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Leegerwall
Aus Theodor Storms Tagebüchern 1886/87

Einstweilen Torso



Heiliger Abend 1886

Bittschriften, Bittschriften ... wie immer in der Morgenmail. Mittags und nachmittags mir noch mehr zuzutragen ist dem geplagten Haien christabendhalber amtlich erlassen. Erlaß auch mir. Und für Pastor Niehuis eine Garantie, am heutigen Abend in St. Marien auf einen Baß mit frisch aufgebürsteter Stimme sich stützen zu können. Vorausgesetzt, Haien ging es woanders nicht schlimmer als in der Schwanenstraße No. 12, wo ich ihm vom Rotspon anbot, den er – wie Caesar die Krone – dreimal ablehnt, bis er ihn hineinthut, die Lippen einkneift, sich schüttelt, seufzt, mit dem Rücken der Linken über den Mund wischt und die Augen kleinzieht. Aber es sind zuvor und danach so gar viele Häuser und Gläser auf seiner Patrouille und viele Getränke schwerer als Roter. Zurück zum Amt zwecks Abrechnung muß er noch mit seinem Stromrad und dann durch tauenden Schnee zur Kate am Außendeich – hindurch zwischen Scylla und Charybdis in Gestalt der Bahnhofswirthschaft und des Fährkrugs. Wie wir ihn kennen, wird die tückische Passage nicht gelingen und Niehuis auf einen stützenden Baß zu verzichten haben.

Die Briefschaften uneröffnet, bis vielleicht morgen oder übermorgen. Sind alles Bittschriften, so stehts ihnen mit spitzer Feder schwarz ins Gesicht tatauirt. Wenns zu schummern beginnt, was naturgemäß nicht mehr lange wird auf sich warten lassen, schmückt »mein Harem« den Baum, dann werde ich wie ein kleiner Jung durch hellsilbernes Glöcklein zur Bescheerung gerufen. Ich sehe schon genau, wie der alte Mann innig erfreut sein wird durch die sinnigen Geschenke, flüssig seine Gegengaben vorholt und schmunzelnd den überschäumenden Dank entgegennimmt. So schön wird es abgehen.

Doch bis dahin noch zwei Stunden Nachdenken über den Deichsagen-Roman. Paetel schreibt, daß ein neues Buch von mir an der Zeit wäre, Manuskript will er sehen. Wird warten müssen auf den alten Mann. Was will er auch von dem!!!

Erster Weihnachtstag

Nicht nur Bittschriften in der Post von gestern, ich hätte den Couverts schärfer ins Gesicht äugen sollen! Den Totenbrief doch eröffnet: Geibel schickt ein Gedicht über die helldunkle Stadt an der Trave. Er soll in tausend Teufels Namen doch nicht den Franzosen und ihrem Clairobscur hinterherlaufen – und mir schon gar nicht. Ab in den Papierkorb! Er mahnt die Quittung über seinen lübschen Rotspon an. Die müßte Haien ihm ausstellen, denn nur dem scheint er zu schmecken. Noch. So haben Posten und Mail erreicht, daß die Sendung ankam, nachdem G. schon zweieinhalb Jahre tot ist. So ist mir erspart, ihn mit ehrlichen Antworten vor den Kopf zu stoßen. Ich will dankbar sein.

Aber ein allgemeines Schütteln des Kopfes ist angebracht über die höchst Königliche Post: Mit all ihren Posttorpedos bekommt sie es nicht zuwege, einen Brief innerhalb des Imperiums und seiner Anrainungen weniger als das halbe Dutzend Tage unterwegens sein zu lassen. Von London zum Cap, von Husum nach Meldorf: sechs Tage. Der E-Liner, ganz weite Meilen in die neue Welt hinüber, ist ebenso schnell. Nur mit den indischen Besitzungen macht die Royal Mail eine Ausnahme: vier Tage! Aber was soll mir das? – Ein Gedanke: Schlanke Gestalten mit rüstiger Ledertasche voller eiligster Dokumente springen fahrkunstmäßig wendig von Rapid- auf Expreß-, von Expreß- auf Rapidzug über, sind in anderthalb Tagen von Husum in Wien, das wäre ein Projekt für einen speculativen Unternehmergeist. Ach, selbst wenn jünger, wäre so etwas nichts für mich langsamen Seß- und Innenhaften.

