Zu www.fulgura.de mit Navigations-Kolumne

Dada-Sein oder:
Vom Da-Sein Dadas

Karl Riha:
Da Dada da war, ist Dada da
Aufsätze und Dokumente
München: Hanser 1980

Von Klaus M. Rarisch

 

Dada hat Kunst und Anti-Kunst in eins gesetzt. Dada-Kunst involviert immer auch ihre eigene Kritik, und zwar eine prinzipielle. Daraus folgt erstens, daß man über Dada nicht kritisch, sondern nur metakritisch schreiben kann, und zweitens, daß ein Buch über Dada sich sowohl der Kritik wie der Metakritik entzieht. Das gilt auch für den Siegener Liieraturprofessor Karl Riha, der die Reihe seiner erfreulich unprofessoralen Dada-Publikationen jüngst mit einem lockeren Sammelband fortgesetzt hat, betitelt »Da Dada da war ist Dada da«. Er variiert damit Hans Arps berühmten Dada-Spruch Nr. l: »Bevor Dada da war, war Dada da«, der seinerseits damit den Ultima-Ratio-Vers des Arno Holz variierte: »Gott ist gewesen, eh er war«. Die Gleichung Gott = Dada war für die alten Dadaisten Glaubenssache. Richard Huelsenbeck verriet es mir – obzwar nicht ohne Ironie – in einem Brief vom 25. 8. 1962: »Ich werde weitermachen, bis ich umfalle, und in meiner Sterbestunde, wenn ich dazu Gelegenheit habe und nicht allzusehr mit Metaphysik beschäftigt bin, werde ich immer noch flüstern: Dada, Dada, Dada.« Die Psalmen des Dadaismus, Huelsenbecks »Phantastische Gebete«, wurden denn auch bei den historischen Dada-Soireen nicht einfach gelesen, sondern verrichtet, wie eine frohgemute Notdurft.

Recht haben beide: Arp, wenn er auf den mythischen Urgrund Dadas deutet, Riha, wenn er Dadas Unsterblichkeit bekräftigt. Überhaupt war es ja ein dadaistischer Grundsatz, daß jeder seinen eigenen Dadaismus machen solle – nicht zufällig hieß eine der kurzlebigen Dada-Zeitschriften »Jedermann sein eigener Fußball«. Und die Nachgeborenen sollen Dada mit eigenen Augen sehen: Riha mit seinen, ich mit meinen. Riha kritisieren zu wollen, wäre undadaistisch und schülerhaft, wie Huelsenbeck 1920 im Dada-Almanach schrieb (Huelsenbeck war alles Mögliche, aber kein Beckmesser).

Riha dürfte das begriffen haben, schreibt er doch (S. 64): »Und was wäre denn, frage ich mich, eine Äußerung über DADA, die nicht zum Widerspruch herausforderte?« Sein Buch bietet eigene Aufsätze sowie ur- und neudadaistische Quellen von unterschiedlichem Wert, also eine »Mischung von Untersuchung und Dokument« (S. 8), dabei »Nachdadaistisches miteinbezogen« (S. 9). Hier stock’ ich schon! (Um Goethe zu bemühen, der ja auch für Dada reklamiert wurde, wie Riha vergnüglich nachweist.) Denn was ist schon »nachdadaistisch?« Der Dadasoph Raoul Hausmann, auf dessen Nachlaß sich Riha stützt und dem er auch in seinen Analysen weitgehend folgt, schrieb mir am 23. l. 1964: »dada ist nicht neo«. Was also hält Riha an nach- oder neodadaistischen Aktivitäten nach 1945 für dokumentierenswert? Offenbar vor allem einen Veranstaltungsabend des »Literarischen Cabarets der Wiener Gruppe« mit Chansons von Gerhard Rühm am 15. 4. 1959 (S. 176). Daß aber – von Ausstellungen bildender Kunst abgesehen – die literarische Wiederauferstehung Dadas sich auf der Dada-Soiree meiner Berliner ,»Gruppe der Vier + 4« vollzog, bei der u. a. meine Globalhymne ins Publikum gebrüllt wurde, am 28. 6. 1957 (dem 245. Geburtstag Jean Jacques Rousseaus), ist Riha entgangen. Er muß das nicht gewußt haben, wie er auch unsere Soiree mit Huelsenbeck am 8. 8. 1958 und meine Korrespondenz mit den Altdadaisten (darunter allein 57 Briefe von Huelsenbeck) nicht berücksichtigt hat.

