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Vierzehnmal vierzehn Zeilen
Zu Text- und Bild-Sonetten
von Karl Riha

Karl Riha: so zier so starr – so form so streng

Karl Riha:
so zier so starr – so form so streng
14 text- und 9 bildsonette
Pendragon-Verlag, Bielefeld 1988
(pendragon’s parade: 4)
32 ungezählte Seiten

Von Klaus M. Rarisch


Seit am 22. August 1979 die FAZ ein »Anständiges Sonett« druckte, begann eine als antiquiert geltende Gedichtform wieder salonfähig zu werden. Zwei Jahre später erschien der erste Gedichtband der Autorin in der Deutschen Verlags-Anstalt, die mit dem Frankfurter Zentralorgan »kommerziell aufs Innigste verknüpft ist – der Verlag gehört zu zwei Dritteln der FAZ« (Jürgen Lodemann in »text + kritik«, Heft 100 / Oktober 1988, S. 40). Die Anständigkeit der Dichterin soll hier nicht bezweifelt werden, nahm sie doch keinen Anstand, sich von Marcel Reich-Ranicki und seinen journalistischen und professoralen Komplicen auf den verwaisten Thron der Ingeborg Bachmann hieven zu lassen. Jeder kennt die anständige Poetin. Aber was ist ein Sonett?

Zwei Menschen, A und B, schieben Holzfiguren auf einem Brett hin und her. Zwei andere, C und D, sehen zu: C ist fasziniert und harrt als Kiebitz stundenlang aus, D ist gelangweilt und geht nach drei Minuten kopfschüttelnd von dannen. Diese gegensätzlichen Verhaltensweisen sind nicht etwa in den Charakteren von C und D begründet, sondern beruhen auf der vorhandenen bzw. fehlenden Kenntnis der Spielregeln. Also was ist ein Sonett?

Hier erteilt der Siegener Literaturwissenschaftler (und Poet dazu) Karl Riha mit 14 Text- und 9 Bild-Beispielen vergnüglichen Nachhilfeunterricht: »auch dieses sonett hat ...«, wenn man eine lettristisch wirkende Buchstabenanhäufung als Akrostichon entziffert, »vierzehn zeilen«. Auch alle anderen Textmuster Rihas haben 14 Zeilen. Gleich eingangs, im »programm-sonett 1«, wird diese Wahrheit unverhüllt ausgesprochen und um ein zweites Strukturprinzip erweitert: Das Sonett «besteht / aus vierzehn zeilen, die sich auf zwei quartette und / zwei terzette verteilen«.

Dieser sonettbezogene Sonettinhalt, man kann es nicht nachdrücklich genug konstatieren, hat fundamentale Bedeutung, denn, wie Riha an gleicher Stelle doziert: Das Sonett »ist eine besonders strenge form und deshalb gegen / belanglose inhalte besonders empfindlich«. Die damit festgelegte äußere Strophengliederung (4 + 4 + 3 + 3 = 14) hält Riha eisern bis zum Schluß durch, um das Strenge und Starre der Form anschaulich zu machen. Damit der Leser das Wichtigste nicht etwa vergißt, werden im weiteren Textverlauf die Zeilen zweimal (im programm-sonett 3 und im schluß-sonett) von 1 bis 14 durchgezählt. Ein anderer Text ermahnt den Leser: »zeile für zeile lies mit weile«, und aus didaktischen Gründen ergeht diese Mahnung unverändert vierzehnmal. Die bittere Wahrheit dabei liegt im Titel: »sonett für leseratten«, denn der »sonettenwut« des Produzenten muß eine veritable Lesewut des Konsumenten entsprechen, um die unerbittliche Monotonie erträglich zu finden.

Wird ein ernster Inhalt in eine unangemessene Form gekleidet, spricht der Poetologe von Travestie. Insofern drei der Beispiele (programm-sonett 1, zeitungs-sonett 1 und 2) den Jargon der Wissenschaftsprosa – bis hin zur Kritischen Theorie und deren Repräsentanten Adorno, Horkheimer und Marcuse – in die Sonettform kleiden, liegen Travestien vor, wobei es gleichgültig ist, ob die Texte Zitate sind oder von Riha selbst formuliert wurden, weil seine kreativ-erhellende Leistung eben in der 4–4–3–3-Schematisierung besteht. Indem er aber eine beliebig gewählte, rhythmisch amorphe Prosa willkürlich in scheinbar lyrische Zeilen zerhackt, geht er über die Travestie hinaus und liefert zugleich Parodien auf eine weitverbreitete Art von Pseudo- und Modelyrik.

