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Ein unterschätzter
deutscher Lyriker

Über Friedrich Rückert (1788–1866)

Friedrich Rückert

Von Klaus M. Rarisch


Ein 1838 entstandenes Gedicht mit dem Titel »Ein Flegel« lautet:

 

Ein Flegel ist mir ins Haus gekommen,

 

 

Hat auf mein Sofa sich hingedehnt,
Sich gestreckt und mich angegähnt,
Und ich hab’s ihm nicht übel genommen.

 

Ich freute mich selbst der werten Bekanntschaft,

 

Beim Abschied, hergebrachterweise;
Wie wenig ich fühlte Herzverwandtschaft,
Ließ ich ihn auch nicht merken leise.

 

Nun geht der Mensch, und ungescheut

 

Rezensiert er mich vornehm und scharf;
Der rechte Lohn, den er mir beut,
Darüber ich nicht klagen darf!
Aber es hat mich doch gereut,
Daß ich ihn nicht von der Treppe warf.

Das Sonett, insbesondere der Schlußvers, erinnert an ein anderes Gedicht, das jedem Musikfreund in der witzigen Vertonung von Hugo Wolf wohlbekannt ist. Hier zum Vergleich der Wortlaut:

 

Unangeklopft ein Herr tritt abends bei mir ein:
»Ich habe die Ehr’, Ihr Rezensent zu sein.«
Sofort nimmt er das Licht in die Hand,
Besieht lang meinen Schatten an der Wand,
Rückt nah und fern: »Nun, lieber junger Mann,
Sehn Sie doch gefälligst ’mal Ihre Nas’ so von der Seite an!
Sie geben zu, daß das ein Auswuchs is.«
– Das? Alle Wetter – gewiß!
Ei Hasen! ich dachte nicht,
All mein Lebtage nicht,
Daß ich so eine Weltnase führt’ im Gesicht!!

Der Mann sprach noch Verschiedenes hin und her,
Ich weiß, auf meine Ehre, nicht mehr;
Meinte vielleicht, ich sollt’ ihm beichten.
Zuletzt stand er auf; ich tat ihm leuchten.
Wie wir nun an der Treppe sind,
Da geb’ ich ihm, ganz froh gesinnt,
Einen kleinen Tritt,
Nur so von hinten aufs Gesäße, mit –
Alle Hagel! ward das ein Gerumpel!
Ein Gepurzel, ein Gehumpel!
Dergleichen hab’ ich nie gesehn,
All mein Lebtage nicht gesehn,
Einen Menschen so rasch die Trepp’ hinabgehn!

Formal unterscheiden sich die beiden Texte in denkbar krassestem Maße: Das konzentrierte Sonett ist als innerer Monolog auf die Pointe des Schlußverses hin gearbeitet; diese Pointe jedoch, weit davon entfernt, in die Tat umgesetzt zu werden, bleibt nur ein frommer Wunsch, ein reuevoller Gedanke, ein resigniertes Unterlassen. Demgegenüber steht das zweite Gedicht in freien Rhythmen, simpel gereimt, in salopper Sprache mit Dialektfärbung (»is«) und possierlich wirkenden Interjektionen (»Ei Hasen«, »Alle Hagel«), dieselbe Situation breit ausmalend und dialogisierend, in Form einer komischen kleinen Szene, weshalb der Text auch Hugo Wolf zur Vertonung gereizt hat. Vor allem aber hat das zweite Gedicht die Wunschvorstellung des ersten in drastisch effektvolle Handlung überführt und das erste damit quasi überholt.

Zwei Dichter, zwei Temperamente! Der robust und schadenfroh Handelnde ist Eduard Mörike (1804–1875), der reuevoll Resignierende Friedrich Rückert (l788–1866). Der Titel von Mörikes Gedicht, »Abschied«, weist direkt auf Vers 6 des Rückert-Sonetts zurück. Ob der 16 Jahre jüngere Mörike das Sonett von Rückert kannte, mögen Germanisten herausfinden; ich bin nur ein Normalleser. Jedenfalls hat Mörike den Älteren hochgeschätzt, wie aus der Fußnote zu seinem Gedicht »Apostrophe« hervorgeht: »Auf eine geistlose Nachahmung Rückert’scher Gedichte.« Wenn Mörike selbst hier Rückert nachgeahmt hat, so gewiß in geistreicher Weise. Zu konstatieren bleibt die Tatsache, daß ein populäres Gedicht ein unbekanntes verdrängt hat.

