Zu www.fulgura.de mit Navigations-Kolumne

Mignon und Merde.
Oder: Über literarische Zusammenarbeit
Posthume Arno-Holz Miniatur
bei den Eremiten

Arno Holz: Kennst du das Land


Arno Holz (1863–1929) mit seiner so vielgestaltig ausgeklügelten wie glitzernden Schreibe in seinen Lyrikzyklen »Dafnis«, »Blechschmiede« und »Phantasus« hat immer wieder enthusiastischere unter seinen Bewunderern dazu gereizt, die Sprachspiele dieser sehr groß angelegten Lyrik-Klötze nach- oder mitzuspielen. D. h. sie äußerten sich gelegentlich oder dichteten gar im Arno-Holz-Ton. Auf ihrer Seite vielleicht eine Maßnahme, sich zu der Groß-Kompetenz in Beziehung zu setzen, sich an das große Potential anzuschließen. Sicherlich aber auch schlicht begründeter Spaß. Belege finden sich in lyrischen und sonstigen Texten aus dem Kreis seiner Freunde und »Schüler« sowie in anderweitigem Material der Archive.

Mit dieser Wirkung steht Arno Holz nicht allein da. Weitere Beispiele sind gewisse Erscheinungen in der Arno-Schmidt-Leserschaft oder auch: Bukowski und die Folgen. Mir ist nicht bekannt, daß Schmidt oder Bukowski mit Echos dieser Art irgendwas angefangen hätten. Holz jedenfalls spielte schon mal mit. Aber es ist merkwürdig zu beobachten: Wo er mitspielt, wird’s schon Werkstatt. Das zeigt deutlich die posthume Veröffentlichung des im Phantasus-Duktus gehaltenen Textes »Kennst du das Land« in der Eremiten-Presse.

Zur Erinnerung: Im Phantasus-Zyklus der späteren Entwicklungsstufen die auf Mittelachse gesetzten Zeilen für dünngeschliffene Emotions-Präparate oder für wortreichste Action-Filme.

Der bei den Eremiten erschienene Druck dokumentiert das Zustandekommen des Textes: Hans Schlegel, ein Freund von Arno Holz, verfaßte im Ton Holzscher Phantasuslyrik ein Gedicht »Auch ich in Arkadien«. Ein Bericht über einen ungemütlich desillusionierenden Italien-Aufenthalt im Winter. Das Gedicht beginnt als parodistische Kontrafaktur auf Goethes Mignon-Lied und führt hin zur Vanitas-Klage: »Es ist alles / MERDE / !«

Der deutliche Ausdruck einer Stimmungslage, die im Holzschen Werk an verschiedenen Stellen sinngemäß gleich artikuliert ist, ihm also nicht fremd war, mag nicht zuletzt die weitere Beschäftigung mit dem Schlegelschen Gedicht katalysiert haben. Arno Holz nahm Schlegels Text vor, um ihn nach der »Statik und Dynamik« der Phantasuslyrik neu einzurichten. Er sagt das im barockisierenden Begleitbrief ganz im Dafnis-Ton. Spielerisch demonstriert er dann die von ihm entwickelte Methode der Texterzeugung. Unter weitgehender Verwendung von Schlegels Text arbeitet er einen neuen, – gelegentlich verknappend, häufiger ausweitend.

Verständlich ist danach Hans Schlegels ebenfalls barockisierender Quittungs-Brief, in dem er die Überlegenheit des Holzschen »Merde-Hymnus« in seiner »Dynamik, Statik und Acrobatik« anerkennt.

Der Holzsche Text ist mehr als doppelt so lang wie die Vorlage. Was noch nichts sagt. Aber: Er betont weit stärker den Kontrast zwischen den Passagen mit bedeutungsgleichen oder –verwandten Wörtern in großen Mengen einerseits und den ganz kurz und prägnant markierten Halte- und Drehpunkten andererseits. Tempo und Turbulenz des Textes sind erstaunlich gesteigert. Die Demonstration der handwerklichen Kunstgriffe ist schlagend. Spaßig zu lesen ist, wie Holz beim Reimspiel mit dem ja ziemlich schwierig zu verreimenden »Feldprobst« noch zwei Punkte mehr erzielt als Schlegel. Und der schien schon alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben.

