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KOPF ODER ZAHL?
ZUR POETOLOGIE VON HANS-JÜRGEN HEISE

In der Literaturzeitschrift »die horen«, Band 170, 2. Quartal 1993, S. 189-199, veröffentlichte der 1930 geborene Kieler Lyriker und Professor e.h. Hans-Jürgen Heise »Poetologische Sentenzen« aus den Jahren 1965 bis 1993. Es handelt sich um ein Sammelsurium von Platitüden und Borniertheiten, von denen die auffälligsten einer Widerlegung bedürfen. Heise behauptet, es verfüge

    der eingeschworene Traditionalist über ein zu großes Quantum an Formbewußtsein. Doch was wie hohes stilistisches Verantwortungsgefühl aussieht, ist in Wahrheit lediglich die Unterwerfung unter längst nicht mehr gültige Kunstgesetze (S. 191).

Der »eingeschworene Traditionalist« ist offenbar der Typus eines Lyrikers, der nicht schludert, sondern formt, und den Heise deshalb verabscheut. Damit disqualifiziert sich Heise selbst, denn man kann als Lyriker zwar zu wenig, aber niemals zu viel Formbewußtsein haben. Anders ausgedrückt: Es gibt Stümper, die sich für Poeten halten oder von Marcel Reich-Ranicki dazu ernannt werden. Es gibt aber keinen Dichter, der »zu viel« Dichter sein könnte, der jemals ausgelernt hätte und – wie Heise es formulieren würde – »über ein zu großes Quantum an Dichtertum« verfügen könnte. Wer glaubt, zu viel zu können und alles besser zu wissen, leidet an Selbstüberschätzung und fällt zurück in den Status des Stümpers. Heise konstruiert einen Pappkameraden, den er als »eingeschworenen Traditionalisten« diffamiert und dem er die »Unterwerfung unter längst nicht mehr gültige Kunstgesetze« anlastet. Ich frage: Wer bestimmt, welche Kunstgesetze wann und wie lange gültig sind? Etwa Heise? Hat Heise jemals etwas von ewig gültigen Kunstgesetzen gehört? Und ist ihm klar, daß solche Gesetze nur auf einem Maximum (wie Heise formulieren würde) oder Optimum (wie ich es richtigstelle) an Formbewußtsein beruhen können?

Mit oberflächlicher Rhetorik attackiert Heise (S. 190) einen der größten deutschen Lyriker, Theodor Däubler. Heise spricht von einer – mir nicht bekannten – poetischen Mode,

    die beispielsweise Däubler ausrufen ließ: »Millionen Nachtigallen schlagen«. Dieser Lyriker war offensichtlich nicht in der Lage, eine Vorstellung davon zu vermitteln, was er empfand, als er eine Nachtigall hörte. Er nahm Zuflucht bei den Gesetzen der Arithmetik und kaschierte mangelndes Wahrnehmungsvermögen durch das Pathos der großen Zahl.

Ich zitiere dagegen einen Vers aus Däublers Gedicht »Der Brunnen«:

    Horch aufs Geäst: Die Nachtigall! So horch – sie ruht.

Hier empfand Däubler etwas, als er eine Nachtigall wahrnahm. Oder präziser: Er legt einem lyrischen Du nahe, auf eine Nachtigall zu horchen, ihr zuzuhören. Offenbar vernimmt dieses Du aber nichts, und das lyrische Ich folgert daraus, daß die Nachtigall ruht. Es handelt sich um einen äußerst differenzierten, in einen einzigen Vers komprimierten Vorstellungskomplex. Die dialektische Distinktion zwischen »Du« und »Ich« bedeutet: das Du ist der Typus des wenig sensiblen Durchschnittsmenschen, der nichts hört und daraus schließt, es gäbe nichts Wahrnehmenswertes. Das Ich, der Dichter mit seinem verfeinerten Sensorium, gibt dem stumpfen Normalmenschen quasi Nachhilfeunterricht, öffnet ihm Sinne und Verstand, indem er ihm klarmacht, daß aus der Situation sehr wohl auf etwas sehr Kostbares zu schließen sei: auf die Ruhe. Damit übertrifft Däubler in ästhetisch perfekter Form das, was Heise von ihm verlangt: Däubler vermittelt eine Vorstellung davon, was er empfand, als ein anderer keine Nachtigall hörte. Däubler besaß kein »mangelndes«, sondern ein gesteigertes Wahrnehmungsvermögen. Er nahm nicht »Zuflucht bei den Gesetzen der Arithmetik«, sondern konstituierte und vermittelte durch seinen Vers Gesetze der Ästhetik.

Im selben Band der »HOREN« (S. 234) stellt Winfried Freund mit vollem Recht Nikolaus Lenaus Gedicht »Liebesfeier« heraus. An Lenaus Versen

    Ein Jubelchor von Sängern schmettert
    Im Walde voller Blüt’ und Duft

würde ein Heise kritisieren:

    Dieser Lyriker bot einen ganzen Jubelchor auf, war also offensichtlich nicht in der Lage, eine Vorstellung davon zu vermitteln, was er empfand, als er einen Vogel hörte. Er nahm Zuflucht bei den Gesetzen der Arithmetik ...

Und Lenaus Verse

    Und all die tausend Herzen läuten
    Zur Liebesfeier dringend laut

würde Heise so kommentieren:

    Dieser Lyriker war offensichtlich nicht in der Lage, eine Vorstellung davon zu vermitteln, was er empfand, als er ein Herz läuten hörte. Er brauchte tausend Herzen ...

Bei einem fiktiven Vergleich zwischen den beiden Lyrikern würde Heise schließlich die »Gesetze der Arithmetik« so interpretieren:

    Bekanntlich sind tausend mal tausend eine Million. Je größer die Zahl, desto unfähiger der Dichter. Wenn also Lenau tausend aufbietet, Däubler aber Millionen, so ist Däubler tausend mal unfähiger als Lenau.

Die Nutzanwendung auf Schillers Ode »An die Freude« und Beethovens Neunte – »Seid umschlungen, Millionen!« – ergibt sich von selbst.

Abschließend will ich Heise für seine geistreiche kritische Methode noch einen weit plausibleren Anwendungsfall zum Geschenk machen. Arno Holz schreibt im Ur-Phantasus (S. 59):

war ich eine Schwertlilie.

Ich überlasse es Heise mit seinen vermutlich besseren mathematischen Fähigkeiten gern, nach den Gesetzen der Arithmetik auszurechnen, um wieviel unfähiger Arno Holz im Vergleich mit a) Schiller bzw. Däubler und b) Lenau war.

Klaus M. Rarisch


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