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T. V. Kudrjawzewa:
Dichter auf dem
»Markt der Persönlichkeiten«
im gegenwärtigen Deutschland

(übersetzter Titel)
Moskau 2005, 128 Seiten

deutsche Gegenwartsdichtung

(Auszüge, aus dem Russischen übersetzt von Boris Kontorowski)



Eine Bekanntheit, die nicht durch Medien, akademische Wissenschaft oder Kollegen aus der literarischen Nomenklatura legitimiert ist, zieht in der Regel die Abneigung der letzteren nach sich. Das Schaffen der Schriftsteller außerhalb des Mainstreams, das nicht mit dem ästhetischen Geschmack der Anerkannten und Anerkennenden übereinstimmt, wird mit Begriffen wie »Anachronismus«, »Banalität«, »Unsinn«, »Outsidertum« usw. bewertet. (…) Die Macher der Medienliteratur, die bestimmte literarische Gruppierungen bilden, welche in der Regel aus Stiftungsvorständen, Kritikern, großen Verlagen, Hochschulprofessoren, Jurymitgliedern diverser Wettbewerbe, Leitern von Literaturvereinen usw. bestehen, bestimmen die Verteilung finanzieller Mittel und reglementieren streng den Beitritt neuer Mitglieder nach einem Klan-Prinzip (bewerben sich, schreiben Kritiken, verlegen, verkaufen, vergeben Preise nach dem Grundsatz »wie ich dir – so du mir«) und blockieren des öfteren den neuen Anwärtern den Zugang zu Verlagsmöglichkeiten, Preisen usw. Dieses Phänomen bekam bei den Teilnehmern des Literaturprozesses den Namen Literaturmafia. (…) Man glaubt, daß die Gruppe 47 einen großen Beitrag zur Entwicklung der Medienlandschaft geleistet hat. Wie K. M. Rarisch feststellt, hat eben in bezug auf sie der Schriftsteller R. Neumann in dem Magazin »konkret« zum ersten Mal den Ausdruck »Literaturmafia« benutzt. Rarisch verwendet diesen Begriff in zahlreichen Pressepolemiken sowie auch in literaturwissenschaftlichen Aufsätzen. Die Vertreter der Literaturmafia sind seiner Meinung nach Figuren, deren Schaffen nach einer unausgesprochenen Abmachung keiner Kritik unterliegt: offizielle Kritik und Literaturwissenschaft wagen es nicht, gegen Autoren solchen Ranges aufzutreten. Rarisch selbst unterwirft einer höhnischen Kritik die Gedichte von U. Kolbe, im besonderen in der Parodie auf dessen Gedicht »Ausflug ohne Muse«; er führt Beispiele von Plagiaten an bei K. Krolow und G. Grass. (…) Kritische Angriffe gegen bekannte Dichter, deren Werke nicht hochkünstlerischen Kriterien entsprechen, wirken sich meistens nicht auf die Qualität ihrer nachfolgenden Gedichtbände aus und auf die Anzahl der Literaturpreise, die sie bekommen. So sieht U. Kolbes Gedicht »Ausflug ohne Muse«, das vom Suhrkampverlag und von der Zeitung »Tagesspiegel« beworben wurde, aus wie eine Selbstparodie auf die formale und inhaltliche Leere der postmodernistischen Transitweltempfindung. (…) »Als Autor« (Rarisch schreibt hauptsächlich Sonette, und R. Wohlleben, nicht nur Verleger, sondern auch alter Freund und Kollege Rarischs, spezialisiert sich mit seinem Verlag genau auf dieses Genre – T. Kudrjawzewa) »bin ich für andere Verlage uninteressant. Das Manuskript eines meiner Gedichtbände schickte ich allen einschlägigen Verlagen (über 100); als Resultat bekam ich nur Absagen ohne Begründung bzw. mit der Bemerkung: Die Gedichte sind makellos in der Form, jedoch …; oder es folgte überhaupt keine Antwort …« (…) Es ist interessant zu bemerken: Während Rarischs Gedichtband »Die Geigerzähler hören auf zu ticken – 99 Sonette mit einem Selbstkommentar« 1990 mit einer Auflage von 500 erschien, die bis heute nicht verkauft ist, erreichte der Band »Novemberland – 13 Sonette« von G. Grass zwei Auflagen innerhalb eines Monats. 2003 wurde K. M. Rarisch auf Initiative der Zeitschrift »Zirkular – am Zeitstrand« als Anwärter für den prestigeträchtigsten Literaturpreis in Deutschland vorgeschlagen, für den Büchnerpreis. Die Initiatoren dieser Kandidatur räumen jedoch ein, daß es eine hoffnungslose Sache sei (…) Jedoch liegt es nicht nur an der Konventionalität der von Rarisch gewählten poetischen Form. Nicht zuletzt spielt beim Ignorieren der Werke des Dichters durch die Haie des Verlagsbusiness die inhaltliche Seite eine Rolle. Die sozialkritische Ausrichtung von Rarischs Sonetten (wie der Dichter selbst zugibt: »Linker als ich ist nur noch die Berliner Mauer« …