Der Text »Kennst du das Land« gehört in die Nachbarschaft von Phantasus-Passagen, wo Texte von Freunden als Vorlage für Holzsche Lyrik dienen (»Großer Dichtermittwochnachmittag in meiner Feuerstuhlbude«). Auch dort bereits die ausweitende Detaillierung bei gewahrter Wiedererkennbarkeit.

Der Text erinnert auch an die Arbeitsweise der literarischen Werkstatt, die Arno Holz gegen Ende der 90er Jahre mit einigen Freunden aufgezogen hatte. Seine Funktion in diesem Kreis umschreibt er in einem Gedicht des 2. Phantasus-Heftes (1899): »Hier renke ich ein Rückgrat ein, / dort trepaniere ich eine Schädeldecke, / mit einem Zwirnsfaden, kunstvoll, knipse ich ein Bein ab.« Als der Meister mit dem gesicherten handwerklichen Können bringt er die Texte der andern zum Ticken und gibt ihnen die gebotenen Farben.

Bereits in die erste Version des Phantasuszyklus (1898/99) dürften Arbeiten nach fremder Vorlage eingegangen sein. Deutlich ist es beim Gedicht mit dem berittenen Leutnant auf der »Brücke zum Zoo«, das nach einem Text von Paul Ernst gearbeitet ist (der »Apostata« der »Schule«, wie Holz ihn dann nannte). Mit Händen zu greifen ist in diesem Fall Holzens Motiv, dem Kollegen vorzuführen, wie man ein handfestes Sujet nicht verbolzt (vgl. von Paul Ernst das Gedicht »Über eine kleine Brücke, die gebogen ist« in »Polymeter«, S. 27).

Mehrfach während seiner Entwicklung als Dichter hat Arno Holz Modelle literarischer Kollektivarbeit ausprobiert: mit Oskar Jerschke wiederholt, mit Johannes Schlaf, mit seiner ersten Frau Milli (die zu den humoristischen Reimereien des »Geschundnen Pegasus« beigetragen hat), mit Paul Ernst, mit dem Phantasus-Team »Regiment Sassenbach« der 90er Jahre.

Teils endeten diese Phasen von Kollektivarbeit mit schweren persönlichen Enttäuschungen, wie im Fall von Schlaf und Ernst, teils erwiesen sie sich als auf die Dauer nicht entwicklungsfähig.

So sah Arno Holz sich immer wieder auf sich gestellt mit seinem Konzept einer Literaturerzeugung, die per vereinigter Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen zu stets höherer Leistungsfähigkeit gebracht werden kann. Alleingelassen auch mit seiner Utopie von einem Produzentenkollektiv, darin jeder Beteiligte sowohl von den andern lernt als auch ihnen allen zum Lernen verhilft.

Es ist gut zu merken, wie hierin Literaturentwicklung in Parallele gesetzt ist zu Mechanismen der Wissenschafts- und Technikentwicklung im Hochkapitalismus, ohne daß jedoch die populären Rollen der Halske, Zeiss, Edison oder Pasteur vorgesehen wären. Dieser Traum über das Konzept vom einzigartigen Originalgenie hinaus ist auch für heutige Verhältnisse sehr weit.

Ein Echo dieser Utopie ist in Holzens Bearbeitung des Schlegelschen Textes zu spüren. Der Herausgeber Klaus M. Rarisch datiert den Text vermutungsweise und akzeptabel ins Jahr 1926. Wie Arno Holz in dieser späten Entwicklungsphase den Text von Hans Schlegel als tragfähig übernimmt und spielweise dem Partner fachgerechte Ausführung vormacht: Das zeigt, daß dieser Traum von paritätischer Kollektivarbeit selbst nach so langer Zeit noch wärmen konnte.

So ist denn dieser Spiel- und Demonstrationstext nach fremder Vorlage ein rechtliches Stück Holzscher Lyrik, seine Veröffentlichung eine zwar schmale, aber bedeutsame Ergänzung der bisherigen Werkausgaben. Wichtig im Nebeneinander von Vorlage und Bearbeitung, das so deutlich auf die Arbeitsweise von Arno Holz durchblicken läßt.

