Charles Platt: Free Zone

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Einband der Avon-Ausgabe von 1989
Erstausgabe bei Avon Books, 1989
(E-Book-Ausgabe 2017, Leseprobe)

 

Einband der Memoranda-Ausgabe von 2020
Deutsche Übersetzung bei Memoranda, 2020

 


Zur Übersetzung von Charles Platts »Free Zone«

Es muß um 2016 herum gewesen sein, daß ich – ohne etwas über den Autor zu wisssen – zwecks abendlicher Abspannlektüre »Free Zone« aus dem drehbaren Bücherständer ganz hinten im inzwischen leider! nur, aber wenigstens doch noch in den Weiten des Internets zu erreichenden Laden Andere Welten in der Hamburger Grindelallee mitnahm. Die antiquarischen englischen und amerikanischen SF-Taschenbücher dort im Halbschatten fast schon Fremdkörper im Angebot, das bis zum Toaster in Form eines Darth-Vader-Helms reichte. Über wenige Jahre hin holte ich mir immer mal wieder im allgemeinen fünf Bücher, trug sie ausgelesen zur Quelle zurück … aufbewahren mochte und mußte ich sie zuallermeist nicht, sie wegzuwerfen, brachte ich nicht fertig. Bei jedem nächsten Besuch gab ich also fünf zurück, gegebenenfalls mit Verzichtbarem aus meinem Bestand aufgefüllt. Handeln wollte ich nicht damit, betrachtete die hübsch mäßigen Preise als Leihgebühr. Herr Richard Meyer von den Anderen Welten hatte in der Hinsicht wohl auch gewisse Hemmungen, jedenfalls berechnete er von den jeweils fünf nächsten nur vier. Seine Idee.

Charles Platts höchst »schräg« anmutende »Free Zone« konnte ich nicht zurückbringen. Zu interessant. Bei der Lektüre war mir der Manierismus eingefallen. Dies Schaffensprinzip ist laut des bezüglichen Eintrags in Gero von Wilperts »Sachwörterbuch der Literatur« – zitiert nach der 5. Auflage von 1969, bei mir im Regal: – von »subjektiv-willkürlicher Abwandlung der überlieferten Formeln und Formen mit Neigung zu esoterisch-spielerischen Verzerrungen« geprägt.

Im Januar 2019 nahm ich plötzlich aus einem mich überraschenden Impuls heraus das Buch zur Hand und fing an, es zu übersetzen. Das geschah nicht aus heiterem Himmel, sondern aus einem zu der Zeit dunkel wolkenverhangenen.

Erst nachdem die Rohübersetzung stand, entdeckte ich im Internet die Leseprobe zur E-Book-Neuausgabe (2017) der zuerst 1989 erschienenen »Free Zone«. In der dafür verfaßten (und für die Übersetzung übernommenen) Introduction beschreibt Charles Platt das Buch als einen Fall von Metafiktion … nicht so weit weg vom Manierismus.

Wie Platt in der Introduction erzählt, hatte er mit dem – manieristischen! – Vorsatz begonnen, möglichst fünfzig Motive der SF-Literatur im Buch unterzubringen oder wenigstens anklingen zu lassen; rund siebzig listet er schließlich im Anhang auf, von Aliens bis zur Zeitreise. Die Handlung ist angesiedelt in einem libertären und anarchischen, also herrschaftslosen Gemeinwesen, das sich vom übrigen Los Angeles abgekapselt hat. Die Welt geht »den Bach runter«: An den Küsten steigt die Flut, weil die Polkappen schmelzen, die UV-Strahlung der Sonne läßt tagaktive Tiere erblinden und Pflanzen mutieren, das gesellschaftliche Gefüge ist gründlich ins Wanken geraten. Dystopisch. Und was die Geschehnisse angeht, entrüstet sich jemand, als ob er mit dem Autor diskutierte: »What the hell is happening? Why are events piling up like this, getting weirder all the time?« Jemand anders fragt verzweifelt: »Oh my lord, whatever next?« Damit ist der Fortgang der Handlung – mit reichhaltiger »action« – recht passend angedeutet.

Wie es sich für Manierismus und Metafiktion gehört, weist der Text der »Free Zone« wiederholt über sich hinaus, erweitert die Lesewahrnehmung. So geistern zum Beispiel in einer Äußerung des Wissenschaftlers Dr. Weiß, eines fanatischen Nazis in einem Alternativuniversum, der in einer Raumstation im Marsorbit nationalsozialistische Klone produziert, Asimovs drei Robotergesetze … vom Roboter 6A419BD5h sogleich außer Kraft gesetzt. An andrer Stelle liegt der Verschleierung der bösen Absicht, in der sich der sprechende Hund Lucky*) jemandem nähert, die antike Geschichte von Androklus und dem Löwen zugrunde. Das schlaue Tier hat sie sich anscheinend aus der Encyclopedia Britannica seines Herrchens angelesen.

