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GENIE UND FLEISS

Rolf Paulus:
Lyrik und Poetik Karl Krolows 1940-1970. Produktions�sthetische, poetologische und interpretatorische Hauptaspekte seines �offenen Gedichts�. Mit einer bibliographischen Dokumentation der Ver�ffentlichungen Karl Krolows (Lyrik, Prosa, Aufs�tze, Rezensionen, �bersetzungen)
Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1980 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- u�d Iiteraturwiseenschaft, Bd. 301), XVII, 706 Seiten.

Die 1980 erschienene Dissertation bringt nicht weniger als 2428 Nachweise von Ver�ffentlichungen eines einzigen deutschen Dichters. Da der Dichter noch lebt, steht zu hoffen oder zu bef�rchten, je nachdem, da� diese imposante Liste noch wachsen wird. Flei�ig ist unser Dichter also, und das hat ihm Ruhm eingetragen hierzulande, wo man mit Flei� alles schafft, seit die alten Germanen sich aus ihren B�renh�uten wickelten. Ob aber Quantit�t auch fehlende Qualit�t ersetzen kann? Arno Holz, der doch unsern Dichter noch gar nicht gekannt hatte, verneinte diese Frage:

 

�Genie ist Flei�.�
Gewi�. Ich wei�.
Doch trotzdem: Nie
ist Flei� Genie!

Unser Dichter ist zugleich ein flei�iger Kritiker und hat in zahllosen Artikeln im Tonfall altmeisterlicher �berlegenheit andere Autoren wie Sch�ler besprochen, darunter den Verfasser dieser Zeilen, der den Spie� heute umdreht. Der flei�ige Altmeister ver�ffentlichte 1993 unter dem Titel �Nachtwachen" das folgende Gedicht *):

1




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Nachtwachen stehn und warten.
Keiner kommt aus dem Haus.
Das war so sch�n beleuchtet.
Keiner kommt da heraus.

Die runden Schultern von Frauen
verblassen als Photographie.
Keine von ihnen zeigt sich,
und keiner erwartet sie.

Das Leben ist ernst. Das Entkommen
bei entsichertem Gewehr
ist hoffnungslos. Und die Wachen
wissen von niemand nichts mehr.

Sie haben ihren Auftrag
und sie haben ihr Gewehr.
Die ungeduldigen Rosen
von fr�her besagen nichts mehr.

Auf den ersten Blick wirkt das ansprechend schlicht. Die Reime sind denkbar simpel, der dritte (Gewehr/mehr) wird sogar wiederholt. Die Wortwahl ist um Zeitlosigkeit bem�ht; nur mit �Photographie� wird ein diskreter Hinweis auf N�he zur Gegenwart gegeben; diskret deshalb, weil ja auch das l�ngst nicht mehr �modern� ist, seit schon bei Ibsen ein Photograph als Dramenfigur auftritt. Auf den zweiten Blick scheint der Text mit der doppelten Negation �von niemand nichts� in bewu�ter Naivit�t einen Volksliedton anzuschlagen. Die Schlu�verse 15/16 geben sich bedeutend. Lapidar. Vielsagend (gerade weil der Text gegenteilig lautet: �besagen nichts mehr�) . Der Leser soll sich sagen: Da� die Rosen offenbar fr�her etwas besagten, ist mir zwar egal, aber nicht dem Dichter, der das als Katastrophe empfindet; er ist mir in seiner feineren Sensibilit�t weit �berlegen, wie es sich f�r einen Dichter geh�rt - bravo! Es ist wie in der Nummernoper, wo die stereotypen Kadenzen am Schlu� jeder Arie geradezu reflexartig den Beifall des Publikums herauskitzeln. Das Gehirn wird ausgeschaltet; der Leser kommt gar nicht mehr auf die Idee zu fragen, was denn die Rosen mit der Situation zu tun haben, die in den Versen 1 bis 14 geschildert wird. Dabei l��t sich durchaus eine Verkn�pfung finden: Vers 15, �ungeduldig� - im Gegensatz zu den Rosen, die aufs schnelle Verbl�hen angelegt, quasi �ungeduldig� sind, kann den Wachen unerm�dliche Geduld zugedacht werden. Zudem haben die Schlu�verse noch eine poetologische Nebenbedeutung. Es tauchen z. B. in Benns Lyrik immer wieder Rosen auf, etwa in den Gedicht �Letzter Fr�hling�:

 

dann tragen dich vielleicht die Stunden
noch bis zum Juni mit den Rosen hin.

