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Matthias Koeppel, Klaus M. Rarisch & al.
Um die Wurst
Sonette zur Lage

Meiendorfer Druck Nr. 56
Januar 2006, 350 Exemplare
96 Seiten Oktav, fester Einband, 20 Euro


APPLAUS IN UNSERN MODERATEN BREITEN …?

 

wurst als kollektivbezeichnung für ein in zahlreichen sorten verbreitetes nahrungsmittel, das gewöhnlich aus zerkleinertem, gesalzenem und gewürztem fleisch, fett und den schlachtabgängen der schlachttiere, gelegentlich auch mit andersartigen zusätzen bereitet und in (kunst)därme, mägen oder blasen gefüllt wird.

(Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm.
Bearbeitete Ausgabe von 1960)


Tenzóne, f. (it. tenzone, tenza, prov. tenson, tensa, altfr. tenson, tence, Streit, Streitgedicht, v. prov. tensar, altfr. tencer, streiten, bestreiten, vertheidigen, neufr. tancer, ausschelten, l. gleichs. tentiare, v. tenere, tentum, festhalten, behaupten) Wechsel- od. Wettgesang, eine Gattung witziger poetischer Spiele bei den provenzalischen Dichtern.

(Joh. Christ. Aug. Heyse’s allgemeines verdeutschendes
und erklärendes Fremdwörterbuch. 16. Ausgabe 1879)

Im Jahre 2004 ersuchte der Deutsche Sprachrat um Meldung des schönsten deutschen Wortes. Aus 102 Ländern kamen 22.838 Vorschläge. Nicht Häufigkeit der Nennung entschied die Kür, sondern Triftigkeit und Schönheit der Begründung. Die von Doris Kalka eingebrachten Habseligkeiten mit der volksetymologisch gestützten Anmutung glückhafter Dürftigkeit wurden Sieger. Geborgenheit und das Verb lieben erreichten beim Ranking die Plätze 2 und 3.

Im Sonett »Gepreßt« begründete Matthias Koeppel seinen Vorschlag: Wurst. Datierend vom 11. September 2004. Also zu spät für den Einsendeschluß 1. August. »Gepreßt« rief allerdings die Sonetterzeugungs-»Engine« bei Klaus M. Rarisch auf. Kein Wunder: Dichtet er doch seit fünfzig Jahren Sonette. »Gebraten«, seine Replik, führte zu Antwort auf Antwort auf Antwort … eine Tenzone entspann sich und kam, gut ein Jahr später, am 16. November 2005 mit dem 64. Sonett zum Schluß: »Das Schiff legt an« von Matthias Koeppel.

Hatte dieser mit seinem Wurst-Vorschlag etwa andeuten wollen, das schönste deutsche Wort sei ihm wurscht? Das liefe auf Medien- oder gar Gesellschaftskritik hinaus. Stimuliert womöglich vom jedesmal wie neu erfunden entfesselten Hype um nationale Höchstrangigkeiten. Seit 2002 behauptet der Privatsender RTL: »Deutschland sucht den Superstar«. 2003 ging’s dem öffentlich-rechtlichen ZDF ein für allemal um »Die größten Deutschen«. Nun gut, wer’s braucht und wem das Guinness-Buch der Rekorde nicht reicht …

Folgerichtig greift Matthias Koeppel kurz vor Schluß der Tenzone den peinlich distanzlos formulierten Slogan »Du bist Deutschland« auf – einer vom 26. September 2005 bis zum 31. Januar 2006 in der Presse, im Fernsehen und auf Plakaten breit aufgedrängten Social-Marketing-Kampagne zu verdanken. Die ist wohl gemeint als Glückspille für den Volkskörper mit seinem anscheinend für reichlich infantil gehaltenen Gemüt. Quasi.

Zwischen Prunkwort und Jedermann, beide kerndeutsch, spannt sich Horizont, der als Wetterleuchten herzeigt, was als Weltreflex in Presse und Fernsehen widerscheint. Gleichsam am Himmel über einer Seelenlandschaft. Bereits im Gedichtband »Starckdeutsch« von 1976 hat Matthias Koeppel das für den vorliegenden Band praktizierte Verfahren skizziert: »Arpentz Arpentscheu oinschulltn; / dönn wür wulln onz onturhultn.« Daher die Motive der Sonette: Aufregung um Dosenpfand und die Sozialreform Hartz IV, Papstwahl und Papstwort zum Zölibat, Mord am Exzentriker Rudolf Moshammer, die unscharfe Bundestagswahl vom 18. September 2005 … hinein mischen sich Reflexionen hie zum Malen, hie zum Dichten.