Nein: Solcherlei Errungenschaften zu erringen, ist an andren Staturen, doch den Anspruch, die sinnvollen zu genießen, gar beanspruchen zu dürfen, meine ich mir wohl auf meine Art errungen zu haben, auch wenn die andren Staturen sich vielleicht gar nie von meinen Mären haben erbauen lassen.

Und noch einmal nein: Hineingelebt habe ich in eine andre Welt, in der ich nicht gern bin, sie kommt aus dem Feuer, rüstet sich allzu stählern und elektrisch in ihrem Fortschritt; Maschinen sind überall rangirt, fahren gegen mich, ich fliege zusammen, will die Ohren verstopfen vor allem Gekreisch – und hab doch hergelebt aus einer andren Welt, in der ich nicht gern war, denn voll Zugluft war sie, ungepflastert, schlecht überdacht, verwanzt, zu dänisch, ungesund gefährlich. Und stank ungewaschen.

Ungeduldige Gedanken über noch schnellere Beförderung von Billets, Contrebillets und Billetdoux sollte ich mir schenken! Nehme mir doch, brauche und fordre Zeit fürs Nachdenken über Wort und Widerwort. Und ist mir wohl an Zeit nicht mehr viel beihanden.

Der hillige Abend hatte seinen erwartet angenehm gewohnten Verlauf, Beschluß mit Whist zu meinen Lasten. Wer da wohl wieder das Glück corrigirt hat?

Von G. ein von ihr selbst rot und blau und silbern! besticktes Sitzkissen für den Schreibstuhl, so hat sie ein weiches Inding ihrer Freundlichkeit geschaffen. Da es ein Inbegriff nicht sein kann.

Von E. ein selbstgeknüttetes, unendlich langes schafwollenes Halstuch mit bildhafter Musterung. Mit der Deutung setzte ich mich in die Nesseln: Nicht ikarische Flugversuche und Möwen mit hochgestellten Flünken sollten es sein, sondern doch unerläuterte Fischerboote und Reiter! Was in so einem achtzehnjährigen Ding vorgeht und es monatelang beschäftigt hält, werde ich vielleicht einstens begreifen.

L. ist, wie immer, mit drei Sacktüchlein auf der sicheren Seite geblieben. TS hat sie eingestickt. So ists doch recht gewesen, daß ich dies kleine Bändchen »Klinginsherz!« aufgespart habe. Das hatte sich beim Buchhöker Peltier für sie versteckt.

Für G. ein Dtzd. Bouteillen Rheinwein, sie wird ihn mögen, denn sie kennt ihn schon bis zur Neige und darf ihn, wie sie weiß, in meiner Gesellschaft öffnen. Auch bis zur Neige.

Das Blankotagebuch für E. möchte ein Fehler gewesen sein. Wenigstens hätte ich nichts von Zauberwort und schwankender Welt aufs Vorsatzblatt schreiben sollen. Und dann das Schloß in der Messingschließe zusperren. Und folglich Schlüsselübergabe. Ich bin zu alt, zu alt, zu alt.

Paetels Ansinnung durchspukt mich. Ich sollte entsprechen müssen, denn Erträge meines Scribententhums kämen dem rheinweinbedürftigen Haushalt nur allzu sehr zupasse. Fangen wohl gar an zu fehlen.

Zweiter Weihnachtstag

Haiens gekniffener Mund stand mir wieder vor Augen. Ich habe die verdächtige Flasche vorgeholt und einen Tropfen der Totengabe genippt: Der Rotspon ward zu Essig! L. mußte ihn aus der Credenz ins Küchenschapp räumen, er mag noch eine Hasenleiche beizen helfen. So verschwenden wir nichts. Mit der Winterjagd im Flor, wird Volkerts treffsicher mindestens eins der Thiere mit seinem Schrotrohr totzuschießen wissen und an mich denken. G. balgt dann ab, und ich muß wieder fascinirt zusehen.

Endlich die gestern mit dem nachgeisternden Geibel angegangene Freitagsmail aufgearbeitet, nichts jünger als sechs Tage, Tendenz mehr aufs Dutzend! Bittschriften zumeist, wie geahnt, und ab in den Papierkorb! auf daß die je antwortlosen Geschöpfe nnimmer, niemals oder nie wieder an den Großen TS sich wenden.