Der biedermeierlich professorale Philologe und Orientalist Friedrich Rückert, dem u. a. Platen die Anregung verdankte, die vollkommensten Ghasele in deutscher Sprache zu schreiben, hat als Lyriker vor allem durch Liedkompositionen seiner Gedichte überlebt; Schubert vertonte von ihm fünf Lieder (u. a. »Du bist die Ruh«), und Gustav Mahler wählte Rückert als einen seiner Lieblingsdichter: »Um Mitternacht«, »Ich bin der Welt abhanden gekommen«, »Blicke mir nicht in die Lieder«, »Ich atmet’ einen linden Duft« und eine Auswahl von fünf – aus ingesamt 114 (!) – »Kindertotenliedern«. Wie Rückert von späteren Dichterkollegen beurteilt wurde, zeigen die beiden ihm gewidmeten Achtzeiler von Arno Holz (aus dem »Buch der Zeit«, 1885):

 

An Friedrich Rückert

Du warst im Leben Untertan und Christ
und mehr als einmal auch ein Erzphilister,
drum trauern, daß du schon gestorben bist,
noch heute alle Unterrichtsminister.

Denn lebtest du noch, dich ernannten sie,
ich schwörs bei allen abgehaunen Zöpfen,
zum Mandarin der deutschen Poesie,
zum Mandarin mit dreizehn Knöpfen!

An den selben

Und doch! So längst du auch gestorben,
du reimtest sicher hierauf Sorben,
um eins ist dir noch jeder hold,
um dein »Bäumlein, das andere Blätter gewollt«"!

Trotz unsern allerbesten »Schwänen«,
nach ihm wird oft das Herz mir weit.
Auch rührt noch immer mich zu Tränen
dein Wunder, »Aus der Jugendzeit«!

Das von Holz neidlos als »Wunder« anerkannte Gedicht »Aus der Jugendzeit« dürfte bis heute das populärste von Rückert geblieben sein. Dieser unerhörte Vielschreiber steht mit seinem unübersehbaren Riesenwerk der eigenen Wirkung im Wege, denn welcher Leser hat schon die Zeit, aus dem Heuhaufen der politisch-patriotischen »Geharnischten Sonette«, der didaktisch orientalisierenden Reimklingeleien die raren Stecknadeln der Vollkommenheit herauszusuchen?

Ich besitze Rückert zwar nur als »Volksausgabe«, aber schon die umfaßt ca. 3000 engbedruckte Seiten Poesie! Ihr Herausgeber Conrad Beyer hat nach eigener, heutzutage gänzlich verpönter Bekundung sein »Strebens- und Lebensziel in erster Linie einem verständnisvollen Rückertkultus uneigennützig geweiht«. Welcher Literaturwissenschaftler unserer Zeit würde einen so eklatanten Mangel an »Objektivität« und »kritischer Distanz« eingestehen?

Seinen Dichter charakterisiert Beyer mit schlichteren Worten: »Er war Feind alles hohlen Pathos, er heuchelte keine ihm fremden Gefühle.« Betrachten wir daraufhin ein kleines Gedicht von Rückert, das dieses Urteil rechtfertigt. Es stammt aus der Sammlung »Haus und Jahr« und ist zwischen 1834 und 1837 entstanden.

 

Was mich regt, rührt euch nicht an,

 

 

Und mich drückt nicht, was euch plagt;
Ich hab’ euch umsonst geklagt,
Ihr habt nichts für mich getan.

 

Ich ein Gast in dieser Zeit,

 

Ob zu früh, zu spät gekommen,
Weiß ich nicht, doch weit, weit, weit
Bin ich meinem Platz entnommen.

 

Die mich hören und verstehn,

 

Sind entweder schon dahin,
Oder wann sie einst erstehn,
Ach daß ich dann nicht mehr bin.

Die einfachen Reime, umschlingend in der ersten, kreuzweis in der zweiten und dritten Strophe, bieten nichts Auffälliges. Das metrische Schema, vierfüßige Trochäen, ist denkbar simpel. Mit Ausnahme von Vers 6 und 8 enden alle Zeilen mit »männlich« tontragenden Silben, was eine lakonisch-lapidare Wirkung ergibt. An einer einzigen Stelle (Vers 10, »entweder«) wird das starre Metrum rhythmisch gemildert, aber diese fast unhörbare Tonbeugung ist dazu angetan, die folgende Alternative bedeutungsschwer zu unterstreichen. Die Vokalfolge ist höchst kunstvoll gewählt: Von den 48 betonten Silben lauten 14 (ca. 29 %) auf i, 10 (ca. 21 %) auf a. Die Häufigkeit aller anderen vorkommenden Vokale ist demgegenüber unbeachtlich. Von Strophe zu Strophe ändert sich das Verhältnis der tontragenden Vokale (a zu i) zuungunsten des a (Strophe I: 6 zu 4, II: 2 zu 4, III: 2 zu 6). Das offene a steht im Widerstreit zu dem verengendspitzigen i, wird mehr und mehr zurückgedrängt und verliert den Kampf schließlich. Das entspricht genau der sich von Strophe zu Strophe wandelnden Gemütslage des Dichters, der in einem sich sukzessive verschärfenden Kontrast zur Umwelt, zu den anderen steht. In allen drei Phasen obsiegen die gleichmäßig verteilten Negationen (Strohe I, Vers 4: »nichts«; II, 3: »nicht«; III, 4: »nicht«) – wobei selbstverständlich, wie immer, alle metrisch unbetonten Silben nicht mitzählen; es sind dies die beiden »nicht« in Vers l und 2. Zu den Geheimnissen bewußt gestaltender Metrik gehört es ja gerade, die Negationen je nach Bedarf zu betonen oder unbetont zu lassen, weshalb der expressionistische Theoretiker Herwarth Walden dem bekanntesten Gedicht von Heinrich Heine, der »Lorelei«, den berechtigten Vorwurf machte, der Dichter habe im Anfangsvers »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten«, das »weiß« betont und das »nicht« unbetont gelassen, wogegen ja Heine gerade umgekehrt ausdrücken wollte, daß er nicht wisse, was es bedeuten soll. Man vergleiche damit die »richtige« Tongebung bei Rückert, Vers 7.

