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DIE SYNKOPE
EINE REPLIK AN ERNST-JÜRGEN DREYER (Juni 2007)

Mein Freund Dreyer hat sich erneut ausführlich mit meinen Gedichten befaßt. Ich fühle mich geehrt und bin ihm dankbar, auch wenn ich seine Meinung nicht teilen kann, daß die Synkope in der Dichtung »unverzichtbar« sei. Sein poetologischer Exkurs vom März 2007 gibt mir die willkommene Gelegenheit, meine eigene Poetologie zu überdenken und insbesondere den Selbstkommentar »Über eigene Sonette« aus meinem Buch »Die Geigerzähler hören auf zu ticken« (Hamburg 1990, im folgenden als »GZ« zitiert) zu ergänzen. Das Sonett ist regelmäßig und symmetrisch gebaut, was Reim und Metrum betrifft. Eine Ausnahme bildet die Strophengliederung 44/33, die ein dynamisches Strukturelement in die statische Form bringt und eine gewisse Monotonie vermeiden hilft. Nun verlangt aber EJD zusätzliche Dynamik in Gestalt der Synkope, während mir die Zäsur zwischen Quartetten und Terzetten zur Aufhebung einer sonst nur schwer erträglichen Symmetrie genügt.
 

Vom Wesen des Metrums

Wegen der Eigenart der deutschen Sprache ist der fünffüßige Jambus das häufigste Metrum in der deutschen Lyrik. Man kann einen solchen Vers mit abstrakten Zeichen darstellen: È (unbetonte) und — (betonte Silbe); daraus ergibt sich

ÈÈÈÈÈÈ

Dieser sogenannte Endecasillabo endet »weiblich« (mit einer unbetonten Silbe), was in der italienischen Lyrik vorgeschrieben ist. Im Deutschen dagegen darf der Vers auch »männlich« (mit einer betonten Silbe) enden, also

 

ÈÈÈÈÈ

Von dieser Wahlmöglichkeit konnte ich EJD überzeugen, der als Übersetzer von Petrarca und anderer italienischer Sonettisten ursprünglich bei seinen eigenen Sonetten an den ausschließlich weiblichen Endungen festhalten wollte. Im übrigen kann man in einem zweiten Schritt besonders stark betonte Silben noch durch das Akzent-Zeichen darstellen. Davon später mehr.
 

Vom Wesen der Synkope

Der Begriff wird in den Wörterbüchern unterschiedlich definiert. Für den sprachlichen Bereich scheint mir am zutreffendsten: »Verlagerung des rhythmischen Akzents auf einen unbetonten Taktteil«. Demnach entspricht der Vers in der Dichtung dem Takt in der Musik. Davon strikt zu unterscheiden ist der Rhythmus. Sehr selten sind metrische und rhythmische Betonungen im Vers identisch. Ein solches Beispiel stammt von Platen und wird in GZ S. 135 ff. analysiert:

 

Denn jedes Herz zerhackt zuletzt ein Spaten

Als eigenes Beispiel, obwohl nicht so streng vokalisiert wie bei Platen, finde ich in GZ S. 46:

 

Vorbei der Traum … leb wohl, mein Saitenspiel!

Enthält nun ein Vers im jambischen Metrum die umgekehrte Silbenfolge (— È anstatt È —), so ist dies eine Synkope. EJD führt dafür zahlreiche Beispiele an. Ich will in dieser Replik nur auf eigene Verse eingehen, die mir EJD angekreidet hat. Daß er mir im übrigen wegen des Verzichts auf die Synkope (richtiger: wegen des Willens zum Verzicht) einen »skurrilen und traditionslosen Purismus« vorwirft, werte ich hier nur als rhetorischen Ausrutscher, nicht aber als Ohrfeige, wie sie mir von Lothar Klünner verabreicht wurde, der mich als sonettistischen Fundamentalisten beschimpfte. Denn wenn ich versuche, auf schlampige Traditionen zu verzichten, lasse ich mich gern als »traditionslos« bezeichnen.
 

Vom Nutzen des Metrums

Ein Substantiv mit vorangestelltem Artikel wird wahrscheinlich jambisch zu lesen sein, z.B. »die Nacht«, È — . Es kann aber auch umgekehrt gemeint sein, wenn eine bestimmte, z.B. die heutige Nacht bezeichnet werden soll, also »die Nacht«. So in GZ S. 24:

 

»Wie jede die Nacht« etc.

In meinem Sonett »Epilog« habe ich das entscheidende Wort »die« der Deutlichkeit halber gesperrt drucken lassen; die richtige Betonung hätte sich aber bereits aus dem jambischen Metrum ergeben. Der Leser muß sich auf das korrekte Metrum verlassen können; Störungen des Metrums durch Synkopen sind also zu vermeiden. Die Höflichkeit des Autors gegenüber dem Leser erfordert es auch, das Sonett nicht ohne Notwendigkeit zu verrätseln. Im Gegensatz zu anderen Sonettisten will ich auch zwischen mir und dem Leser keine Schranken in Gestalt formaler Bildung errichten. Ein Sonett soll auch ohne Kenntnis z.B. der griechischen Sprache und Mythologie gelesen werden können; der Leser soll nicht zuerst im Lexikon nachschlagen müssen. So zitiert EJD einen Vers von mir, der ursprünglich mit einer Synkope begann. Hätte der Leser dieser fehlerhaften Zeile sich vor der Lektüre nicht im Wörterbuch über die Aussprache des Namens »Augias« informiert, wäre es möglich, daß er den Namen zweisilbig als »Au/gjas« mißverstanden hätte:

 

Stall des Augjas, nicht mehr auszumisten

Das heißt: der Leser hätte das Metrum fälschlich als fünffüßigen Trochäus aufgefaßt, anstelle des richtigen Jambus. Deshalb mußte ich, nachdem EJD mich auf die Synkope im ersten Versfuß hingewiesen hatte, den Vers ändern, um Mißverständnisse zu vermeiden:

 

Augiasstall, der nicht mehr auszumisten

Nun kann es nicht schaden, wenn man sich danach im Lexikon über die mythologische Herkunft und Bedeutung des Augiasstalls informiert. Der Vers soll also den Erwerb humanistischen Bildungswissens nicht voraussetzen, sondern anregen. Das Gegenteil wäre für mein Verständnis eine leserfeindliche Bildungshuberei.
 

Die Synkope – eine Differentialdiagnose

Synkopen sind nicht pauschal als metrische Fehler zu werten; man muß sie vielmehr jeweils im konkreten Kontext untersuchen. Dabei ist zunächst zu beachten, daß die korrekte Betonung nicht immer feststeht; es kann je nach regionalem oder persönlichem Sprachgebrauch Schwankungen geben. (Ein solches Phänomen ist auch bei der Frage der Reimreinheit zu konstatieren: ob ein Reimlaut lang oder kurz auszusprechen ist, steht nicht immer fest.) So verhält es sich z.B. mit der Redewendung »es sei denn«. EJD kennt sie mit der Betonung auf »sei« – nach meinem Sprachgebrauch wird hier das »denn« betont. Somit enthält Vers 6 meines Sonetts »Der Preis ist heiß« (aus der Sammlung »Entferntere Nirwanen«, Hamburg 2007 = »EN«) keine Synkope:

 

Ein  

jeder,  

es  

sei  

denn,

  er  

schreibt

  nur  

Schund

È

È  

—  

È

  È  

  È  

Häufig steht die Synkope am Anfang des Verses. Dabei können manchmal die beiden ersten Silben betont werden: — — . Und zuweilen ergibt die Betonung auf der zweiten Silbe einen geheimen (Neben-)Sinn, so in GZ S. 61:

 

Krank wie der Arzt, der seinen Arzt nicht fand

Ich habe nämlich im Selbstkommentar (GZ S. 121 ff.) ausgeführt, daß es sich um einen Vergleich zwischen dem lyrischen Ich und der Situation eines kranken Arztes handelt; dementsprechend kann das betonte »wie« diesen Vergleich unterstreichen. In solchen Fällen liegt quasi nur eine Halbsynkope vor. Ähnlich verhält es sich mit folgenden, von EJD vorgegebenen Fällen:

 

Blutlaugensalzbeladen (GZ, S. 60);
Zusehends dünner (GZ, S. 62);
Mordkutschertat … / Weltwundwahndunkel (GZ, S. 105);
Nur ein poète (GZ, S. 106)

sowie mit mehreren Sonetten aus EN (unpaginiert). Dabei stellt Vers 5 des Sonetts »Liebst du?« einen Sonderfall dar:

 

Kennst du das Land

weil es sich um ein Zitat handelt, das sich kaum jambisch transformieren läßt.
 

Die Beichte

EJD hat mir die poetologische Gretchenfrage gestellt: »Was hast du eigentlich gegen die Synkope?« Meine Antwort lautet: Die Synkope verstößt gegen das korrekte Metrum und damit gegen ein wichtiges Strukturmerkmal des Sonetts. Selbstverständlich ist das perfekte Sonett ein Ideal, das fehlbare Menschen niemals erreichen können, aber immer anstreben sollen.

Fehler müssen eingestanden werden, aber immer nur mit zähneknirschendem Bedauern. Inwiefern man als Sonettist auf den Kardinalfehler der Synkope stolz sein dürfte, hat mir EJD mit seinem umfangreichen Essay nicht plausibel gemacht. Es steht natürlich jedem frei, auf das korrekte Metrum zu verzichten, ebenso wie auf den reinen Reim oder die ebenmäßige Strophe. Ob die so entstehenden Gebilde noch Sonette sind, ist eine andere Frage, die EJD nicht als Gegen-Gretchen mißverstehen sollte. Ich bekenne: Ich habe gesündigt! Die bisher erwähnten Fälle möchte ich allerdings als läßliche Sünden entschuldigen. Eine Todsünde jedoch liegt vor, wenn die zweite Silbe auch nicht den allerleisesten Nebenton tragen kann, wie in GZ S. 67:

 

Richtend auf uns den strengen Richterstab

Auch der Umstand, daß das »Richtend« dem Erfordernis des R im Akrostichon geschuldet ist, erlaubt keine Absolution. Das Sonett, weil allzu ambitioniert, ist schlicht mißlungen! Ob ich dennoch in den Sonettistenhimmel kommen werde? Aber vielleicht erwarten mich:
Entferntere Nirwanen …


Klaus M. Rarisch
 


Rechte bei Klaus M. Rarisch



 

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