Keine Abrechnung vom Bankhaus in Hamburg. Nun, sie schieben sie wohl bis zum Sylvesterleinstag vor sich her. Paetels Vorschuß für die Deichsagen-Chose seit fast einer Woche ausstehend. Der Vertrag ist klipp und deutlich, aber man hat ja infinit Zeit, glaubt man, und man beansprucht meine Geduld, als hätt ich sieben Leben. Das nicht mehr als eine fängt doch das Flackern an. Ich sollte Paetel davon schreiben, wie da gestaltlos Mißempfindnisse im Corpus vagabundiren, die Schatten recken sich hoch aufgerichtet über die Wände. Aber das werde ich gewiß nicht tun, denn da erliege ich natürlich dem Irrtum jedes rechtschaffenenen Spartaners: Er kennt keinen Schmerz.

Zwei weibliche Letters sollen nicht für den Papierkorb sein. In rührend unausgeschriebener Ursulinerinnencurrent kommt ein Poemlein: In Wassern ganz versunken, Vertrieben von den Sogen, Hab ich Dir zugewunken: Geruhig in den Wogen. Ach, Ophelia aquis submersa!

Im andern Couvert eine nicht ganz schnittsichere Silhouette nach meiner Portrait-Statographie im Hannöverschen Herold. Dazu mitgeteilt, das Opus sei im Herbst während der Äquinoktialstürme entstanden, als die Schicksalsgenossinnen wie üblich nächtens bald von Sinnen die Hausbibel durchforsteten, Trostworte auszustechen oder Worte der Beschwörung, den Mann wohlbehalten von See heimkehren zu machen.

Sie jedoch habe, nachdem das Söhnchen endlichendlich zum Schlaf überzeugt gewesen sei, aus dem Versteck unterm Wäscheschatz die als Contrebande eingebrachten »Novelen« (meine!) vorgeholt und einmal ungestört wiederlesen können. Liest also besser und mit mehr Geschmack, als sie mit ihrem durchschlagenden Plattdeutschen und Lecker zwischen den Lippen schreibt: »Nach der Weser« sei ihr Gespons gefahren, wo ich verlange: »zur Weser«. Beide Brieflein jedes eine Weihnachtsfreude. Und in die Muschelschachtel zu den andern. Die füllt sich entschieden. Brauche bald eine sechste.

Montag, 27. Dez

So streunen sich die Nachdenksel über den Deichgrafen hin vom Feiertäglichen wieder ins Alltägliche. Er hat zu haben, was ihn treibt, die Obsession, und nicht damit geboren sei er, sondern Entwickelung wachse sich dahin. Um neuverständige Deichconstruction soll er ringen müssen, die optimale Neigung gegens Haf, der Anbrandung den Zubiß abzuhandeln, dazu die Füllung, die nicht unterm Druck der Wasser sich versetzt, wie zu sichern sei die Bestickung bis zum Anwachsen der Grasnarbe – welcher Art Gras? Wie ist – ohne Dänemark zu erwähnen!!! – vor mehr als 130 Jahren dieser Erwachsene geworden?

Ums Jahr 1720 muß er zur Welt hinterm Deich kommen, hinein in dürftige Bauernwirthschaft abseits der Wanderwege fürs Metall mit den Gekrönten. Das heißt: Dem steten Wind und Verfall mit Behelfen steuern, mit Lehm also, wenn Backstein wegwittert und der Kessel löchert. Keine Spiele, Mosquitostich und Haß zu übertändeln. Kein Tanz ... aus Angst vor Grund und Gravitation.

* * *

[1887] Noch 7. Mrz, Altona

Auf den Stuhl sinken. Eine Motte umtaumelt den Zylinder der Lampe. Augen schließen. Der Wecker tickt. Links oben aus der Kehle von Wand und Decke raspelt eine Maus am Balkenwerk, besinnt sich, raspelt weiter. Tritte die Treppe abwärts, stolpern, hören halben Wegs auf: Wieder ein Rätsel ohne Lösung. Ob ich denn nachsehen soll? Und dann ist da niemand? Fern von tief Schläge, nur einer ab und zu, dann wieder zwei, drei in Folge: die Kartenspieler in der Gaststube. Da sah ich sie rauchend um den Eichentisch gewachsen, nachdem die Droschke mich und meine Valise am Christianshof angelandet hatte. Bier schäumt auf in Gelächter, nicht näher, aber lauter und lauter.

