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»Armer Poet« Arno Holz?

An die Freunde von Arno Holz
richtete Klaus M. Rarisch im Oktober 1981 folgenden Brief:

Ich gestatte mir, Ihnen als Anlage einen Beitrag aus dem soeben erschienenen Sonderheft des »Mitteilungsblattes des Arbeitskreises Heinrich Mann« zu übersenden. Der Text von Herrn Prof. Dr. Reinhold Grimm, Madison/USA, enthält u.a. einen Leserbrief von mir an die FAZ, der weder von Herrn Reich-Ranicki noch von Herrn Grimm beantwortet wurde. Lediglich der Herausgeber des Sonderheftes hat meine Genehmigung zum Abdruck eingeholt. Ich war damit einverstanden, weil ich meine, daß literarische Kontroversen nicht mit juristischen Mitteln ausgetragen werden sollten. Aus diesem Grunde will ich auch nicht auf die Invektiven eingehen, mit denen mich Herr Grimm bedacht hat. Allerdings schien es mir geboten, eine kurze Anmerkung zu dem Beitrag zu schreiben. Da man mir die Veröffentlichung dieser Anmerkung verweigert hat, füge ich den Text hier bei. Die Affäre ist symptomatisch für den heutigen Stand der literaturwissenschaftlichen Kritik. Das Urteil darüber möchte ich Ihnen überlassen.


Anmerkung von Klaus M. Rarisch, 2. September 1981
(ungedruckt)

In dem Beitrag von Reinhold Grimm geht es um Arno Holz, nicht aber um meine Person. Daher habe ich nicht mich zu rechtfertigen, sondern nur Holz in Schutz zu nehmen. Ich kann mich dabei auf den Kernpunkt beschränken. Und zwar hatte ich in meinem unveröffentlichten Leserbrief an die FAZ u.a. gefragt, ob Arno Holz nach Grimms Meinung etwa kein armer Poet war. Darauf schreibt Grimm:

    Desto abwegiger sind dafür die rhetorischen Fragen, die Herr Rarisch, voll blinder Beflissenheit, an meine Bemerkung vom Müßiggang der »armen Poeten« knüpft. Denn daß Holz zu ihnen gerechnet wird, obzwar nicht ohne Ironie, sollte für jeden, der des Deutschen einigermaßen mächtig ist, eindeutig genug sein.

Ich interpretiere dies so: Meine Kernfrage, ob Grimm Arno Holz.als amen Poeten akzeptiert oder nicht, beantwortet er nicht. Stattdessen schreibt er, Holz werde zu den armen Poeten gerechnet; von wem, bleibt offen. Bis hierhin wäre Grimm noch zu entschuldigen, denn möglicherweise sind ihm Details aus der Holz-Biographie nicht bekannt genug, als daß er selbst urteilen könnte. Das würde ich gelten lassen, wenn auch mit dem Bedauern darüber, daß jemand, der mit den Lebensumständen von Holz nicht genau vertraut ist, gleichwohl auf eben diese Umstände anspielt und darauf seine Kritik an Holz gründet. Meine Frage war nämlich durchaus nicht »rhetorisch«, wie Grimm behauptet, sondern ich hatte in meinem Leserbrief ausdrücklich auf die diffamierenden Thesen in den Büchern von Helmut Scheuer und Gerhard Schulz hingewiesen, nach denen Holz in Wirklichkeit kein armer Poet gewesen sei, sondern sich nur dazu stilisiert habe, um auf das Mitleid des Publikums zu spekulieren. Mit dieser Frage aber steht oder fällt jedes Urteil über Holz, denn wenn er wirklich menschlich-charakterlich ein Scharlatan gewesen wäre, würde dies natürlich sofort auch Mißtrauen gegen ihn als Dichter provozieren. Nun kommt aber der kleine Trick des Herrn Grimm, der von oberflächlichen Lesern leicht zu übersehende Zusatz:

    ... obzwar nicht ohne Ironie ...

In meinem Duden steht als Definition für Ironie: »(versteckter) Spott«. Aber worauf bezieht sich der Spott in diesem Falle? Wenn ich noch des Deutschen einigermaßen mächtig bin, kann nur zweierlei gemeint sein:

Entweder war Holz kein armer Poet. Dann mag ihn die Masse zwar dafür halten, aber die kundigen Thebaner, insbesondere die Profi-Germanisten, können nur mit verstecktem Spott feststellen, daß Holz töricht genug war zu glauben, er könne die Rolle des armen Poeten spielen, ohne von scharfsinnigen Lehrstuhlinhabern entlarvt zu werden.

Oder Holz war ein armer Poet. Dann muß ihn der Spott deshalb treffen, weil er offenbar dem naiven Glauben huldigte, trotzdem literarisch erfolgreich sein zu können. Diese Art von Ironie würde ich eher als Schadenfreude bezeichnen. Oder auch als blanken Zynismus.