Benn empfiehlt hier einem Sterbenden Geduld, dessen Tod sozusagen �ungeduldig� von den Rosen erwartet wird. Unser Autor nun h�lt die Bennsche Metaphorik f�r �berholt, f�r nichtssagend, und distanziert sich heftig:

 

Die ungeduldigen Rosen
von fr�her besagen nichts mehr.

In seinem Wahn, Benn weit �berlegen zu sein, geht unser Autor selbst so ungeduldig vor, da� er gar nicht merkt, wie schwach er hier zweimal mit �mehr� reimt, denn in beiden F�llen (Vers 12 und 16) m��te der Hauptton in nat�rlicher Sprechweise auf �nichts� liegen, nicht auf �mehr�. Nur der unregelm��ige Rhythmus, der in den beiden Versen offenbar daktylische Struktur hat, zwingt zur Betonung auf �mehr�. Der intendierte Volksliedton ist also gegenl�ufig zum nat�rlichen Sprachrhythmus, wie auch Vers 11 zeigt:

 

ist hoffnungslos. Und die Wachen

Ich habe hier die Silben unterstrichen, die im nat�rlichen Rhythmus unbedingt und ausschlie�lich betont werden m�ssen. Wer aber das ganze Gedicht laut liest, wird feststellen, da� das rudiment�r metrische Grundmuster, gerade weil es auch von den wenigen Reimen mitkonstituiert wird, dazu zwingt, hier auch das �Und� mit einem (Neben-)Ton auszusprechen. Das �Kantable� dieser Verse liegt offenbar darin, da� die Betonungen keineswegs immer (und wenn doch einmal, dann mehr zuf�llig) mit der sinngem��en, sinngebundenen und sinnad�quaten Akzentuierung zusammenfallen, wie sie sich aus dem nat�rlichen Rhythmus erg�be. Diese Beliebigkeit und Willk�r pr�destiniert solche Gedichte dazu, �vertont� zu werden. (Was Arno Holz mit seiner Forderung "Rhythmik statt Metrik!� bek�mpft hat.) Man kann solchen Gedichten eine Musik recht beliebig �berst�lpen, w�hrend gro�e Lyrik ihren Rhythmus und damit ihre Musik unverwechselbar in sich tr�gt.