Unterm Fenster geht eine Droschke vorbei, aber Hufe und Räder vom Nebel in die Nebelwelt entrückt. Von der Elbe her die Stimmen der geängsteten Schiffahrt, von Schiffsglocken pingelt es, Bälge mit dem Röcheln wasserloser Pumpen, dreimal vibrirt ein Typhon im Baß. Die Feder kratzt das Foolscap an, wie ich da als Blindekuh in fremder Leute fremder Luft, in fremder Länderei, in fremder Ortschaft, in fremdem Haus im Fremdenzimmer alles höre & festzunotiren suche. Mit ein wenig Übung läßt sich auch mit geschlossenen Augen schreiben. Ich mache die Augen wieder auf. Aber nötig wärs nicht.

Hundert Meilen Landschaft hätte ich heute absehn können, wären die Augen immer drin gewesen. Aber sie wurden auch müde der wiederkehrenden Gehöfte, die Eschen vom Westwind schiefgeweht, Alleen stet vom Coupéfenster weggedreht, dünn angegrünt die Bebaumung. An wie vielen Schwarzbunten auf wie vielen Koppeln fuhr mich der E-Train vorbei? Einmal vom Feldrand der Qualm einer Lokomobile, flüchtete sich mit dem Wind da hin, wo der Wolkenhimmel hetzte. Und fern im Grund hielt ein Schattenriß, der Pflüger, den vom Stahlseil gezogenen Pflug in der Geraden. Bis St. Michaelisdonn allein im Coupé.

Beim Umsteigen ließ zum Glück ein Porter sich winken, dem alten Mann mit seiner Valise zu helfen. Geruhsam sah eine Corporalschaft preußischer Paß- und Zollbeamter mir zu, bis sie ebenfalls in den Dampfzug einstieg, um sich gesammelt meinem Passeporto mit Löwe und Einhorn zu widmen, meine Baarschaft sich weisen zu lassen, mein Gepäck gnädig nur halb auszuräumen, Finkenwärder als mein Reiseziel anzuwundern, meine Profession von einem der ihren sich erläutern zu lassen. Dem war meine Regentrude vorgelesen. Ich durfte passiren.

Ab Glückstadt in Gesellschaft eines Viehhändlers, von seinem Talerskat mußte er berichten, ein ums andre Mal sollte ich die zwei Händevoll seines papierenen Glückes besichtigen. So gab er mir ein dankbares Publikum ab für die alte Geschichte vom Schatz, der in verrufenem Moore begründet vermutet, aber nie gefunden wird. In Altona schieden wir im gemeinsamen Wissen, nicht allein zu sein im Wissen um die Wege, die das Glück durchkreuzt.

So also morgen von Hamburg um halber elfe mit der Courier nach Finkenwärder. Was soll das werden? Daß der Nebel sich hebt, will ich hoffen.

Dienstag, 8. Mrz 87, Finkenwärder

Sonderbar: Keine Controle, keine Uniformen, als die Droschke mich von Preußen nach Hamburg hineinfuhr. So geht es also auch!

Und wieder gestrandet in einem fremden Fremdenzimmer, Külpers Gasthof diesmal. Fast vermisse ich die Maus von gestern abend. Dafür schreien Katzen draußen in der Nacht. Ist aber auch alles ein paar Nocken geringer als in Altona. Gerade im Geschoß über der Gaststube bin ich untergekommen, gerade mit kaum ausgestrecktem Arm kann ich an die Deckenbohlen reichen. Gerade nur eine Kerze leuchtet. Gerade für kaum mehr als für Schreibpapier und Reiseschreibzeug ist Raum auf dem Gestell am Fenster, das gerade nur auf einen Deich geht. Nein: auf einen Mondhimmel auch, in dem ganz unten die Mastspitzen der Fischerboote herumfuhrwerken. Geruch nach Leinöl, wohl von der Farbe, mit der Wände, Fußboden und Decke »gemalen« sind. Eine Totenuhr tickt.

