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Katharina Vemen:
Die fremden Zungen
– carmina carnis –
Herausgegeben von Matthias C. Hänselmann,
Zeichnungen von H. Frank

Katharina Vemen: Die fremden Zungen

Tübingen: Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke 2020
ISBN 978-3-88769-476-0

X-rated
Oder: Sexus und Tabu

Ein 1928 herausgekommenes, von beiden Seiten her bis jeweils zur Mitte zu lesendes Buch voller höchst »unzüchtiger« Sonette ist bei Konkursbuch in Neuausgabe erschienen. Der Verlag informiert über das einstige Zustandekommen und den Inhalt (hier zitiert, um Cookieverkrümelung zu ersparen):

    »Katharina Müller (1901 bis 1944) war Lyrikerin. Mit 24 Jahren zog sie nach Berlin. Ihre erotischen Gedichte erschienen erstmals 1928 als Privatdruck in kleiner Auflage und schöner Ausstattung mit zwischengebundenen, unpaginierten Kupferstichen und zwei Titelkupferstichen. Sie stand lange mit einem Druckereilehrling aus Dresden in Briefkontakt und stellte ihm auch ihr Manuskript mit diesen erotischen Gedichten vor. Er hat es mit eigenen Kupferstichen versehen und unter dem Pseudonym Katharina Vemen herausgebracht. Unstimmigkeiten zwischen Autorin und Herausgeber (und vielleicht auch die Angst vor Zensur) führten dazu, dass das Buch nach seinem ersten Erscheinen wieder aus der Öffentlichkeit zurückgezogen wurde. […] Geschildert werden sexuelle Szenen zwischen Frau und Mann, zwei Frauen, zwei Männern, Gruppen, in plastischer, direkter Sprache quer durchs Leben. Das Buch besteht aus zwei symmetrischen Hälften: „Die Nacht“, aus dem Blickwinkel einer Frau, und „Der Tag“, aus dem eines Mannes verfasst. In der Mitte verwandeln sich die Geschlechter ineinander. Diese Spiegelbildlichkeit scheint programmatisch: der Gedanke der wechselseitigen (performativen) Definition und Durchdringung der Geschlechter.«

Matthias C. Hänselmann – seine Einleitung als Klappentext der Klappenbroschur geboten, um die Symmetrie des Buchs nicht zu stören – sieht Katharina Vemens Sonette »in der anti-petrarkischen Tradition der ›Sonetti Lussoriosi‹ (1526) von Pietro Aretino«. Zur Anordnung der Sonette im Buch merkt er an: »Beide Hälften sind […] nach einem Lebenstufenmodell organisiert und zeichnen die persönlichen sexuellen Entwicklungen (beginnend mit Kindheit/Jugend über Erwachsenenalter bis hin zum hohen Alter) der männlichen bzw. weiblichen Person nach.« Für die motivischen Bezüge zwischen den beiden Teilen stellt der Herausgeber fest, daß sie zu »ausgesprochen frühen feministischen, im Grunde dekonstruktivistischen Problematisierungen der Zuschreibungen und Bestimmungen geschlechtlicher Identität« führen.

Nach einem 1920 veröffentlichten Sonett Hans Adlers zu schließen, lag die Motivik damals in der Luft:

    Ich könnte auch von schönen Frauen singen,
    Mit tiefen Augen und mit schweren Haaren,
    Die mir in Liebe hingegeben waren,
    Und meine Leier könnte lieblich klingen.

    Von Seidenkissen, die uns weich umfingen
    In goldgeschnitzten, breiten Himmelbetten,
    Beim Schein von Ampeln, die an Rosenketten
    Matt leuchtend von der Decke niederhingen,

    Von heißen Lippen und von weißen Brüsten
    Von wilden und bedenklichen Gelüsten
    Verschwiegner, dämmerschwüler Liebesstunden …

    Das alles könnt ich mühelos besingen,
    Teils selbst erlebt, teils stilgemäß erfunden,
    Und meine Leier würde lieblich klingen.