Analysiert man nun das Gedicht vom Sinn her, wird man diese Schw�che best�tigt finden. Vers 4 ist �berfl�ssig, weil nur eine Wiederholung von 2. Die Verse 9 und 11 wirken unfreiwillig komisch; man mu� dabei an die Redensart des k. k. �sterreich-Ungarn des Ersten Weltkriegs denken: �Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst�. Der Eindruck unfreiwilliger Komik wird noch durch die hier evidente Sprachschluderei versch�rft. Denn was besagt der Satz: �Das Entkommen / bei entsichertem Gewehr / ist hoffnungslos�? Entweder ist das Entkommen m�glich, dann kann es nicht hoffnungslos sein. Oder es gibt keine Hof fnung zu entkomren: dann ist das Entkommen unm�glich, aber nicht hoffnungslos! Wenn aber einer in der hoffnungslosen Lage ist, nicht ausdr�cken zu k�nnen, was er meint, gilt er heutzutage in Germanien als gro�er Lyriker, wie unser Autor. - �berfl�ssig sind auch die Verse 13/14, denn �Sie� sind die Wachen, deren entsichertes Geiwehr bereits in Vers 10 angesprochen wurde. Da� das schon als schu�bereit bezeichnete Gewehr in Vers 14 erneut genannt wird, ist nur eine entbehrliche Abschw�chung. Auch Vers 13 sollte gestrichen werden, denn es d�rfte kaum Wachen ohne Auftrag geben. Wer schiebt schon freiwillig Wache? Wenn die Wachen aber �ihren Auftrag� haben, kennen sie nat�rlich auch ihren Auftraggeber und l�nnen gerade nicht, wie es Vers 12 behauptet, von niemand nichts mehr wissen. Der Verfasser erkl�rt also, logisch betrachtet, in Vers 13 den Vers 12 nachtr�glich f�r unsinnig - ohne das zu merken. Das Ganze strotzt vor innerem Widerspruch. So widerlegt Vers 8 den Vers 1: Wenn die Wachen warten (Vers 1), m�ssen sie logischerweise die Bewohner des Hauses erwarten, zu denen auch die Frauen geh�ren, so da� Vers 8 nicht zutreffen kann. Das Paradox lie�e sich noch halbwegs aufl�sen, wenn es in Vers 9 bis 11 nicht hie�e �Das Entkommen�, sondern: �Das Erwarten / bei entsichertem Gewehr / ist hoffnungslos� - vielleicht hat der Autor das auch gemeint, aber wie gesagt: er konnte es leider nicht ausdr�cken. Selbst der banale Satz in Vers 9 �Das Leben ist ernst� mu� im Kontext als deplaciert empfunden werden. Wer n�mlich so lapidar formuliert, mu� es sich als Autor gefallen lassen, da� der Leser �Das Leben� auf alle im Gedicht angesprochenen Menschen bezieht, also sowohl auf die, die nicht aus dem Haus kommen, wie auch auf die, die davorstehen und warten, auf die Wachen. Wenn auch deren Leben als ernst empfunden wird, k�nnte ihr Erwarten als hoffnungslos gelten. Wenn aber nur das Entkommen gemeint ist, kann auch nur das Leben der Hausbewohner ernst sein. Tats�chlich nimmt der Verfasser das Leben der Wachen, ja die Wachen selbst nicht ernst, und weil er sie nicht ernst ninmt, kommt er zu der logisch unhaltbaren Behauptung in Vers 12.

Generell darf man sagen: Unser Dichter nimmt sein eigenes Thema nicht ernst. Er schreibt drauflos, ohne zu denken, in der leider nicht unberechtigten Erwartung, auch der Leser werde lesen, ohne zu denken. Weil man in Germanien Gedichte nicht mehr w�rtlich, nicht mehr ernst nimmt. Denn deutsche Lyrikleser

 

wissen von niemand nichts mehr.

Und selbst, wenn dies alles nicht zutr�fe, w�rden noch die Verse 5 und 6 ma�los st�ren, weil die eine klassisch schiefe Metapher darstellen, denn die offenbar gemeinte verblassende Photographie wird ja wohl nicht nur Schultern gezeigt haben, sondern wenigstens auch Hals und Kopf der Frauen. Und da� deren Schultern nicht mehr und nicht weniger als �rund� sind, ist �ltestes, �belstes Klischee.

Der flei�ige Autor der �Nachtwachen� ist der poetische Rembrandt unserer Tage. Bei seinen Anblick erbleichen lyrische Epheben; hartgesottene Germanisten putzen ihm die Stiefel; Feuilletonisten feiern ihn als Vaterfigur. Am 11. M�rz 1985 wurde er 70. Oh Du! M�gest Du in Frieden 100 werden und Deinen wohlverdienten Ruhestand genie�en! Oh Karl!! Oh Krolow!!!

*) In: �und sehe die Dinge durch meine S�tze� - Edition Literateam Bd. I, Lyrik, Hrsg. Literateam, Lempp Verlag, Karl Ferdinand Lempp, Schw�bisch Gm�nd 1983, S. 50.

Klaus M. Rarisch


 

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