»Party Time in Pagan Paradise« lautet die Überschrift des ersten Kapitels, »Utopia Regained« die des letzten. Als würde damit eine Verbindung geknüpft zu John Miltons Versepen »Paradise Lost« (1667) und »Paradise Regained« (1671) einerseits und Thomas Morus’ Roman »Utopia« (1516) andrerseits. Ist es Absicht, ein Fall von Kryptomnesie … oder spielte der Zufall? Auf jeden Fall ist ja das in der ersten Kapitelüberschrift angesprochene Paradies im Verlauf der Romanhandlung durchaus im Begriff verlorenzugehen. Die Frage, ob Motive dieser Werke – entsprechend verkleidet – tatsächlich in »Free Zone« eingearbeitet sind, muß offen bleiben. Zumindest wäre mit Clarence Whitfield, dem Bürgermeister von Los Angeles,**) schon mal eine Art Satan zur Hand, von einer der Romanfiguren auch als solcher bezeichnet. Ob aber aus »Paradise Lost« herstammend …? Boden- und Luftschlachten wie dort zwischen den Heeren der Engel und denen der Anhänger Satans entwickeln sich auch in »Free Zone«, natürlich ebenfalls zwischen den Guten und den Bösen. Der Roboter 6A419BD5h aus der Zukunft angereist wie in Stellvertretung eines Cherub. Alles ohne Garantie spekuliert. Mit Thomas Morus’ »Utopia« begegnet sich »Free Zone« insofern, als beide Bücher das Funktionieren eines als ideal deklarierten Gemeinwesens schildern, beide also Staatsromane sind.

Beim ambitionierten Roman »Free Zone« handelt es sich also keineswegs um Nullachtfuffzehn-Science-fiction. Die bittere Bizarrerie des Buchs hat mich »angerührt«. Wenn es (unnötigerweise) um ein Motto für die Free Zone ginge, käme ich auf Antoine de Rivarol: »Die zivilisiertesten Völker sind der Barbarei so nahe wie das feinstpolierte Eisen dem Rost.«

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*) Dr. Abo – auf Hawaii geborener Genforscher japanischer Abstammung – hatte Lucky in Hong Kong »geschaffen«. Sein Anlaß, in die Free Zone zu kommen: »Meine Forschungen an Säugetieren verletzten Richtlinien der Festlandchinesen. Sie könnten wohl auch hiesige Bundesgesetze zur rekombinanten DNA verletzen.« Die Free Zone ist für ihn die letzte Möglichkeit, seine gentechnische Arbeit weiterzubetreiben. In unsrer Realität enthält – knapp dreißig Jahre nach Erscheinen des Romans – der Artikel »Die Geburt der Fabelwesen« in DER SPIEGEL Nr. 5 vom 28. 1. 2017 eine gewisse kleine Parallele dazu. Es geht dort um eine Arbeitsgruppe um Hiromitsu Nakauchi, die sich an der kalifornischen Stanford University mit »Genome Editing« befaßt, mit dem Fernziel, in der Transplantationsmedizin verwendbare »Menschenorgane in Schweinen, Schafen oder Rindern zu züchten«. Doch: »Nakauchi spricht ungern über diese Experimente, denn er weiß: Schnell regen sich Ängste, dem Labor könnten sprechende Schweine oder zweibeinige Schafe entspringen. Widerstand ist er aus Japan gewohnt. In seinem Heimatland verbieten die Richtlinien die Erschaffung solcher Mischwesen aus Mensch und Tier.«

**) Der Afroamerikaner Clarence Whitfield ist sozusagen der Hauptschurke im Buch, im Personenverzeichnis wie folgt charakterisiert: »zum Bürgermeister von Los Angeles aufgestiegener fundamentalistischer Prediger. Seine Mission: den Zorn Gottes über Sünder, Steuerhinterzieher und die Einwohner der Free Zone bringen«. Als ich im SPIEGEL, Nr. 38 vom 12. IX. 2020, die Kritik »Im Kern amoralisch. Der neue Roman von James Ellroy ist eine geniale Zumutung« las, klingelte es bei mir. Es geht darin um Ellroys anscheinend recht düsteren Kriminalroman »This Storm« von 2019, im Jahr darauf in deutscher Übersetzung mit dem Titel »Jener Sturm« erschienen. Darin heißt es: »Finsteres Zentralgestirn ist […] der Cop, Casanova und Möchtegernmeisterverbrecher Dudley Smith, der im Jahr 1942 in Los Angeles sein Unwesen treibt.« Unter anderem will er »in Mexiko internierte Japaner in die USA schmuggeln, um sie dort als billige Feldarbeiter zu vermieten.« Zu seinen kriminellen Zwecken geht Smith »fragwürdige […] Allianzen« mit Bösewichtern verschiedener Couleur ein, u. a. »einem schwarzen Prediger, der als Slumlord reich geworden ist« … damit in gewisser Weise mit Clarence Whitfield verwandt. – »Einen positiven Gegenentwurf zu dieser Freakshow kaputter Charaktere bietet Ellroy seinen Lesern nicht«, schreibt der Rezensent. In Platts »Free Zone« gibt es durchaus reichlich kaputte und vor allem böse Charaktere, doch sind ihnen die im Herzen guten gegenübergestellt. Was dann wohl leider nicht als »genial« zu gelten hätte, weil nicht grauenhaft genug.

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Nebenbei angemerkt. Am Wege fielen mir drei Parallelen zwischen Charles Platts »Free Zone« und James Fenimore Coopers Roman »The Monikins« (1835) auf, den ich vor einer Reihe von Jahren übersetzte:

— Beider Erfindung ist (erstaunlich!) »schräg«. Bei Cooper die Reise zu zwei Staaten intelligenter Affen in der Südpolregion: Großbritannien und die USA satirisch karikiert. Bei Platt … siehe oben.
— Beide sind auf ihre jeweilige Weise Staatsromane.
— Beide fanden nach ihrem Erscheinen keinen Anklang bei den Amerikanern. Charles Platt beklagt es in der E-Book-Introduction zu »Free Zone«, Christian Huck stellt es in seinem Herausgebernachwort zur Übersetzung für »The Monikins« fest.

Hamburg, im November 2020

Robert Wohlleben

Leseprobe

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