Mit dieser Andeutung erotischer Phantasien*) ließ Adler seine Gedichtsammlung Affentheater beginnen. Was er gekonnt hätte, das konnte und tat ausführlichst und drastisch Katharina Vemen in ihren 201 Sonetten. Mit welcher Motivation, ob »vitalistisch« oder aus »Lebensgefühl« der »Wilden Zwanziger« heraus, ob selbst erlebt oder stilgemäß erfunden … ??? Für einige wenige der Sonette sollte vielleicht besser das Letztgenannte gelten. —

Das geistvermittelnde Gewerbe scheint sich – aller einstiger Sexueller Revolution zum Trotz – zu scheuen, die Neuausgabe ins Sortiment zu nehmen, so daß sie nicht einmal zur Bückware werden kann. Sie gar im Schaufenster zu placieren dürfte als ganz und gar unmöglich erachtet werden. Und wo bleiben die Besprechungen? Offensichtlich gewinnt eine Konterrevolution an Boden. – So etwas mag schon 1995 angeklungen sein, als Tocotronic feststellten: »Über Sex kann man nur auf englisch singen, allzu leicht kann’s im Deutschen peinlich klingen.«**) Denn vom Peinlichen zum Anstößigen ists nicht besonders weit.

RW

*) Mitte der zwanziger Jahre gibt Arno Holz (mit dem ich mich ja nun »näher« befaßt hab) gegen Schluß der Tragödie »Sonnenfinsternis« den Phantasien Futter, wo der Protagonist, der Maler Hollrieder, die Idee zu einer Plastik »Berg des Lebens« entwickelt. Eine Probe aus dessen Vorstellung von der geplanten Darstellung des Phänomens Liebe: »In allen … erdenkbar, ersinnbar, ergrübelbar … raffiniert, brutal … absonderlich zügellosen Posen … in allen … dämonisch, frenetisch paroxystisch … überschäumenden, übersprudelnden … verfänglichst unsagbar bizarren … sinnverwirrenden Nuancen … in allen ausfindbar … in allen vorstellbar … in allen einbildbar … entmenschst, satanischst scheusäligen … hirnkrankst krassen … entnervendst horriblen Perversionen!« So gedruckt zu lesen im Band V der bei Dietz erschienenen Werkausgabe von 1924/25, S. 386, gleichlautend in: Arno Holz: Werke. Hg. v. Wilhelm Emrich und Anita Holz. (Neuwied, Berlin-Spandau): Luchterhand 1961–1964, Bd. 4, S. 281 f. (Leicht verändert enthalten auch in einem experimentellen Manuskript: Hollrieders großer Monolog als Phantasusgedicht gestaltet.) In der großen Ausformung des Gedichtzyklus »Phantasus« bringt Holz die Thematik auf die Formel »Der Mensch ist nichts als ein Adnexus zu seinem Sexus!« (Werke, Bd. 3, S. 454). – Nur für Philologen interessant: Der zitierte Text aus »Sonnenfinsternis« ist aus diesen wenigen Wörtern auf S. 273 der Erstausgabe von 1908 »aufgesprossen«: »In allen Posen! In allen Nüancen!«
Und noch einmal Arno Holz. 1966 oder ’67 verbildlichte Freund Jens Cords ein Gedicht von ihm für den Meiendorfer Beitrag Nr. 4 derart explizit, daß Buchhändler Elmenhorst sogleich mit Anzeige bedroht wurde, als er das Blatt im Schaukasten an einer Außenwand seines Ladens in der Schlüterstraße aushängte. Er nahm es da wieder raus.
**) Dank für den Musiktip an Christoph Hoffmann, dessen Sonett »Schutzbehauptung« meiner Ansicht nach bestens in Matthias C. Hänselmanns Sammlung »Sonette über das Sonett« gepaßt hätte. Leider zu spät wahrgenommen.