Tags darauf

Vom Geschrei der Spatzen, sie scheinen im wilden Wein an der Giebelwand zu nisten, aus ruhiger Nacht aufgewacht. Dann vergrößerte sich die gehörte Welt mit »Ho!« und »Wahrschau!« über den Deich her, begleitet von Klopfen auf Holz und ruckweise schrillenden Blöcken. Aus zwei Richtungen von der Insel her Ensembles von Kühen und Schafen. Eine Stimme wie von einem Spitz setzte ein, forderte oder fluchte. Drei Hähne aus verschiedenen Distancen probierten ihre Kadenzen ... den Respons der Hennen spielte meine Vorstellung ein, improvisirte ihnen überdies Unterkünfte aus Überbleibseln von Scheiterungen bis hin zu verwitternden Meerköniginnen als Zier der Giebelchen. Dies mit geschlossenen Augen. Dann wieder in die Nähe gehorcht: Unten im Haus rückten Stühle, Geschirr klapperte irden und metallen.

Morgentoilette am Waschtisch mit blankschwarzer, fossiliengescheckter Marmorplatte. Unglaubliches Pflanzengerank an Waschschüssel und morgendlich kaltem Wasserkrug. Ohne daß Treppengeknarr vorhergegangen wäre, geschah zweimalige Anrührung der Thüre, als sollte Klopfen gemeint, aber nicht gewagt sein. Zwei Schritte und draußen nachschauen: natürlich niemand da, aber links vom Thürstock ein wenig Dampf vom warmen Wasser im Steinzeugkrug. Da hatte wohl wer das Ohr auf Knarren von Bettgestell und Dielen gehabt und mir bitterkalte Rasur ersparen wollen. Rasirwasser hatte ich abends zuvor zu verabreden versäumt, so entfaltete sich nun wohlthuend wärmendes Erkennen, in wortlos sachlicher Freundlichkeit untergekommen zu sein, die mein Gesicht wahrnahm und sich ihr nötiges Theil dachte. Das warme Wasser tat der Wangen- und Kehlhaut wohl, als andere Partien noch damit zu tun hatten, das unter kalter Waschung aufgesplitterte Erschrecken abklingen zu lassen.

Im Thürrahmen fand sich ein Haken für den Streichriemen, bedachtsam die Klinge dran abzuziehen. Das Gesicht war zwischen schwärzlichen Wolkigkeiten im Spiegel hindurch zu lenken, um dem mit vier Fingern der Rechten gefaßten Rasirmesser sicheren Schnitt zu ermöglichen.

Wie ich immer wieder in Düsternisse geriet, zeigten sich innen Bilder der letzten Nacht. Da war zu erkunden, wie Welt nach dem Tode beschaffen ist. Den Weg dahin zu finden, träufte mir jemand etwas Wasserklares in den inneren Winkel des linken Auges, was mich in ein phosphoreszentes Lichtwesen verwandelte. Ich fand mich in einem kaum beleuchteten Raum mit Bretterwänden. Kein Meublement. Lebende, alles Männer, gingen hin und her, gelegentlich durch mich hindurch. Sie sahen und spürten mich also nicht. Eine Gestorbene – die ich doch lebend weiß! – in in grünlich weißem Leuchten kam auf mich zu und sprach mich an: Sie sei schon vorausgegangen. Ob denn nun alles Harte und Anfaßliche für uns verloren sei, wollte ich wisssen. Es lasse sich lernen, wenn auch nicht leicht, Halt der Dingwelt zu gewinnen, erklärte sie. Sie habe bereits gewisse Fertigkeit darin. Sich niederbeugend, öffnete sie eine Klappe an ihrem Schuhwerk und holte daraus eine spiralig gewundene Schlange aus Metall hervor, anscheinend dick patinirtes Kupfer, also alt. Den Lebenden erschien die Schlange als frei in der Luft schwebend. Einer ergriff sie und wollte den Raum verlassen. Zwar ließ sich die Schlange zurückgewinnen, aber nie für lange, denn immer wieder andere Lebende nahmen sie uns wieder ab. Der weitere Fortgang verliert sich ins Vergessen. Womöglich sind wir immer noch dabei, uns den Wiederbesitz der Kupferschlange zu sichern.

Nachmittags erste Begegnung mit Metta K. und ihren grauen Augen. Die hatte ich genau so schneidend befürchtet. Nun war ich der Fischersfrau ja angekündigt, so stand sie sogleich im Hausflur, wie ich nach langem Gang den Deich entlang an der ausgeklappten Oberthüre klopfte, Heckerhut in der Hand. »Storm?« (Kein Herr, kein Meister, richtig.) Wohl bemerkt habe ich, wie mit winzigen Regungen ihre Finger den harten Sehnengrat in der Fläche der Rechten ertasteten. Mir recht: So darf sie sogleich ahnen, wie mein Altsein sich über mehr als vier Jahrzehnte von ihrer Jugend fort in fremde Lebensform gestaltet hat.

