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POSTSCRIPTUM

Harmlos begann es. HEL hatte eine Reihe von Abendveranstaltungen angekündigt, bei denen Sonette gelesen werden sollten. Mir behagte das nicht. Ich hielt, Sonette zu lesen, für anachronistisch und teilte das am 12. März 1995 HEL mit – ironischerweise in einem Sonett. Der schickte das an Klaus M. Rarisch, den reputierten Experten dieser poetischen Gattung. Rarisch antwortete mir mit dem Sonett vom 22. März. Das bewog mich zu einer sonettistischen Erwiderung, nicht ahnend, daß ich damit eine Art »Tenzone« entfesselt hatte, einen Wettstreit, wie ihn weiland die provençalischen trovadores – die Troubadours – an den Höfen der Renaissancefürsten auszufechten hatten. Im Verlauf der Fehde wurden die Entgegnungen härter, es mischten sich in die Sonette Invektiven, die letztlich zum Abbruch unserer Kontroverse führen mußten. Das blieb im Freundeskreis nicht unbemerkt: die Dichterin Gisela Kraft griff in die Auseinandersetzung ein, desgleichen HEL, mein Bruder Joachim, auch der Petrarca-Übersetzer Ernst-Jürgen Dreyer, schließlich BRI. Ich nahm immer von neuem Stellung. Es lag nahe, diese Sonette in einer »Coda« der »Tenzone« anzufügen.

Lothar Klünner

Berlin, im August 1995

 

ZUR POETIK DES SONETTS

Bei der Tenzone zwischen Lothar Klünner und mir ging es nicht zuletzt um den Formalismus-Vorwurf. Für LK bin ich ein formalistischer »Lakai«, »Pedant« und »Fundamentalist«. Nun verzichtete ich darauf, LK formal zu analysieren, zumal er Sonette »nur nebenbei« schreibt, wie HEL feststellte. Dies trifft übrigens auch für hochberühmte und sehr produktive Lyriker zu. Beispielsweise finden sich in dem sehr umfangreichen lyrischen Werk von Stefan Zweig nur zehn Sonette (ohne Übersetzungen)*, und keines davon ist fehlerfrei. Selbstverständlich ist die formale Perfektion nicht alles, wohl aber die Voraussetzung für alles weitere. Meine Abneigung richtet sich nicht speziell gegen LK, sondern gegen JEDEN, der »nur nebenbei« sonettiert und sich trotzdem im Besitz jener Meisterschaft wähnt, die nur durch langjährige Übung und strengste Selbstkritik erreicht werden kann. Ich will meinen Standpunkt am Beispiel eines völlig vergessenen und daher auch nicht strittigen Autors der Vergangenheit demonstrieren, sine ira et studio. Sein folgendes Sonett** ist mir nur infolge meiner Beschäftigung mit Venedig bekannt.

Der Markusdom, der bunte, klangumtönte,
Hat seine Pforten gähnend aufgeschlagen,
Am Hochaltar, wo Priester Kerzen tragen,
Thront stolz der Doge, der vom Volk gekrönte.

Es lehnt an ihm in mädchenhaftem Zagen
Sein junges Weib, das holde, glückverschönte.
Ein Page, der an Schleppendienst gewöhnte,
Kniet stumm dabei in Puffenwams und Kragen.

Der Weihrauch dampft, zu Ende geht die Messe,
Es blickt verklärt die schöne Dogaresse ...
Doch sehen könnt ihr, wenn ihr näher tretet,

Daß tief im Samt, dem dunkelvioletten,
Des Pagen Hand und ihre sich verketten –
Der alte Doge kniet im Stuhl und betet.

Das Sonett ist formal absolut makellos. Es bietet nur reine Reime und hält das Metrum genau ein, ohne jede Synkope. Auch die sogenannte »innere« Sonettstruktur ist vorbildlich erfüllt: Die Hauptzäsur (zwischen Quartetten und Terzetten) markiert zugleich die Wende von dem objektiv gesehenen, statischen Bild (Vers 1–8) zu der dynamisch bewegten, subjektiven Ironie der Terzette. Die subjektive Sicht mündet in die Pointe des spöttischen Schlußverses ein, der sich gegen die blinde Frömmigkeit des Staatslenkers richtet, gegen die unheilige Allianz von Thron und Altar. Der Doge als Hauptfigur wird in den Quartetten und Terzetten in gegensätzlicher Perspektive gesehen: in Vers 4 thront er stolz, in Vers 14 wirkt er alt und kniet demütig betend. Auch dieser Perspektivenwechsel entspricht in mustergültiger Weise der dialektischen Sonettstruktur.

Im zweiten Analyseschritt ist jedoch zu konstatieren, daß die formale Perfektion nicht das einzige Kriterium ist, obwohl man sie bei den lebenden Sonettisten, z. B. bei LK, kaum noch vorfindet. Was an dem vergessenen Autor stört, ist seine sprachliche Manieriertheit. Er mußte nämlich, um die reinen Reime zu finden, seine Zuflucht zu der Marotte der nachgestellten Adjektive nehmen (Vers 1, 4, 6, 7, 12). Dadurch haftet dem Text, trotz aller Klangschönheit, etwas schematisch Unfreies, krampfhaft Gezwungenenes an.

Auch hier war also, wie fast immer und überall, das perfekte Sonett nicht zu entdecken. Dennoch könnten die meisten lebenden Sonettdichter viel davon lernen.

Klaus M. Rarisch

* Stefan Zweig: Silberne Saiten. Gedichte und Nachdichtungen. Hrsg. von Richard Friedenthal. Frankfurt: S. Fischer 1966. Sonette auf S. 49 f., 68 ff., 88 f., 106.

** Prinz Emil von Schönaich-Carolath: Dichtungen. Leipzig: Göschen 1907. Zitiert nach: Venedig. Der poetische Cicerone. Städte und Länder in der Dichtung. I. Hrsg. von Ignaz Jezower. Berlin: Behr 1908. S. 23.

Aus

Lothar Klünner, Klaus M. Rarisch & al.:
Hieb- & stichfest
Streitsonette
Tenzone & Coda

Meiendorfer Druck Nr. 40

 

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