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Epigonen und andere

 

Karl Heinz Schröter: Die Sekunde der Sanduhr.
Erich Perlwitz: Auch mir gehört die Erde nicht.
Karlheinz Herwig, Einsame Bäume heißen Allee.
Sämtlich in der Reihe »Schritte« (Nr. 1–3),
Berlin-Zehlendorf: Wolfgang Fietkau Verlag 1959 bzw. 1960.

So begrüßenswert an sich die Gründung eines Verlages wäre, der sich ohne Profitaussichten einzig das Ziel setzt, junge Autoren herauszubringen, so bedenklich muß es den Leser stimmen, wenn sich dabei unter der Maske des »gewagten Experiments« (so die Selbstcharakterisierung im Verlagsprospekt) christlich-konformistische Tendenzen breitmachen. Der junge Verleger Wolfgang Fietkau, im Hauptberuf Diakon, daneben Jugendgruppenleiter, Feuilletonredakteur der evangelischen Studentenzeitschrift »ansätze« und (unter dem Namen »Bruder Medardus«) Gelegenheitslyriker, hat seit Ende 1959 in der Reihe »schritte« drei Lyriker an die Öffentlichkeit gezogen, von denen der älteste (Jahrgang 1927) jedenfalls einem alles anders als »gewagten« Quietismus hemmungslos huldigt. Sein Name Erich Perlwitz ist vermutlich ein Pseudonym. Er darf vorläufig als der Rilke-Epigonen letzter gelten, ohne daß er aber seines Vorbildes »Weltinnenraum« auszufüllen willens und imstande wäre, denn »wenn Gott weg ist / kommt er immer ganz nah«. Ängstlich allem Lauten ausweichend, reimt und leimt er eine Welt zusammen, in der sich »Plasma stille Zellen baut«. Perlwitz macht angestrengt in Aussage, aber die Quintessenz seiner Verse bleibt gut gemeint: »Ich grüße auch jene nicht / die mit Erlaubnis morden«. Ob sich wohl »jene« viel daraus machen werden? Perlwitz begreift nicht, daß die Barbaren unserer Zeit sich durch christliche Demut nicht mehr irritiert fühlen, sondern eher bestätigt.

Karl Heinz Schröter, 25jähriger Feuilletonist am Sender Freies Berlin, schreibt auch seine Gedichte durchaus feuilletonistisch. Im Gegensatz zur Wahl seines romantischen Titelrequisits, der Sanduhr, zeichnet er flotte und wenig symbolbelastete Impressionen, die vor allem von Pariser Atmosphärilien leben. Die Monotonie seiner Syntax indessen ermüdet: in den 24 kurzen Gedichten des Bandes finden sich z. B. nicht weniger als 35 Imperativformen. Das wäre nur zu ertragen, geschähe sprachlich Außerordentliches – aber davon weit entfernt, gibt es die »ewige« Sonne, »sanfte« Rehe, eine »geschmeidige« Schlange, den »zarten« Seufzer, »weiche« Federn, einen »dünnen« Faden, die »feste« Erde, »kleinlichen« Neid und – last not least »morsche« Knochen! Derart mit überflüssigen und nichtssagenden Adjektiven vermauert, wird Schröters Sprache kaum jemals plastisch.

Durch absoluten Formwillen als Dichter legitimiert sich allein der 1932 geborene, ebenfalls in Berlin lebende Buchhändler Karlheinz Herwig. Er beherrscht »Wort« und »Gegenwort«; ohne seine eigentlichen Vorbilder Jakob van Hoddis und Georg Heym zu verleugnen, schreibt Herwig Lehrgedichte trotz Brecht – aber: mit zwei konträren »Anwendungen«, so daß seine Dialektik nicht der Erstarrung verfällt. Was er konstatiert (»existenz ist schmerz«), darf nicht als formelhafte »Aussage« mißverstanden werden, weil er den europäischen Dialog des Geistes genau an der Stelle fortführt, wo er heute angelangt ist. Sein Denken gestattet sich keinerlei Utopien mehr; so lautet denn seine Antwort an Camus: »es wird zerstört werden / sisyphus«. In seinen besten Gedichten gewinnt der Augenblick Ewigkeit, stellt der notwendige Rhythmus der Sprache die Sache selbst hin, sind Form und Inhalt identisch. Man prüfe daraufhin die folgenden Verse: »die stufen zur metro hinab / rollte der kopf des gottes« (sprachrhythmisch: stufenweise Bewegung abwärts) – „ein zug nahm ihn mit / hinaus nach vincennes« (rhythmische Parallelität: gleichmäßige Bewegung vorwärts) – »oder porte dauphine« (schwebende Akzentuierung: Ungewißheit über die Bewegungsrichtung) – »aus den schächten / dampft sein hirn«.

Um dieses einen Gedichtes willen hat sich die Existenz des Wolfgang Fietkau Verlags gelohnt.

Klaus M. Rarisch

Erschienen in Diskus (Frankfurt/M.), Nr. 5, 1961

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