 

[Anmerkung von KMR: Hier liegt ein Mißverständnis oder eine Fehlinterpretation durch Tamara Kudrjawzewa vor. Nach meiner politischen Einstellung befragt, lautet meine Standardantwort: Links von mir steht nur noch die Wand. Die Berliner Mauer ist damit nicht gemeint. Vgl. dazu auch mein Sonett »Liebst du?«, Vers 13 (= »Stünd vor mir eine Wand – ich schlüg die Wand k. o. « RW).]

… harmoniert nicht mit der ideologisch faden Mainstreamproduktion, die das Bild des literarischen Marktes im modernen Deutschland bestimmt. (…) Anlaß für Rarischs Sonett »Blutiger Zwischenfall« waren die Impressionen von der Preisverleihungsprozedur beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (…) Beispielhaft ist die von K. M. Rarisch durchgeführte Analyse der Rubrik »Das neue Gedicht« im Tagesspiegel in der Zeit vom 2. Juli bis 20. August 1995. Von acht Veröffentlichungen betreffen vier die Produktion des Suhrkampverlages. Auf der Literaturseite des Tagesspiegels Nr. 15363 vom 20.8.1995 sind drei von fünf Kritiken den Büchern gewidmet, die in demselben Verlag erschienen sind. (…) Typische Wesenszüge eines durchschnittlichen deutschen Kulturkonsumenten verkörpert ein Leserbrief-Schreiber, ein Diplomingenieur. Nachdem er die große Bedeutung der Poesie für das geistige Leben hervorgehoben und Goethe und Schiller unter seinen Lieblingsdichtern genannt hatte, erklärte er seinen fehlenden Drang zur Lektüre von Gedichten mit Mangel an Freizeit. Auf die Frage, worum es in den folgenden Zeilen (von KMR) gehen könnte: »Viele Zwerge glauben: Klein / sind wir an Statur und Klasse, / aber nicht an Zahl und Masse«, antwortete er: »Um Schneewittchen und die sieben Zwerge«.



Fazit von KMR:

Selbstverständlich kann sich ein Poet seine Kritiker nicht aussuchen. Er sollte auch nicht mit Gegenkritiken reagieren. Dennoch bin ich der Meinung: Auch ein Poet kann sich gerecht oder ungerecht beurteilt fühlen; und er hat das Recht, seine Meinung zu dieser Frage zu äußern. Kleine Flüchtigkeiten in dem vorliegenden Buch mögen mit Ernst-Jürgen Dreyer zu entschuldigen sein; die schwierigen Arbeitsbedingungen russischer Literaturwissenschaftler sind mir bekannt. Insgesamt aber kann ich feststellen:
Tamara Kudrjawzewa hat meine Gedichte und meine Stellung im deutschen Literaturbetrieb durchaus zutreffend beschrieben.

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Am 22. Mai 2007 verteidigt Tamara Kudryavtseva ihre Habilitationsschrift,
wie hier annonciert:
http://vak.ed.gov.ru/announcements/filolog/624/



Rechte am Buchauszug bei Tamara Kudrjawzewa