung die Post in den dortigen Briefkasten werfe. (Wegen eines Briefes das Auto in Bewegung zu setzen, halte ich für übertrieben.)

Das Beyer-Gedicht wird mir zwar immer rätselhafter – aber ich kann es immer noch mit Interesse lesen. Es wundert mich jedoch nicht, daß es auf Ihre Ablehnung stößt. Zwar halte ich Marcel Beyer auch nicht für einen so großen »Nachwuchs-Autor«, zu dem er aufgebauscht wird, doch hat er mit diesem Gedicht mit mir mindestens einen Leser erreicht. Und irgendwie positiv. (Dieser letzte Satz war jetzt vermutlich wieder Literaturpreis-Laudatoren-Stil.)

Gibt es denn unter den gegenwärtigen »Erfolgs-Lyrikern« keinen, der Ihre Achtung besitzt? Mein Respekt vor den Gedichten Durs Grünbeins habe ich vermutlich früher schon einmal erwähnt. Leider kann ich mir vorstellen, daß Sie diesen ebenfalls für einen der »weit überschätzten Erfolgsautoren der jüngeren Generation« halten.

Was die »subjektive Aufrichtigkeit« meiner Bemerkung zu dem Beyer-Gedicht allerdings mit Naivität zu tun hat, ist mir nicht ganz klar. Ist naiv, wer unentschlossen ist?

Ihre Meinung über das Lyrische teile ich. Jeder der beiden beschriebenen Stile hat in der Lyrik seine Berechtigung, was Sie ja treffend mit Holz und Benn belegen. Hier möchte ich beiläufig erwähnen, daß deren Ihr Arbeitszimmer zierende Portraits vollkommen dem Bild entsprechen, das sich mir von Ihnen allmählich gezeichnet und gefestigt hat. Hängt darunter vielleicht Platen? Mir war der Aufstieg in Ihr Arbeitszimmer damals ja nicht vergönnt, wir saßen im Erdgeschoß, da Sie oben gerade Papiere ordneten.

Was jedoch die Üppigkeit in der Formulierung von Sonetten betrifft, unterscheiden sich unsere Meinungen sehr voneinander. Meinem Verständnis zufolge, handelt es sich beim Sonett um eine Gedichtform, die geradezu nach Wortopulenz ruft. Man sollte nicht vergessen, daß es auch besonders im Barock gepflegt wurde.

Mit verschwenderischen und herzlichen Grüßen

Daniel Goral


Klaus M. Rarisch im Brief vom 25. August 2001

Lieber Daniel Goral –:

wenn Sie bei der Lektüre meines letzten Briefes laut auflachen mußten, habe ich wenigstens eine gewisse Wirkung erzielt. Eine »Karriere als Laudatoren-Berater« wollte ich Ihnen allerdings nicht empfehlen. Ich sprach im Zusammenhang mit Ihrem Kommentar von Naivität und meinte damit: Sie haben, wenn auch im Stil einer Laudatio, Marcel Beyer aufrichtig gelobt, und das Naive dieser Äußerung könnte darin liegen, daß Sie vielleicht bei einer offiziellen Literaturpreisvergabe seitens der Mafia die gleiche Aufrichtigkeit voraussetzen würden – was mit Sicherheit ein Irrtum wäre.

Sie fragen mich, wer unter den gegenwärtigen »Erfolgs-Lyrikern« meine Achtung besitzt. Unter der Voraussetzung, daß der Erfolg gegenwärtig immer der Mafia zu verdanken ist, nenne ich z.B. Peter Rühmkorf, trotz allem, was ihn von mir unterscheidet. Dann kommen Sie ganz direkt auf Durs Grünbein zu sprechen. Dazu muß ich etwas ausholen. Im Berliner Tagesspiegel vom 4.8.2001 ist ein ausführliches Interview mit Grünbein (den ich nicht persönlich kenne) erschienen. Den Artikel habe ich an Prof. Theo Meyer (Univ. Würzburg) geschickt, der als Spezialist für Nietzsche, Arno Holz und Gottfried Benn viel über moderne Lyrik arbeitet; meinen Gedichtband »Das gerettete Abendland« hat er in den »Horen« (Band 128/1982, S. 87 f.) sehr wohlwollend rezensiert. Das Interview mit Grünbein liegt mir also nicht mehr vor; bei Bedarf könnte der Text in einem Zeitungsarchiv nachgelesen werden. Somit kann ich für Sie hier nur aus meinem Brief an Herrn Meyer vom 4.8.2001 zitieren:

    Was Herr Grünbein darin über Ossip Mandelstam und Gottfried Benn sagt, folgt früheren Einschätzungen, ist aber nicht neu. Ich gestatte mir dazu einige Anmerkungen. Zu Mandelstams Auffassung der Dichtung als Flaschenpost verweise ich auf mein Sonett »Der Dichter« aus dem Jahre 1987 (GEIGERZÄHLER, S. 84). Mein Sonett bringt sogar den von Grünbein beschriebenen »kritischen Augenblick«: es ist der Moment, in dem der Dichter die Flasche geleert hat. – Ferner sagt Grünbein, Benns »Schreibsituation ist die des Rien ne va plus«. Mein Gedicht »Epilog zum Abendland« von 1982 schließt mit dem Vers

      Das Spiel ist aus – rien ne va plus! Zu spät ...

    Ich habe also Grünbeins Erkenntnisse schon lange vor ihm poetisch formuliert – aber den Büchner-Preis hat er erhalten, 1994. Das konnte auch nicht verwundern, wenn Grünbein recht hat:

      Benn führt vor, wie man schreibt, wenn man weiß: Es wird nie Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit und damit Wärme geben.

    Dem kann ich zustimmen. Somit bin ich in Benns Schreibsituation, und folglich hat Grünbein die Auszeichnungen gewonnen, die mir vorenthalten wurden. Es trifft zu: In der Welt und ganz besonders im Literaturbetrieb wird es nie Gerechtigkeit geben, von Gleichheit ganz zu schweigen. Ich würde mich auch um keinen Literaturpreis der Welt mit Herrn Grünbein auf die gleiche Stufe stellen lassen.

Was Herr Meyer nun mit diesem theatralischen Ausbruch (wie er umgekehrt Durs Grünbein nie in den Sinn käme) anfängt, bleibt ihm überlassen. Aber da ich Ihnen, lieber Daniel Goral, immer alles ganz genau erklären muß, füge ich hinzu: Ich habe nichts gegen Grünbein, aber alles gegen einen Betrieb, der mich boykottiert, aber meinen Epigonen Grünbein auf den Thron hievt.

Und damit Sie nicht auf die Idee kommen, aus mir spräche Frust, Mißgunst oder Neid, will ich Ihnen abschließend zwei meisterhafte Zeilen zitieren, die ich auf einer Speisekarte fand (ich füge sie bei):

    Umstritten ist der Ausdruck »Titten«,
    Die Titten selbst sind wohlgelitten.

Inhaltlich veranschaulicht der Zweizeiler auf populäre und amüsante Weise das philosophische Problem des Nominalismus, die Differenz zwischen verbum und res, zwischen Wort und Sache. Formal ist das makellos gemacht: die Binnenreime am Anfang der beiden Zeilen korrespondieren aufs glücklichste mit den Endreimen. Ich kann dazu nur wiederholen, was Brahms über die »Fledermaus« sagte: »Leider nicht von mir.«

Einstweilen bleibe ich,
herzlich grüßend,

Ihr Klaus M. Rarisch


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