Ich gestehs mir: Dicht an ihr vorbei in den Hausflur tretend, gieng ich durch ihren Geruch, um überzutreten in ein Traumland, wo keine Wörter sind, sondern gerade nur Haut sich kennt und Augen sich fangen. Sie kennt es auch. Das weiß ich vom Lidflattern und Erschrecken der Pupillen. Aber ihr sechsjähriger Jan holte aus der Küche den Stuten und »gute Butter« zum Tisch in der Dönß, wo schon der Kaffee dampfte. So commandirte er uns flink zurück in unsre Wircklichkeiten. Die hießen: Conversation, weil wir uns ja nicht kennen konnten. Jan an ihr Bein gelehnt, über den Tisch mich unverwandt ansehend. Ein Toddler auf ihrem Schoß. Das Gespräch lag gut am Wind. Nach ihrem Dasein auf Finkenwärder wußte ich zu fragen, nach meinem Erzählen fragte sie. Und hatte immer die Geschichten mit den düsteräugigen Fraunsleuten zu fassen. Zuweilen lachte sie über meine Ausflüchte. Nur die Hände konnte ich wortlos spreiten: Was weiß denn ich, warum Glück mißrathen soll?

Zu halbleerem Stutenteller und leerer Coffeekanne kamen der Schiffer und sein Knecht. Am Ewer hatten sie gerichtet, auch beim Segelmacher waren sie wohl gewesen. Sind hartgeschlichtete Leute von faktischem Humor: »Ji schrievt? Denn schrievt mi man mol een Rimel för min Ewer. Mag ween, dat ik dat vergulden lat.« Kein Zweifel: Der Schiffer spürt, wie es seiner Frau mit mir geht, aber die Augen bleiben unwandelbar bland. Der Knecht verräts mit blandem Blick: Er weiß, wie es mir mit Metta geht. Und ihm mit ihr? Das weiß nun wiederum ich.

* * * * * *

Nach dem häuslichen Abendbrodt mit Peltier im Schwanen verabredet, zu bereden, ob ich auf die große Hebbelausgabe subscribire. Wir wissen beide, daß es mir langt, dies und das und jenes von ihm gelesen zu haben, ihn nicht wiederlesen oder zur Hand haben muß. Hebbels Blankvers und dessen tückisch genau gekappten Takt hab ich in mir ja längst von Dornrankengedanken schützend überwuchern lassen.

Ein unausweichlich sonderliches Treiben im Schwanen, wo es alle zusammentreibt: Am Brittannistentisch führt Peters das Wort, Rücken an Rücken mit Fürböter als Wortführer der Upewigungedeelten, querab die Fraktion der Eiderdänen mit dem ironisch lebenden Königlichen Postmeister voran und gleich (fluchtbereit?) an der Thür zur Gaststube ein heimlich heiserer Haufe um Hauke Storm, der Wulf Isebrand die Schlacht bei Hemmingstedt gern würde nachmachen wollen und Britten, Dänen, Deutschbündler, Holsteiner, Preußen, Österreicher, Bayern und überhaupt alle über die Dusenddüvelswarf jagen, so denn die Umstände das irgend erlaubten: Nu, wahr di, Garr, de Buur, de kummt! Ich vermisse die Gruppierung der in alls Geduldigen.

Sönke Randers trug unparteiisch das Bier, die Schlehe und dem Postmeister seinen Wein zu. Wie er Peltier und mich zum kleinen Tisch neben dem Tresen leitete, kam mit gehobenen Schultern und abgespreizten Händen von ihm: »Zwanzigster April.« Und das Gesicht mit geschürzter Unterlippe wiegen. So scheint die vermißte Fraktion also doch vertreten zu sein. Und wohin mit Peltier und mir?

Ja, ich weiß, McDermott-Tag steht vor der Thür, mit englischem Frühstück für alle, Schulfrei, wenn nicht grad in die Osterferien fallend, Feuerwerkereien und Bikebrennen. Sofern nicht mit dem Stillen Freitag sich deckend. Aber das war nie bisher und ist zunächst nicht zu besorgen, maßen erst 1962 als erstes von drei Malen im kommenden Jahrhundert. Wie ich die Gärungen so glucksen höre, wird McDermott Day bis dahin nicht überkommen.