Wichtig auch wegen der Position, die Arno Holz dort gegenüber dem »GOTT GOETHE« und damit gegenüber den bildungsbürgerlichen Standards seiner Zeitgenossenschaft proklamiert mit dem EINEN Wort: »MERDE«. Klaus M. Rarisch weist in seinem Nachwort darauf hin. Die Adaptation des Mignon-Lieds nach Hans Schlegel ist ein erhellendes Seitenstück zur Phantasus-Stelle, an der es heißt: »Gott Goethe ward zum Götzen / Baal!« »Schleift ihn herbei! Macht Mords-Skandal«. Das geschieht.

Klaus M. Rarisch hat als Herausgeber ein Nachwort geschrieben, u.a. mit verständigen Verständnishilfen, Hinweisen zur Datierung und ein paar Informationen über Hans Schlegel, der in der bisherigen Holz-Literatur ganz unbekannt ist. Übersehen ist bei der Wiedergabe der Schlegelschen Anekdote von Holzens Nachforschungen zum Geburtsort des Amerika-Erblickers Rodriguez Bermejo, daß ein gleichsinniger Brief vom 19.11.1920 an Paul Otto (Nr. 203 in der Briefausgabe) den Kontakt mit Schlegel auf wahrscheinlich vor 1920 datiert. Ist hiermit nachgetragen.

Klaus M. Rarisch zieht am Wege gegen die biographische Untersuchung von Helmut Scheuer (1971) und die Monographie von Gerhard Schulz (1974) blank: »dilettantisch psychologisierend und mit pseudo-soziologischen Argumenten« würden sie Arno Holz »als typischen Vertreter des Wilhelminischen Gründergeistes« abtun.

Wie Rarisch Gerhard Schulz tiefer hängt, unterschreibe ich voll: Es ist äußerste Diffamierung, wie Gerhard Schulz seine Zielscheibe Arno Holz systematisch auf den Psychopathen rausrechnet, noch dazu unter fahrlässigem Übergehen der Archive (vgl. meine Rezension »Zielscheibe Arno Holz«, »die horen«, Band 103, S. 63 f.). Der Angegriffene hat prompt in der FAZ vom 24.8.77 Klaus M. Rarisch angenommen, – ohne allerdings die Gründe seiner Gereiztheit offenzulegen. Tjä. Das hat er auch in seiner Holz-Monographie schon nicht getan.

Dagegen schätze ich an Helmut Scheuers Arbeit gerade die breite Materialbasis, die Klaus M. Rarisch so gar nicht gelten lassen mag, wo er den Dichter Holz mit seinen Antrieben, Intentionen und Determinierungen fehlinterpretiert sieht. Die Faktenfülle gibt mir genug Boden für eigene Interpretation und damit genug Handhabe, Scheuersches Verständnis – beispielsweise in der Hauptmannfrage – für mich zurechtzurücken. Ich glaube, daß Klaus M. Rarisch im Fall der Scheuerschen Studie manchmal dazu neigt, Fakten schon wegen nur der Möglichkeit des Mißverstandenwerdens übelzunehmen.

Ausgerichtet auf das Gedenkjahr 1979 – vor 50 Jahren starb Arno Holz nur 66jährig –, ist die Veröffentlichung von »Kennst du das Land« eine wohldurchdachte Reverenz an »Vater Arno Holz« (Helmut Heißenbüttel), als sie nämlich grundlegende Züge seiner Arbeit am zugespitzten Beispiel klärt.

Ach ja: Das Buch »Kennst du das Land« von Arno Holz ist in einem notorisch ausgefuchsten Pressenverlag erschienen, schöne Fraktur, Vignetten, quartformatig, blockbuchartig broschiert, 300 numerierte Exemplare. Sehr schön.

Robert Wohlleben

die horen, Nr. 116, 4. Quartal 1979, S. 117-119

Zur Datierung der Gedichte

Zurück zu Arno Holz
Zurück zum Regiment Sassenbach
Zurück zu Klaus M. Rarisch