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T. N. Andrejuschkina:
Entwicklungsstufen
des deutschen Sonetts

(übersetzter Titel)
Moskau: Moskauer Pädagogische
Staatsuniversität 2006
257 Seiten

Tatjana Adrejuschkina

Auszüge (S. 184-187)
aus dem Russischen von Boris Kontorowski



Ein weiteres Beispiel für ein dem Sonett gewidmetes Leben ist das Schaffen von Klaus M. Rarisch (geb. 1936). Nach dem Zeugnis des Dichters selbst begann er 1957, Sonette zu schreiben. Schon sein erstes Buch, »Not, Zucht und Ordnung« (1963), enthält 40 Sonette, was ein »Anachronismus in der Zeit der funktionalen Vielzwecklyrik« war (Rarisch 1990, S. 109). Man hielt ihn für einen altmodischen Outsider, weil er versucht hatte, die Traditionen des klassischen Sonetts fortzusetzen. Doch Rarisch kennt auch die Entwicklung der avantgardistischen Poesie, wovon das »alliterationssonett« zeugt, dessen Zeilen alle aus beliebig zusammengesetzten Wörtern bestehen, die bestimmte Konsonanten wiederholen (h, v, t). Doch auch in diesem formalisierten Sonett behält er seine scharfe Zunge, bleibt sarkastisch und witzig, was viele seiner satirischen Sonette auszeichnet. Mit dem ihm eigenen Humor bildet er die für die deutsche Sprache typischen Komposita, die gegenteilige Begriffe aus Bereichen wie Politik, alltäglichem bürgerlichen Leben, Religion, Medizin, Massenkommunikation, Kultur und Folklore vereinen. Und diese Vereinigung der unvereinbaren Begriffe erzeugt den komischen Effekt. (…)

In seinen Tenzonen-Sonetten trifft man auf Mittelachsenstrophen in der Art von A. Holz, dessen literarischen Nachlaß er von 1975 bis 1986 verwaltet hat. Rarisch schreibt auch metrisch verkürzte Sonette (»Sonettchen«). 1957 gründet er mit den Dichtern M. A. Knorr und D. Volkmann als Gegengewicht zur »Gruppe 47« (auf deren Auflösung Rarisch 1981 mit einem Heldenlied »Das Ende der Mafia« reagierte) die Gruppe der Ultimisten »Vier + 4«. Deren Devise wurde »Skepsis, Mut und Pazifismus«. Im Kampf gegen den Nihilismus der Zeit haben sich der Gruppe die ehemaligen Dadaisten R. Huelsenbeck, H. Arp, R. Hausmann und W. Mehring angeschlossen. Der Versammlungsort der Gruppe wurde der Kulturclub »Das Massengrab«, der sich in einem Berliner Keller befand. Der Club hatte fast 2000 Mitglieder und war Anfang der 60er Jahre die größte literarische Gesellschaft Berlins.

Das wichtigste Buch des Dichters wurde der 99 Sonette enthaltende Band »Die Geigerzähler hören auf zu ticken« (1990), in dem die Sonette aus den 60er bis 80er Jahren gesammelt sind, die der Dichter zuvor in diversen Zeitschriften veröffentlicht hatte. Das Buch ist wegen seiner Intertextualität erstaunlich. Es trägt uns nicht nur zum Kontext der deutschen, sondern auch der europäischen Literatur. Es enthält Gestalten der antiken und christlichen Mythologie und Folklore, es berührt die verschiedensten Probleme des sozialen und kulturellen Lebens Deutschlands über 30 Jahre hinweg. Das Sonett »Rühmen, das ist’s!« klingt seiner Intonation und Hauptidee nach wie der »Prometheus« von Goethe: der Dichter rebelliert gegen die Herrschaft der Macht. Und, was charakteristisch ist für einen Meister, K. M. Rarisch feilt filigran an der Form des Sonetts. Dies betrifft in erster Linie Binnenreime (Früchte – Gerüchte), die reichen Endreime (gieren muß – vegetieren muß; Kassen schlapp – Massengrab) sowie auch Alliterationen und Assonanzen (laßt – lasse; rührt – Ruhm). (…)

Die zwei letzten Bücher von Rarisch sind Bände mit Sonett-Tenzonen : »Hieb- und stichfest« (1996), in Zusammenarbeit mit dem Dichter und Übersetzer L. Klünner, und »Um die Wurst« (2006), in Zusammenarbeit mit dem Dichter und Maler M. Koeppel. Das erste Buch entstand als eine Widerspiegelung der charakteristischen poetischen Diskussionen um die Form des Sonetts. Bei einer ziemlich scharfen Einstellung zur Literatur der Moderne ist Rarischs Haltung zur Sonett-Tradition der Petrarca, Brentano, Platen, Lenau, St. Zweig und anderer rührend und behutsam. Im Sonett »Dem Zielstrebigen« wendet er sich scharf gegen Dichter wie L. Klünner, die meinen, das Sonett sei ein »leichtes Genre«. Rarisch zählt sich zu den Gralsrittern des Sonetts. (…)

Das zweite Buch ist wesentlich umfangreicher und inhaltlich bemerkenswerter; es bezieht sich auf viele Geschehnisse der Gegenwart: soziale Reformen und die Ermordung des Exzentrikers Moshammer, die Papstwahl und die Wahl zum Bundestag, Probleme der Kunst und der Poesie. Der Anlaß zu seiner Entstehung war der Wettbewerb, der 2004 vom Deutschen Sprachrat zur Bestimmung des schönsten deutschen Wortes veranstaltet wurde. Der Vorschlag von M. Koeppel, den er in einem seiner Sonette begründet, war das Wort »Wurst«. Rund um die Wurst wurden auch die 65 Tenzonen-Sonette geschrieben, deren Diskussion, wie auch in dem ersten Buch, mit einer Coda aus Sonetten der Freunde – Dreyer, Laschet Toussaint, Wohlleben und anderer – beendet wird. (…)

Neben den Sonetten in einem Stil, der vielfältige Assoziationen hervorruft und für die avantgardistische, expressionistische und hermetische Poesie des 20. Jahrhunderts charakteristisch ist, schuf Rarisch Sonette in der Tradition der subtilsten Lyrik. So sein Sonett »Staub«. (…)

Rund um den kleinen Hamburger Verlag der »Meiendorfer Drucke«, der von R. Wohlleben 1967 gegründet wurde, einem Verleger und passionierten Sonettisten in Personalunion, bildete sich ein Kreis von Sonettdichtern, zu dem, neben den erwähnten Teilnehmern der Tenzonencodas, der verstorbene Richard Klaus und Dieter Volkmann zählen. Die Seele und das Organisationszentrum bleibt nach wie vor K. M. Rarisch, das »verkannte Genie« und der »Schwimmer gegen den Strom« (Der Tagesspiegel, 13.1.1991). Seinem Freund R. Wohlleben (geb. 1937) widmete Rarisch zum 65. Geburtstag eine Sendung im Bayerischen Rundfunk (9.7.2002). Rarisch nennt Wohllebens Verlag den »Zentralverlag für Sonettwesen«, weil er und seine Freunde dort regelmäßig ihre Sonetthefte und Bücher drucken lassen. In der Sendung über Wohlleben stellte Rarisch eine Sammlung der Sonette seines Freundes vor. Darunter sind Gedichte über das Meer, Freundschaft, Alltag und natürlich die Liebe.



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