48 Admiral McDermotts Landung bei Tönning. Nordfriesland seither brittisch besetzt. Also bald als halbwegs rundes Jubiläum zu feiern. So trottet das mit der Convention im Rund. Die runden Zahlen werden mir da zum Zweiffel. Was wäre denn außer den plausibel runden Händenvoll rund an bauernzahligen achtmal fünf? Und täten wir uns noch aufs Dutzend beziehen, hätten wir zwar magische, aber doch ungerade drei Dutzend mit immerhin geraden Vieren drüber. Mit zwischengefügten A und B die zehn aufs Dutzend verschoben, kämen die jetzt so prallrunden vierzig auf hergelaufene vierunddreißig raus. Braucht keine Worte, daß Peltier mich versteht. Er deutete Contractur der unteren Lider an, um zu bestätigen.

Vor der Andeutung meiner Unbehaglichkeiten zieht Peltier zurück, wird verschlossene Klaffmuschel. Er weiß oder ahnt also auch, und ich verstehe: Er kann das von mir nicht wissen wollen, da vor anderthalb Jahren die Jugendliebe, vor einem der Schulmeisterfreund, vor weniger als einem halben Vater und Stiefmutter von ihm gegangen sind. In Unbewegtheit gerinnt er, da muß ich! an seine Hand rühren. Ob Untröstlichkeit sich trösten läßt? Mir gehen die Augen über, Peltier darfs sehen, aber von Randers und seiner Gaststube wandte ich mich ab.

* * *

Nachmittags bei unruhigem Wetter mit E. in ihrem verschleiernden Kopftuch auf dem Deich. Sie sagt, sie habe die Bewegung nötig, aber ich weiß doch, sie meint, mir in der von Schnee überklitschten Unwegsamkeit einen Beistand parat halten zu müssen. Sie mag meiner Rüstigkeit nicht trauen, auch wenn ich noch so cane-verstärkt in schwarzwehendem Mantel dahinstake.

Nordstrand ganz verhangen. An den Deichgrafen gedacht, ausgeschaut, ob die Sage recht hat und ihn bei drohendem blanken Hans dem ängstlichen Auge auf dem Deich hinjagen läßt, lautlos, ohne Widerstand im Untergrund. Nichts außer Nebeleien und fliegendem Himmel. Flugmanöver der Möwen. Keine aufkommenden Kutter an der Kimmung, keine Gischtfahne vom Helgoland-Courier. Ist ja Weihnachten, und das Meer fährt ungestüm, da gehören die Schiffe in die Häfen. Und ich ins Arbeitszimmer zum freundlichen Bilegger.

Muß concret eine Marsch und Warften mit Friesenhäusern hinterm Seedeich ausdenken. Aber hier um Husum? Gleich nach den Feiertagen also zum Deichgrafenamt und Max Thormiller angehen um Karten der Küste. Da mag ich zu Diplomatien gezwungen sein, denn es möchte sich ergeben, daß solcherlei Kartenwerke zu Geheimsachen erklärt sind, um feindlicher Macht meerische Zuwegungen zu verbergen. Ich hänge keinerlei feindlichen Mächten mehr an. Ich schreibe nur. Ich brauche Kunde, wie Sand- und Schlickwatt changiren, die Priele sich schwenken.

* * *

Werde Thormiller nicht nach Rungholt fragen. Das hat DvL gethan – und mußte dann eine ganze lange Ballade schreiben. Ik warr mi wahren.

* * *

[...] doch bin ich längst williges Versuchsthier für Persson und sein Homochron, wie ers nennt. Nur ... das, was er in seiner Mansarde in die Hexenapparatur schreibt und was ganz und gar gleichzeitig die magische Maschine hier bei mir auf ihre Scheibe von Beinglas schreibt, wie er gerade schreibt, kann oder will mir nichts sagen, ist zu wenig Menetekel wie ich zu wenig Belsazar, auch wüßte ich nichts zu schreiben, was ihn, während ich schreibe, berühren könnte außer immer wieder nur: »Weiter so, wackerer Persson!«

Rechte bei Robert Wohlleben

(zu besserer Stunde theile ich mehr aus dem Material mit)