Unerfindlich aber bleibt, wieso Riha auch öffentlich zugängliche Quellen ignoriert. 1965 gab ich den »Ultimistischen Almanach« heraus, mit Text- und Bildbeiträgen der Dadaisten Arp, Hausmann, Huelsenbeck und Walter Mehring. Das erste Wort meiner theoretischen Einleitung lautet »Dada« – warum wohl? Wenn man nicht einmal von den wenigen Experten gelesen wird? Zum Ultimismus schrieb mir Huelsenbeck: »natürlich bin ich ein Ultimist, was kann man sonst in dieser Zeit sein ...?« (13. 11. 1960) und: »ich denke in der Tat, daß der Ultimismus der natürliche Erbe Dadas ist« (8. 8. 1961).

Zu dem Streit um Alt- und Neodada möchte ich hier, als Beteiligter, meine persönliche Meinung sagen: Es gibt einen Jugend- und einen Altersdadaismus. In der Jugend war ich natürlich Dadaist, und wenn auch nur für Sekunden, etwa als Kokoschkas Papagei »Anima meine Seele!« auf der Bühne krächzend. Jeder Schreibende kann von der Spontaneität und Urigkeit Dadas nur lernen. Später wird man zu neuen Ufern finden, mögen sie nun Ultimismus oder wie immer heißen.

Riha hat die bekannten Dada-Texte sorgfältig gelesen. Meines Wissens als erster hat er Parallelen zwischen der Wortwahl Huelsenbecks und Tristan Tzaras entdeckt (S. 30). Zurecht konstatiert er auch die Sterilität eines Franz Mon (S. 217). Daß er in den Datierungen letzte Sicherheit nicht erreicht, ergibt sich aus der Chamäleonshaftigkeit des Phänomens Dada selbst. Zum Beispiel: Die Ankunft Huelsenbecks in Zürich 1916 (S. 13: 26. Februar; S. 14 und 100: 11. Februar; Dada-Almanach S. 11: 26. Februar). Vermutlich ist Huelsenbeck am 11. 2. in Zürich eingetroffen und am 26. 2. zum erstenmal aufgetreten. Ferner: Eröffnung der Berliner Dada-Messe 1920 (S. 57: 24. Juni; S. 58: l. Juli; Dada-Almanach, Bild nach S. 128: 5. Juni).

Abgesehen von vordadaistischen Randerscheinungen wie Otto Groß und Franz Jung sind die Kernstücke in Rihas Buch den Porträts von Richard Huelsenbeck, Raoul Hausmann und Johannes Baader gewidmet. Daß die Hauptakteure von Berlin-Dada, Huelsenbeck und Hausmann, bis zu ihrer späten Versöhnung 1968 sich spinnefeind waren, läßt Riha zwar durchblicken, aber briefliche Äußerungen der beiden hätten dies viel deutlicher machen können.

Hausmann: »... es ist authentisch, daß er (Huelsenbeck) das Erscheinen meines ›Kurier dada‹ beim Limes-Verlag 1957 verhinderte und erst, nachdem er meinen Text gelesen hatte, auf die Idee kam, selbst ein Buch über dada zu schreiben« (9. 5. 1960). Huelsenbeck: »... ein Komplott, wahrscheinlich von meinem alten Freundfeind Hausmann ausgehend« (12. 12. 1959). Hausmann über Huelsenbeck: »...ein Größenwahnsinniger ... ein lächerlicher Tatsachenverdreher« (2. 8.1966).