Auf einer Bühne, einem Überbrettl geschehen die hier vorgelegten Sonette: Um Kunststücke geht’s. Das Format Sonett will diszipliniert erfüllt sein mit exakt gezählten Silben und sparsamem Reimschema. Ein Sonett von Robert Gernhardt zielt darauf: »so eng, rigide…«. Auch Karl Rihas Formel »so zier so starr so form so streng«. Was nicht darüber hinwegtäuschen sollte, daß die gut 750 Jahre alte Gedichtform imstande ist, alles auch heute Denk- und Vorstellbare zu »transportieren«. Selbstverständlich auch die Witze darüber.

Indiz für die Spielfreude, die dazugehört, wenn die Klinggedichte – so hieß es im Barock – tönen sollen, sind die auf mehr als einen Takt reimenden »reichen« Reime, von Klaus M. Rarisch »Am Stammtisch« (S. 10) vorbereitet, in »Herbstzeitlos« (S. 14) mit den Reimen auf Dosenpfand entschieden ins Spiel gebracht. Nach dem »Satansbraten« (S. 23) hielt dann auch Matthias Koeppel mit. Kein leichtes Spiel: Wie beim Kraftakt des Sonett-Marathons schließlich Erschöpfung sich einstellt, ist in »Kanzlersturz« (S. 67) zu sehen, kurz vor Schluß der Tenzone, wo der tragende Quartettreim beim ersten Vorkommen in gerade nur Vokalanklang verhaucht.

In poetologischer Hinsicht läßt die Entstehung der Tenzone an Arno Holz denken – auf S. 8 herbeibeschworen. Um 1900 herum betrieben er und um ihn versammelte Freunde in Berlin werkstattmäßige Gedicht-Produktion nach den Prinzipien der Holzschen Phantasus-Lyrik. Für seinen Phantasus-Zyklus hatte sich Arno Holz zum Ziel gesetzt, differenzierten Einblick in einen zeitgenössischen Bewußtseinsstrom zu geben. Mit der Bezugnahme auf Aktualitäten ist »Um die Wurst« nicht gar so weit davon entfernt. –

Während die Tenzone anwuchs, blieben fördernde Einreden und Zwischenrufe von dritter Seite nicht aus. Natürlich Sonette. Hier getreulich als Coda angehängt. Den unbeirrten Sonettisten Klaus M. Rarisch zum Siebzigsten wie auch seinen dichterischen Spießgesellen Matthias Koeppel grüßt aus …

… Hamburg, im Januar 2006

Robert Wohlleben

Postscriptum:

 

NIRRWANNANAR?

Ubb ück nn dnn Himmbul kummbe
odur nn di Hullen, –
Zappurmant, diss üsst diss Tumbe:
gorrnixx nöcht wüll ück nücht wullen.

Neicktar ont Ammprausiar
ont kein Ssöxxckz mm Himmbul!
Maucht drr Deifful – forchturpar –
Prattworschd oss min Pimmbul?

Ück geih ünz Nirrwannanar,
drünck durt Zöckkt ont Pilsunar
mütt Nirwannar-Neuxen;

duch drr HÖRRGUTT löchult muldd:
»Manschen snd min Eibnbulldt, –
duch darr geibbt’z auchch Heuxxen«.

Matthias Koeppels starckdeutsches Sonett (2002 in »Das Gedicht«, 9. Jg.) zeigt, daß der Maler nicht unvorbereitet in den Wettstreit eintrat. Bratwurst und Pils nehmen ein zentrales Thema der Tenzone »Um die Wurst« vorweg. Mit dem Reimschema à la sonnet licencieux und dem lockeren Wechsel vier- und dreihebiger Verse à la Chevy-Chase-Strophe entspricht das Sonett allerdings nicht ganz dem »strengen« formalen Anspruch, der in der Werkstatt der »Tenzonisten« Rarisch und Koeppel waltete. RW


 


 

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