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Fragmente aus:
C. Lombroso, Professor an der Universität Turin,
Genie und Irrsinn
in ihren Beziehungen zum Gesetz,
zur Kritik und zur Geschichte.

Mit Bewilligung des Verfassers
nach der 4. Aufl. des italienischen Originaltextes
übersetzt von A. Courth.
Leipzig: Reclam o. J. [1887 ?]

Ausgewählt von Klaus M. Rarisch
 

 
Herr M... G... war, bevor er erkrankte, ein bekannter und geschätzter Dichter und Bruder eines noch berühmtern Schriftstellers. Er verlor den freien Gebrauch der Vernunft infolge übermäßiger geistiger Arbeit und Trunksucht. Seine Geistesstörung äußerte sich zunächst in Gewaltthätigkeiten gegen seine Gattin, dann begann er gegen angebliche Verfolger zu schimpfen und zu toben. Nachdem die ersten Anfälle vorüber waren, wurde er trübsinnig und begann höchst wohlklingende aber sinnlose Verse zu schreiben.
(S. 129 f.)

Er wollte eine neugriechische Sprache schaffen, in welcher beispielsweise Steine litiasi und Freunde fili genannt wurden. Einen etwas nähern Begriff von dieser neuen Sprache wird das folgende sonderbare Sonett nebst es begleitenden und erklärenden Anmerkungen geben.

    Ecomicro

    Tonoscopo gentil d’Etica è al giorno
    Ch’è festa di famiglia in una casa
    ’Ve non cammini di pileggio intorno
    Clientela onèbra di opinione invasa.

    E avegnachè d’illustre Foto adorno
    Non sia il soffitto d’aria a me rimasa,
    Non io di tema colpirò a far scorno
    Chi n’ha le chire colla palma rasa.

    Dirò: – dipenda ognun pur dall’influsso
    Che strana fantasia porge alle stelle,
    A tal uscio di ladri io non ci busso!

    Sò che l’Io, sò che il fato è nel governo;
    Sò che le ideologie più sane e belle
    Ei le rivolta in un abisso eterno.

    Ekomikron

    Blumen sind eine gute Vorbedeutung für den Tag, welcher ein Festtag ist für die Familie, welche in einem Hause wohnt, um das keine Menschen bösen Willens kreisen.
    Und obgleich nicht mit glänzendem Licht geschmückt ist die Luftdecke, werde ich nicht denjenigen als furchtsam verschmähen, dessen Hände davon rein sind.
    Ich werde sagen: – es möge jeder abhängig sein vom dem Einflusse, den eine seltsame Einbildungskraft den Sternen zuschreibt, ich werde an die Thüre einer solchen Diebeshöhle nicht anklopfen. Ich weiß, daß das Ich, daß das Verhängnis in der Regierung liegt. Ich weiß, daß die schönsten und gesundesten Ideologien von der Regierung in einen ewigen Abgrund verwandelt werden.

    (Anm.) Eco bedeutet Laut, Ton.
    Micro = klein.
    Vereinigt man beide Worte, so ersetzen dieselben anmutig das veraltete Wort Sonett. Man merke auf die Wunderbarkeit, mit welcher mehrere Worte, die sich zur Bildung eines zusammengesetzten verbinden, leicht und ohne gewaltsame Anstrengung ihre eigne und besondere Bedeutung fahren lassen und unwiderruflich einem Appellativ oder einem zusammengesetzten Worte eine unerwartete Bedeutung verleihen. [Weitere ausführliche Anmerkungen wurden hier weggelassen. K.M.R.]
    (S. 131 f.)

Nicht besser scheint mir das folgende Gedicht desselben Verfassers.

    Italiche muse, versi cantatemi al Vero;
    Non tutti al falso, non tutti all’infanda menzogna
    Danno i poeti il suon dell’antica zampogna,
    E non i popoli tutti son monchi a un pensiero.

    Eterna stette, eterna sui cardini suona
    La terra coi cieli, il sole, la luna, e le stelle;
    Le donne, gli uomini, le cose per quanto mai belle:
    L’eternità sola fulmina fra i nuvoli e tuona.

    Cogliete i pianti, le lagrime ovunque adunate
    Versatele in fiori sull’urne dei martiri nostri,
    Pei cimiteri le lire al mio genio piegate!

    Che se risorti tutti, siam tutti alle vita
    Ditemi a me, voi ditemi su quale ala di ostri
    Da qual mai forza la morte veniaci rapita!

    Musen Italiens, singt der Wahrheit Lieder; – nicht alle Dichter widmen der Unwahrheit, der Lüge die Klänge der alten Schalmei; nicht alle Völker werden nur von einem Gedanken beherrscht. Ewig singt und ewig steht in ihren Angeln die Erde mit den Himmeln, der Sonne, dem Mond und den Sternen; wie schön auch seien die Männer, die Weiber, die Dinge alle: in Wolken blitzt und donnert allein die Ewigkeit.
    Sammelt die Klagen und Thränen, wo immer ihr sie findet, gießet sie in Blumen auf die Urnen unserer Märtyrer, auf den Gräbern stimmt euern Gesang zu Ehren meines Genies.
    Und wenn wir alle wieder erstanden sind, dem Leben erstanden, dann saget mir, sagt mir, auf welchem Purpurflügel, von welcher Kraft uns denn der Tod geraubt wurde!