Was den Oberdada Johannes Baader betrifft, so hat Riha den Rundfunkbeitrag von Baaders Neffen Bernd Baader übersehen, der am 19. 12. 1978 unter dem Titel »Der schwäbische Prophet als Dadaist« im SFB gesendet wurde. Demzufolge hat Hausmann bereits 1905 Baader kennengelernt, wogegen Riha (S. 144) das »Ende des Ersten Weltkrieges« angibt. Den Tod Baaders datiert Riha (S. 164) auf den April 1955, während Bernd Baader den 14. l. 1955 ermittelt hat. Baaders Skandalauftritt in der Weimarer Nationalversammlung 1919 referiert Riha zwar exakt (S. 153 f.), aber aus meinem Interview mit Walter Mehring von 1968 (total Nr. 16, S. 4 f.) ergibt sich, daß Mehring noch 49 Jahre danach »Baaders große Tat des Dadaismus« pries – im Gegensatz zu den wirkungslosen ästhetizistischen Happenings nach 1945.

Zur Analyse des Laulgedichts deutet Riha (S. 205) an, auch damit direkt Ideen Hausmanns folgend, Hugo Balls grundlegende »Karawane« sei in einer quasi »unbekannten« Sprache, aber eben noch Sprache geschrieben; Ball unterscheide sich dadurch von der lettristischen Poesie Hausmannscher Prägung. Ausführlich (S. 201 ff.) werden die Beziehungen zwischen Hausmann und Kurt Schwitters behandelt, aber Hausmanns ebenso kompetente wie komprimierte Äußerung dazu, seine Rezension von Schmalenbachs Buch über Schwitters (total Nr. 16, S. 19 f.) bleibt unerwähnt.

Die nach 1945 entstandene Lyrik von Arp und Huelsenbeck, sie sei so viel oder wenig nach- oder neodadaistisch wie sie wolle, ist jedenfalls inspirierte, große Lyrik. Riha (S. 113) scheint sie eher abwertend dem Surrealismus zuzurechnen, auch hierin Testamentsvollstrecker Hausmanns. Sicher ist die Nachwirkung Dadas erstaunlich schwach geblieben, da stimme ich Riha zu. Aber welches sind die Gründe?

Riha meint (S. 10): »... dazu erwies sich nach der Niederlage von 1945 die kulturelle Grundstimmung in der Breite der Gesellschaft als zu wenig ›neuerungssüchtig‹, um wenigstens von den Kunst-Neuerungen der Vorkriegsjahre die Last der Diffamierung zu nehmen«. Demnach hätte sich der Zeitgeist geweigert, den Sisyphus zu spielen und die schweren Diffamierungsbrocken vom Grabe Dadas wegzuwälzen. Aber der Zeitgeist pflegt sich ja menschlicher Handlanger zu bedienen, und das sind, wenn es um Literatur geht, meistens Literaten, und die haben nichts gegen, sondern viel für die weitere Diffamierung der Dadaisten getan.

Ich zitiere die direkt Betroffenen: »In Deutschland ist die Gruppe 47 gegen mich« (Hausmann, 6. 11. 1967); »Die Gruppe 47 ist ein typisch deutsches Gebilde, teilweise aus der deutschen Mentalität (Arroganz) geboren, teilweise aus dem Geist der Wunderkinder. Es ist die literarische Waffen S. S.« (Huelsenbeck, 18. 11. 1964). Dabei wußte Huelsenbeck damals noch nicht, daß Grass ihn in der »Blechtrommel« schamlos plagiiert hatte.

Abschließend sei auf den Irrtum Rihas hingewiesen, Huelsenbeck habe im Dada-Almanach von 1920 angeblich keinen Beilrag von George Grosz gebracht (S. 56). Tatsächlich aber endet der Dada-Almanach auf S. 160 mit einem kurzen, jedoch symptomatischen Aperçu von Grosz: »Wie denke ich morgen ...?« Ja, wie denke ich morgen?? Oder denke ich morgen überhaupt noch???

die horen Bd. 125, 1982

Rechte bei Klaus M. Rarisch