Einen sportiven Kraftakt auf der Ebene konkreter Poesie vollbringt Riha mit dem »sonett für tischtennisspieler«, das lediglich aus der gegliederten Abfolge der Ballaufschlagsgeräusche ping und pong besteht. Hier widerspiegelt die Zeilen- und Strophenzäsur nämlich den Spielverlauf und determiniert sogar den Gewinner: der Leser mag selbst nachzählen, ob Herr Ping oder Herr Pong die meisten Bälle im gegnerischen Feld placiert bzw. wer von beiden die wenigsten Bälle verschlagen hat. Das Sonett ist jedenfalls als Lebenshilfe zur Freizeitgestaltung zu verstehen und offensichtlich für Leseratten bestimmt, die das Motto »mens sana in corpore sano« beherzigen wollen.

Von den 14 Mustern des Bandes sind, sicher nicht zufällig, nur 7 gereimt. Erst mit Reim und Metrum, mit deren mehr oder weniger kunstgerechter Instrumentalisierung, wird die poetische Dimension des Sonettierens tangiert. Offenbar hat sich Riha hier eine verständliche Zurückhaltung auferlegt, um den durch das oben erwähnte Anständigkeitssyndrom gewiß schon vorbelasteten Leser nicht zu überfordern.

Das Metrum, meistens vierfüßige Jamben, ist bei Riha etwas kurzatmig, aber damit seiner didaktischen Absicht adäquat. Die Reimstruktur bietet sich auffällig simpel dar: fünf der sieben gereimten Texte präsentieren die Quartette im Schema aabb/ccdd. Nirgendwo versteigt sich Riha zu der klassischen Hauptvariante abba/abba. Daß er mehr zu leisten vermag, zeigt das »sing-sang-sonett« mit seinen Doppel- (Binnen-) Reimen und der »starck-« oder neudeutschen, barockisierenden Sprachfärbung (eine literarhistorische Anspielung auf die dominierende Stellung des Sonetts im Barock).

Indem Riha sich mit der lockeren Fügung der Quartette vom strengen Formideal der Klassik dispensiert und distanziert, offenbart er nur, daß er die Lyrik-Rezipienten hier und heute realistisch einschätzt. Bevor ein Schachspieler Meisterwürden erlangen kann, müssen ihm die Grundregeln in Fleisch und Blut übergegangen sein; nichts anderes gilt beim Sonettieren. Die Feinheiten der Eröffnungs- und Endspieltheorie sind ein zweiter Schritt, den niemand vor dem ersten tun kann.

naturform des sonetts nach l. Rihas Sonett-Poetik wendet sich an Anfänger. Deshalb sind auch seine »Bildsonette« Fibelillustrationen für Abc-Schützen; am plausibelsten wirkt die »Naturform«: ein herbstlicher Zweig mit zweimal vier und zweimal drei Blättern. Das Bild wird mit einem Text konfrontiert, dem »herbst-sonett«, das zwar auch die Blätter am Baum zählt, dabei aber nur bis zwölf gelangt. Blatt 13 und 14 sind verlorengegangen – Symbol für den herbstlichen Verfall verdorrter Strukturen. Was man, soweit von Anständigkeit nicht angekränkelt, vermißt, ist der Mensch Riha hinter der Maske, die er sich als »wilder sonettist / sonetteur / sonettast / sonettant« vorgebunden hat. Im »abschieds-sonett«, einer wüsten Frauenbeschimpfung, spielt Riha den Super-Macho, der er privat gewiß nicht ist. Und im »schluß-sonett« liefert er eine Selbstkritik, der nichts hinzuzufügen ist: die 14 Zeilen wissen nichts voneinander, eine ist der andern gegenüber blind, taub und stumm. Die poetische Sphäre, die zu erreichen die Kraftanstrengung des Sonettierens erst rechtfertigen würde, bleibt ausgespart. Der Literaturprofessor meint das Sonett als Idealtypus und charakterisiert damit sich selbst als Poeten, der er doch auch ist. Merke: Zeilen sind noch keine Verse.


die horen, Bd. 153/1989, S. 231 ff.

Rechte bei Klaus M. Rarisch