Derselbe Geisteskranke aber, kurze Zeit nachher, verfaßte einige Sonette, welche sich fast denjenigen des Berni zur Seite hätten stellen dürfen.

    Sonett

    Non latte al matin primo! ma due fette
    Sode di buon prosciutto e di salame,
    Con foglie d’insalata all’uopo elette
    Che tolgon l’appetito e metton fame.

    S’intende: masticar la refezione
    Facilitata da un bicchier di vino
    Che sia spillato da bottiglie buone,
    Di sapor tondo, secco e non di spino.

    A mezzogiorno lesso e peperoni
    Broccoli, erba fritta e un molle arrosto
    E par dolce, un sollucchero a citroni.

    Nella sera un gelato in brodo caldo,
    Un petto brillo di gallo in arrosto
    E: più vino che acqua ... e il corpo è in saldo.

    Keine Milch früh’ morgens! aber zwei tüchtige Schnitten guten Schinkens und guter Wurst, mit eigens ausgesuchtem Salat, der den Appetit vertreibt und den Hunger weckt.
    Es versteht sich von selbst, die Mahlzeit muß gut gekaut werden und dabei ein Glas Wein aus guter Flasche von herzlichem, starkem Geschmack, getrunken werden.
    Mittags, gekochtes Fleisch und Pfeffergurken, Spargelkohl, Gemüse und zarter Braten; zum Nachtisch eine süße Orangenspeise. Am Abend Eis in warmer Brühe, eine gebratene Hahnenbrust, mehr Wein als Wasser ... so der Körper ist wohl besorgt.

Parodie eines Danteschen Sonetts in Fossombronesischem Dialekte.

    È tant smaniosa, e po c’fa la bizoca
    Quia porca straginata, quand saluta
    Ch’ va al cor, e’l sang ai viser s’tramuta
    L’allonge j occhi com i coll all’oca.

    Intant va via; s’ n’arfa; s’fa poca poca
    Con tutt’ l’smorfi d’na becca cornuta,
    E par ch’ sia na facietta, vnuta
    Dal cel, quand col mal temp’l fulmin gioca.

    S’arvolta risciaqueta a chi la mira
    C’ bocca pi occhi el tenerum al cor
    Ch s’ne po fè n’idea sol, pur quand s’prova.

    E arguardela com tutta pèr ch s’mova
    D’na certa andaturetta a fè l’amor
    Com s’per forza vless fè di’ al c...m’tira.

    Sie ist so lebhaft und verlangend und beträgt sich doch als Betschwester, – das Schwein; und wenn sie dich grüßt, so dringt es dir ins Herz und bringt dir das Blut bis in die Eingeweiden, du streckest den Blick wie eine Gans den Hals.
    Doch sie geht, scheint bescheiden und kleinmütig mit allen Mienen einer Frau, welche von ihrem Manne oder Geliebten hintergangen wird; sie gleicht im Gesichte einem Wesen, welches vom Himmel gekommen ist, während der Blitz mit dem bösen Wetter spielte.
    Wer sie betrachtet, zu dem wendet sie lächelnd sich hin und durch die Augen dringt ihm das tenerum (die Zärtlichkeit) ins Herz, wovon sich nur derjenige, welcher es erfahren hat, eine Vorstellung machen kann.
    Schaut sie an, sie scheint ganz in Bewegung, wie im Genuß der Liebe, als wolle sie mit Gewalt mich zwingen zu sagen ...
    (S. 134 ff.)

Folgendes Gedicht scheint geradezu aus der Schule Petrarcas hervorgegangen zu sein.

    Sui capelli biondi di una signora Clelia C...
    sacrificata o canonizzata già in nozze col signor F...

    Dal fulmineo del Sol raggio divino
    T’imposero al battesimo quel nome
    Ch’è chiaro in giro all’Italo Giardino
    E in fatti hai d’oro l’apollinee chiome.

    Suon di Flauto o cadenza di Violino
    Mai eguagliarono si soavi crome,
    Che possan confrontarsi al capel fino,
    Che le potenze al mio Animo ha dòme.

    Quella cui già Porsenna ammirò tanto
    Quando a nuoto arrivò di là dal fiume
    Piuttosto che far onta al pudor santo,

    T’avrà rassomgliata nel costume
    Delle fattezze, e all’atto del bel pianto
    Con che odi un senno che non ha più lume.

    Nach dem göttlichen, blitzenden Strahl der Sonne geben sie dir jenen Namen, der schon berühmt ist im Garten Italien. Deine apollinischen Haare sind in der That wie Gold.
    Der Ton der Flöte und der Violine kann in Zartheit sich mit deinem feinen Haare nicht messen, das alle Kräfte meiner Seele gefesselt hat.
    Diejenige, welche schon Porsenna so sehr bewunderte, als sie fliehend über den Fluß schwamm, anstatt sich gegen die Schamhaftigkeit zu vergehen,
    Sie wird dir gleich gewesen sein im Auftreten, in den Formen des Körpers, in der Klage und in den Thränen, die du über einen verblendeten Geist weinest.
    (S. 138 f.)
     

 
Der angeblich irrsinnige Sonettist war vermutlich ein zwangsweise Psychiatrierter. Im Text der hier mitgeteilten fünf Sonette vermag ich nicht das geringste Anzeichen für eine Geisteskrankheit des Dichters zu erkennen.
[Anmerkung von K.M.R.]
 

 

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