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Kommentar
zu dem Sonett »Spinne weiblich« von Richard Klaus

Der Berliner Kritiker Heinz Ohff hat auf meine Bitte kürzlich die drei Sonette des vorstehend reproduzierten Triptychons, das ich ihm ohne Namensnennung der Sonettisten zusandte, den drei Autoren richtig zugeordnet. Daraufhin schrieb mir Richard Klaus am 4.12.1990 in dem Glauben, Heinz Ohff hätte ihn als Autor am Wortgebrauch erraten; als einziges charakteristisches Wort aus seinem eigenen Text zitierte Richard Klaus das »Lichtgeviert« aus Vers 10. Daran hatte Heinz Ohff den Autor allerdings nicht erkannt. Trotzdem ist »Lichtgeviert« das entscheidende Schlüsselwort, was jetzt demonstriert werden soll.

Die Analysemethode habe ich im Selbstkommentar zu meinem Buch »Die Geigerzähler hören auf zu ticken« entwickelt. Wenn diese Methode etwas taugt, muß sie auch auf die Sonette anderer Autoren anzuwenden sein. Richard Klaus ist dafür ein gutes Beispiel.

Mit »Lichtgeviert« meint der Autor ein (von innen) beleuchtetes Fenster. Demnach behandelt das Sonett die »Spinne am Abend«. Mein eigenes Parallelsonett thematisiert die »Spinne am Mittag«, wie der Titel besagt. Robert Wohlleben dürfte also über die »Spinne am Morgen« sonettiert haben. Bemerkenswert bei Richard Klaus ist aber nicht die Wortwahl als solche, sondern die entscheidende Bedeutung des Wortes für die Klanglichkeit der Verse. Entsprechend dem Thema »Spinne« nimmt der betonte i-Laut (sowohl kurz wie lang ausgesprochen) des Wortes Lichtgeviert in dem ganzen Sonett eine überragende Stellung ein:

Vers
V.
V.
V.
V.
V.
V.
V.
V.
V.
V.

1:
2:
3:
4:
5:
7:
9:
10:
11:
12:
13:

Windgeschaukelt
Zuversicht
irgendwann
siegessicher
sie
die
Sie
Lichtgeviert
schillernd
kriecht / still
tilgend

Die betonten i- und ie-Laute sind die dominierenden Vokale des Ganzen. Sie finden sich zweimal in einem einzigen Wort vereint (Vers 4 und 10), und genau diese beiden Worte enthalten im Kern, quasi wie in einem Stenogramm, die spezielle Auffassung des Autors vom Charakter der Spinne: Sie ist erstens siegessicher und bleibt es zweitens noch vor dem Lichtgeviert, also am Abend, d.h. ihre Siegessicherheit ist unerschütterlich, ist auch durch den Wechsel der Tageszeiten nicht im geringsten zu beeinträchtigen.

Außerdem schafft das zentrale Wort Lichtgeviert noch doppelte Alliterationen. Das L weist zurück auf »lauern« (Vers 9) und vor auf »Lust« (Vers 14). Da der Schlußvers 14 keinen i- bzw. ie-Laut aufweist, würde er klanglich isoliert dastehen und aus dem Sonett herausfallen, wäre nicht die konsonantische L-Verbindung zu Vers 10 vorhanden; insofern war also das Lichtgeviert unbedingt notwendig.

Nun kommt als Clou noch die zweite Alliteration hinzu: das v (klanglich identisch mit f) in Lichtgeviert weist zurück nach »Fäden fegt« (Vers 8), klammert also klanglich die Terzette noch enger mit den Quartetten zusammen. Vers 8 schließt die Ouartette ab und ist das genaue Pendant zu Vers 14, denn ohne die konsonantische f/v-Verbindung mit Vers 10 würde Vers 8 einen klanglich häßlichen Isolani darstellen. Somit ist das Wort Lichtgeviert der formale Dreh- und Angelpunkt des Sonetts, das sonst nicht klingen und wirken könnte und keinen ästhetischen Reiz hätte.

Noch einmal zurück zum Vokalismus. Sowohl die Quartette wie die Terzette bringen je 4 betonte i- und 3 betonte ie-Laute, sind also, statistisch betrachtet, identisch vokalisiert. Mit diesem symmetrischen Vokalismus wird aber die asymmetrische (auf den Proportionen des »Goldenen Schnitts« beruhende) Grundstruktur des Sonetts konterkariert. Dafür muß es einen ästhetischen Grund geben, eine Rechtfertigung, und die besteht ganz einfach in der Entsprechung zur symnetrisch-konzentrischen Grundstruktur des Spinnennetzes. Insgesamt bringt das Sonett 8 betonte i- und 6 betonte ie-Laute. Dies entspricht nun wiederum auf geheimnisvolle Weise den 8 Quartett- und 6 Terzettversen eines jeden Sonetts.

Diese Ergebnisse sind als objektive Befunde der Analyse erstaunlich. Ich bin überzeugt, daß der Autor all das weder zuvor geplant noch nachträglich bemerkt hat. Dennoch war in ihm ein Instinkt oder ein intuitives Gespür dafür angelegt, sonst hätte er unmöglich in seinem Brief an mich als einziges aus dem Sonett just das Schlüsselwort »Lichtgeviert« hervorgehoben, ohne ahnen zu können, wie ich darauf reagieren würde.

Der Sonettist Richard Klaus gleicht in der Tat der Spinne, die ihr Netz nicht nach einem vorgefaßten Plan baut und trotzdem ein Kunstwerk hervorbringt. – – – Der Sonettist Klaus M. Rarisch gleicht der Spinne darin, daß er, ohne getauft zu sein, doch vom Kreuz gezeichnet ist.

Klaus M. Rarisch

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Rechte am mitgeteilten Text bei Klaus M. Rarisch