Auch mit seiner Wortwahl bleibt Rückert schlicht und unauffällig, wenigstens auf den ersten Blick. Aber bei näherem Hinsehen bringt schon Vers l etwas Besonderes: »regt«. Meint der Dichter damit »anregt« oder »erregt« oder »aufregt«? Meines Erachtens deckt die geniale Vereinfachung »regt« alle drei Bedeutungsebenen ab. Ähnlich klingt in Vers 3 mit dem »geklagt« zugleich das schärfere »angeklagt« mit. Die Anklage wird ja sogleich im folgenden Vers 4 formuliert: »Ihr habt nichts für mich getan.« Man mag sich fragen, mit welcher Berechtigung der Dichter hier von anderen verlangt, sie sollten etwas für ihn tun.

Der Vers ist der kunstvoll indirekte (und deshalb auch nicht peinlich wirkende) Ausdruck eines gesunden Selbstbewußtseins des Poeten Rückert, der eben in der Gewißheit, selbst etwas Besonderes zu sein, von anderen Besonderes verlangen kann. Dieses Selbstbewußtsein steigert sich in Vers 7, vokalisch wohlvorbereitet durch das »ei« im Wort »Weiß«, zu dem dreifachen »weit«, das die Distanz des Dichters zur Umwelt zum höchstmöglichen Ausdruck komprimiert, zum expressiven Schrei, der dringendst nach Musik verlangt: man denkt unwillkürlich an das mehrfach wiederholte »ewig« am Schluß von Mahlers »Lied von der Erde«. – Von größter Expressivität ist wieder das »entnommen« in Vers 8: bedeutet es doch zugleich, daß Rücken sich sowohl deplaciert als auch der Welt enthoben, »abbhanden gekommen« fühlt.

Wie künstlerisch anders nicht möglich, bringt Strophe III die Kulmination. Man beachte bereits in Vers 9 das bewußt betonte »und«: Es genügt dem Dichter nicht, gehört zu werden, er will auch und vor allem verstanden werden. Vers 10 und 11 formuliert sodann Ungeheures, wenn man den christlichen Hintergrund Rückerts bedenkt: die ihn verstehen könnten,

 

Sind entweder schon dahin
Oder wann sie einst erstehn …

Das altertümlich anmutende »wann« bedeutet gleichzeitig: falls, sofern, sobald und wenn; es ist viel stärker als ein simples »wenn« und zugleich für den oben erläuterten Vokalgebrauch des »a« unentbehrlich. Das »erstehn« kann nicht anders als im Sinne von »auferstehen« gedeutet werden. An der Auferstehung aber, die dem Kirchenchristen quasi offiziell garantiert wird, äußert Rückert seine durch das »wann« verschlüsselten Zweifel, die mit dem Schlußvers offenbar werden:

 

Ach daß ich dann nicht mehr bin.

In auffälligster Weise springt dieser Schluß aus dem Kontext heraus; es fehlt ihm die grammatisch korrekte Verknüpfung zum Vorangegangenen (diese könnte etwa lauten: »Muß ich bedauern, daß ich dann nicht mehr bin«). Logisch betrachtet, bedeutet dies aber: Wenn die anderen auferstehen, werde ich nicht mehr sein; ich als Dichter werde nicht auferstehen, was auch die anderen glauben oder hoffen mögen.

Dieses zugleich religiöse und religionsphilosophische Gedicht hat Rückert nicht etwa »Tod und Verklärung« oder »Auferstehen und Zugrundegehen« betitelt, sondern in biedermeierlicher Untertreibung als »Eine Anwandlung von Unmut und Kleinmut«. Man stelle sich vor, welche Kübel von Hohn und Spott sich über einen zeitgenössischen Lyriker ergießen würden, der solche Verse mit solchem Titel zu veröffentlichen wagte! Ich stehe nicht an festzustellen, daß ich Rückert um dieses »Wunder« von Gedicht nur beneiden kann.

Erschienen in
die horen, Bd. 137, I/1985



 


Rechte bei Klaus M. Rarisch