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Amsel, Drossel, Fink und Star
Wolfdietrich Schnurres gesammelte Gedichte

Wolfdietrich Schnurre:
Kassiber und neue Gedichte.

München: Paul List Verlag 1979

Als Sechzigjähriger darf auch ein Autor wie Schnurre, der eher durch Proaarbeiten bekannt geworden ist, auf Resonanz rechnen, wenn er seine gesammelten Gedichte vorlegt. Der solide wirkende Band enthält in chronologischer Folge Stücke aus den Jahren 1945 bis 1979: je zur Hälfte die schon bekannten, 1956 (in erweiterter Ausgabe 1964) unter dem Titel »Kassiber« erschienenen und ca. 60 neuere Gedichte, die aber das Bild des Lyrikers Schnurre kaum modifizieren können. Daß er in den späteren Texten häufig in den chinesischen Ton (nach dem Vorbild Brechts) und die jüdische Gebärde (nach dem Muster Celans) verfällt, ist nicht mehr als modische Attitüde.

Schnurre mußte den Zweiten Weltkrieg als Soldat mitmachen und hat danach die Gruppe 47 mitbegründet. Als typischer Vertreter dieser inzwischen allmählich verblassenden Schriftstellergeneration zeigt er auch in seinen Gedichten eine antimilitaristische und zuweilen pazifistische Haltung, die ja mangels stilistischer Gemeinsamkeiten das einzig Verbindende und Verbindliche innerhalb der 47er darstellte, nachdem der hohle Stahlgewitter-Heroismus ihrer Vorgänger, etwa eines Ernst Jünger, abgewirtschaftet hatte.

Das politisch schwankende Bewußtsein der Nachkriegsautoren offenbart Schnurre in drei aufeinanderfolgenden Gedichten seines Bandes: »Lied, auf Ahasver zu singen« (S. 26 f.) - ein pseudoreligiöses Schuldbekenntnis; »Kassiber« (S. 28) - ein pazifistisches Statement; »Schwur« (S. 29) - ein toleranzverneinender Rachegesang. Von der falschen Ideologie der Gruppe 47 dagegen, von den Stunde-Null- und Kahlschlagphrasen, ist bei Schnurre nichts zu spüren. Im Gegenteil: er kultiviert bis zum heutigen Tage einen speziellen Zweig jener nach 1945 modischen Naturlyrik, wie sie bis ins unfreiwillig Komische von Wilhelm Lehmann und Dutzenden minderer Geister damals getrieben wurde (Gottfried Benn hatte sie als »Bewisperer von Nüssen und Gräsern« ironisiert). Schnurre nun ist weniger auf die Flora als vielmehr auf die Fauna fixiert, schöpft kaum aus dem botanischen, aber um so heftiger aus dem zoologischen Reservoir und dabei ganz besonders aus der Vogelwelt. Der Quietismus der Nachkriegslyriker jedenfalls findet hier noch ein Echo: Schnurre will »eine Stimme der Lautlosigkeit sein« (S. 17) und fühlt sich »Umjubelt / von Sprachlosigkeit« (S. 183).

Er nennt in seinen Gedichten nicht weniger als 58 Vogelarten vom Aasgeier über die Lerche und Nachtigall bis zum Ziegenmelker beim Namen, darunter die meisten mehrmals, an der Spitze (auf zehn Seiten!) die Taube, deren pazifistischer Symbolgehalt seit der Bibel bis Picasso fast zwanghaft bestätigend. Auf der Suche nach einer zeitgenössischen Parallele in der Musik denkt der Leser unwillkürlich an die ermüdenden VogeI-Kataloge in den naturmystischen Klavierwerken Olivier Messiaens, mit dem Schnurre eine gewisse Naivität verbindet.

Naiv etwa ist Schnurres »Befragung des Kalks«, mit dem die Massengräber abgedeckt werden: »Du bist doch so mutig gewesen. Und nun der feige Betreuer offener Gräber« (S. 96). Also eine Lyrik für betuliche Ornithologen? Doch nicht ganz. Die Gefiederten, Geflügelten und Geschnäbelten zeigen bei Schnurre vor allem ihre Krallen, stehen in seinen Gedichten als Chiffren für das Bedrohliche, Todbringende. Das reicht von der untersten Stilebene, wie sie jeder aus Hitchcocks Gruselfilm »die Vögel« kennt, bis ins Mythologische, wenn Schnurre Harpyien erwähnt, und bis in den metaphorischen Bereich, etwa durch »geschnäbelte Augen« (S. 30), ein »Schabelstilett« (S. 33), »gefiederte Schlangen« (S. 62) oder - überdeutlich - durch den »Vogel Untergang« (S. 51) sowie nach surrealistischer Tradition in der Bildfügung »Vögel, in deren durchsichtigen / Kröpfen sich Embryos krümmen« (S. 111) umschrieben.

Eines der längsten Gedichte des Bandes heißt »Ansprache des Vorortpolizisten während der Morgenrunde« und drückt schon im Titel die Distanz aus, die den Verfasser von der Aufbruchsgeneration des Jahres 1968 trennt, die der Staatsmacht kaum so viel Menschenfreundlichkeit in den Mund gelegt hätte. Schnurre weist dann mit gutgemeintem Zeigefinger auf die anthropologisches Unheil überwindendende Kreatürlichkeit der Flugfähigen: »Siehe die Vögel; / sie nisten in den Kanonen, / die auf den Schrotttplätzen stehen / und singen im Frühling. / Was wollen wir denn.« (S. 30 f.) - Schnurres Leser, auch wenn sie für den Vogelgesang nicht taub sind, wollen vermutlich mehr. Ob sie es erreichen werden, hängt nicht zuletzt vom Bewußtseinsstand der literarischen Prominenz und damit auch Schnurres ab.

Wie sehr Schnurre von romantischen Requisiten zehrt, zeigt seine Metapher »der Tod, / das falbe Käuzchen« (S. 85) und bis zum Überdruß deutlich seine »Elegie« an den Tod (S. 97 ff.), der in allen möglichen Vogelgestalten erwartet wird. Als fast peinliche Hitchcock-Paraphrase erweist sich »Der Erwählte« (S. 153), ein Ornithologe, der von seinen Lieblingstieren getötet wird: »Da bricht der Zerkrallte zusammen. / Jubelnd, um einen Märtyrer reicher, / stieben die Vögel davon.« Als unfreiwilliges Fazit des ganzes Bandes kann eine auf die Vögel bezogene Strophe desselben Gedichtes gelten: »Sie sind begeistert. So ist die / Vogelwelt noch nie dargestellt worden.«

Klans M. Rarisch

die horen, Nr. 120 (1980)



 


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