 

Etwas später geht Klaus M. Rarisch in diesem Zusammenhang auf einen poetologischen Aspekt ein:


Replik
(ungedruckt)

Reinhold Grimm (in: Arbeitskreis Heinrich Mann, Mitteilungsblatt – Sonderheft, hrsg. von Peter-Paul Schneider, Lübeck 1981, S. 112) gibt mir folgende Empfehlung:

    Was also zunächst das Leiernde und Epigonale des frühen Holz betrifft, so empfehle ich dem literarischen Nachlaßverwalter, zum Beispiel Verse wie »Apage, blonder Satan« aus dem Buch der Zeit aufzuschlagen.

Er fährt fort (S. 112 f.):

    Nicht einmal das berühmteste Gedicht dieser Sammlung, »Meine Nachbarschaft«, ist von derlei frei ...

Warum dies »das berühmteste Gedicht« aus dem »Buch der Zeit« sein soll, bleibt Grimms Geheimnis. Am berühmtesten, weil am meisten zitiert und am häufigsten in Anthologien aufgenommen, ist vielmehr das 13teilige Gedicht »Phantasus«, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen lyrischen Hauptwerk von Holz in Mittelachsenform (den Titel hat Holz ohnehin von Ludwig Tieck übernommen). Das Gedicht »Phantasus« aus dem »Buch der Zeit« beginnt bekanntlich:

    Ihr Dach stieß fast bis an die Sterne,
    vom Hof her stampfte die Fabrik ...

– während »Meine Nachbarschaft« so anfängt:

    Mein Fenster schaut auf einen düstern Hof,
    auf schmutzge Dächer und auf rußge Mauern ...

Ganz offensichtlich hat Grimm beide Gedichte verwechselt, was schon Schlimmes für seine wissenschaftliche Sorgfalt befürchten läßt. Wenn er nun »das Leiernde« an den metrischen und gereimten Gedichten des frühen Holz kritisiert, hätte er sich dabei auf Holz selbst berufen können, der ja bekanntlich den »geheimen Leierkasten« aus aller traditionellen Lyrik, also auch aus der seiner eigenen Frühzeit, heraushörte und ablehnte. Insofern war Holz sein eigener schärfster Kritiker. Trotzdem ist sein Verhältnis zu Reim und Metrum differenzierter zu sehen. Zunächst hat er zwar seinen lyrischen Erstling »Klinginsherz« aus den Gesamtausgaben seiner Werke verbannt, nicht aber das »Buch der Zeit«, das er somit als literarisch vollgültig gewertet wissen wollte. Zweitens hat er auch später, insbesondere in der »Blechschmiede« und vor allem in satirischer Absicht, Reim und Metrum virtuos eingesetzt. Drittens taucht, nach einer Phase der radikalen Ablehnung, der Reim zumindest als sekundäres Stilmittel in den späteren Fassungen des Mittelachsen-Phantasus bei Holz wieder auf. – – – Ich folge jetzt der Empfehlung Grimms und zitiere die Anfangsstrophe von »Apage, blonder Satan«:

    Apage, blonder Satan, laß mich los!
    Ich weiß, dies ist das Haus »Zu den drei Nymphen«,
    doch setze dich nicht gleich mir auf den Schoß
    und kokettiere nicht mit deinen Strümpfen!

Es handelt sich um fünffüßige Jamben, also um das gebräuchlichste Metrum in der deutschen Lyrik. Die Reime sind sauber, nicht getrübt wie so oft bei Heine (Gemüt/Frühlingslied). Der kreuzweise Reim wird zugleich betont und aufgelockert durch den Wechsel von männlicher (Vers 1/3) und weiblicher (Vers 2/4) Endung, wodurch die inhaltliche Konstellation zwischen Dichter und Hure trefflich symbolisiert wird. Der Reim »Nymphen/Strümpfen« wirkt frisch und durchaus unepigonal, jedenfalls für mein Empfinden. Wenn Grimm anderer Meinung ist, mag er das begründen. Unbegründete Behauptungen sollten die Domäne wissenschaftlicher Scharlatane bleiben!

Das metrische Schema der Strophe lautet:

    V–V–V–V–V–
    V–V–V–V–V–V
    V–V–V–V–V–
    V–V–V–V–V–V

Vers 1, um das Metrum zunächst einmal akustisch zu konstituieren, erfüllt das Schema korrekt, ohne Abweichungen. Alle folgenden Verse jedoch sind durch Tonbeugungen charakterisiert, was sofort klar wird, wenn man streng metrisch betonen wollte:

    2:    Ich weiß, dies ist das Haus »Zu den drei Nymphen«,
    3:    doch setze dich nicht gleich mir auf den Schoß
    4:    und kokettiere nicht mit deinen Strümpfen!

Dies wäre sinnwidrig, wie auch Grimm zugeben dürfte. Wie so oft in großer Lyrik, divergieren auch hier Metrum und Rhythmus. Der Rhythmus, der sich aus sinngemäßer Betonung ergibt, lockert das starre metrische Schema auf, verlebendigt es. Als Resultat konstatiere ich ein rhythmisches Parlando, das stilistisch der inhaltlichen Situation absolut adäquat ist.

Damit stellt sich aber die Strophe als diametrales Gegenteil einer leiernden Epigonenlyrik dar, die Holz hier unterstellt wurde.

Quod erat demonstrandum, Herr Grimm!

Klaus M. Rarisch
21. November 1981



 

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