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Klaus M. Rarisch:
Ansprache anläßlich der Enthüllung einer Gedenktafel (nicht
mehr vor Ort
) für Arno Holz in Berlin-Wedding am Hause Reinickendorfer Straße 11/12 (vormals Nr. 5) am 26. April 1989
 

Die Tafel trug folgende Inschrift:

Hier stand das Haus Nr. 5, in dem der Dichter Arno Holz (26.4.1863–26.10.1929) lebte. Seine Dichtung »Phantasus« spiegelt das Milieu wider, in dem der »Dachstubenpoet« im Wedding lebte.

*

Herr Bürgermeister, sehr verehrte Damen und Herren!

Wenn wir heute, am 126. Geburtstag von Arno Holz, eine Tafel zu seinem Gedenken einweihen, so lassen Sie mich zunächst andeuten, wie er selbst über solche Ehrungen dachte. In seiner grundlegenden theoretischen Schrift »Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze« zitierte er seine Lieblingsverse, Heinrich Heines »Schlage die Trommel und fürchte dich nicht«, und fügte hinzu: »Ja, das war er! Das Schwert auf seinem Sarge funkelt, und die Herren Hofprediger bespucken unterdessen seine Denkmäler«. Arno Holz war zeitlebens Kämpfer wie Heine. Er wußte: Denkmäler oder Gedenktafeln für einen streitbaren Dichter tragen dem so Geehrten immer auch den gesteigerten Haß seiner Widersacher ein. Die Stadt Düsseldorf liebte ihren größten Sohn nicht. Erst nach jahrzehntelangem Kampf gegen die zäh widerstrebenden Gremien konnte die Düsseldorfer Universität endlich, Ende 1988, nach Heinrich Heine benannt werden. Daß Arno Holz sich an dieser wie an zahllosen anderen Stellen seines Werkes dezidiert zu Heine bekannte, widerlegt die ebenso aberwitzige wie verleumderische Legende, er sei verkappter Antisemit gewesen. Wie die Stadt Berlin mit Holz umging, wird zu untersuchen sein.

1920 konnte man in einer Zeitschrift lesen: »Nach seinem Tode wird die gesamte deutsche Presse erschütternde Nekrologe bringen und ihm wird ganz sicher gewiß einmal irgendwo ein Denkmal gesetzt werden. Mit der Summe, die das Denkmal kosten wird, könnte dem Lebenden heute geholfen werden«. Aber leider: die öffentliche Hand auf kommunaler, preußischer oder Reichs-Ebene hat weder den Lebenden finanziell unterstützt noch dem Toten ein Denkmal gesetzt. Die Gedenktafel an seinem Geburtshaus, der Königlich privilegierten Apotheke »Zum schwarzen Adler« im ostpreußischen, jetzt polnischen Rastenburg, ist mitsamt dem Gebäude im 2. Weltkrieg zerstört worden. In Berlin existieren seit heute zwei Gedenktafeln; die erste schmückt das Haus Stübbenstraße 5, wo Holz während der letzten 19 Jahre seines Lebens in der berühmt-berüchtigten Dachkammer tagsüber arbeitete. Ferner gibt es in Steglitz eine kurze Arno-Holz-Straße und schließlich das städtische Ehrengrab auf dem Friedhof der Prominenten an der Heerstraße. Das Grab wurde im Krieg zerbombt und nach 1945 auf Initiative des Charlottenburger Kunstamtsleiters rekonstruiert; es ist also heute leer. So ist die Inschrift der Grabplatte, die Schlußstrophe seines »Phantasus«, wörtlich in Erfüllung gegangen:

Mein Staub verstob, wie
ein Stern strahlt mein Gedächtnis!

Dafnis 1904

Am Ende seines Lebens, 1929, war Holz so arm wie 1875, als er, zwölfjährig, mit der Familie nach Berlin übergesiedelt war. Er konnte nur auf zwei große literarische Erfolge zurückblicken: zum einen auf den ebenso sprachvirtuosen wie populären Gedichtband, mit dem sein Freund und Schüler Reinhard Piper 1904 in München seinen Verlag eröffnete: »Des berühmbten Schäffers Dafnis sälbst verfärtigte / sämbtliche Freß-Sauff- & Venus-Lieder benebst angehänckten Auffrichtigen und Reuemühtigen Bußthränen«, ein neobarockes »Lyrisches Portrait aus dem 17. Jahrhundert«; zum anderen war es die gemeinsam mit seinem Freund Oskar Jerschke nur aus Brotgründen geschriebebene, aber packende Tragikomödie aus dem Wilhelminischen Schülermilieu »Traumulus«; das Stück ging seit der Spielzeit 1904/05 über alle großen deutschen Bühnen, wurde später achtbar verfilmt und erlebte nach 1945 noch drei erfolgreiche Theaterinszenierungen. Alles, was Arno Holz vor und nach 1904 geschrieben und veröffentlicht hatte, brachte ihm kaum Honorare, sondern vielfach sogar Verluste ein. Aus Anlaß des 50. Geburtstages von Holz, 1913, veröffentlichte sein Freund Robert Reß eine genaue Aufstellung der literarischen Einnahmen des Dichters und zog folgende Bilanz:

    Gesamtsumme aus 20 Werken in 30 Jahren 53.375 Mark. Das macht pro Jahr eine Einnahme von noch nicht annähernd 2000 Mark. Also weniger als heute im Durchschnitt ein »gelernter Arbeiter« verdient. Wobei noch zu bemerken: bis zum »Traumulus« hatte sich das »Einkommen« des Dichters [...] auf nur etwas über 100 Mark pro Jahr belaufen. Zwanzig Jahre lang!

Anita und Arno Holz, 20er Jahre
Anita und Arno Holz
am Grundlsee/Österreich, 20er Jahre

So war Holz fast immer auf die Unterstützung durch Freunde und Verwandte angewiesen; lange Zeit konnte er nicht schreiben und versuchte stattdessen, wenn auch vergeblich, sich den Lebensunterhalt durch das Erfinden und Basteln von Kinderspielzeug zu verdienen. Sein Freundeskreis lancierte mehrmals großangelegte öffentliche Spendenaufrufe für Arno Holz, die aber per saldo auch nur Verluste einbrachten; deswegen mußte Holz sich noch von Thomas Mann verhöhnen lassen. Hätte er nicht 1910 seine spätere zweite Frau Anita kennengelernt, die aus einer wohlhabenden deutsch-argentinischen Familie stammte, wäre er zweifellos verhungert, vielleicht schon in den Notjahren des l. Weltkriegs. Danach setzte er seine ganze Hoffnung auf den Literaturnobelpreis, für den er fünf Mal vorgeschlagen wurde. 1929 votierten 460 Stimmberechtigte für Holz. Dazu schrieb am 15. Oktober 1929, also elf Tage vor dem Tod von Holz, Thomas Mann einen Brief an denselben Gerhart Hauptmann, den er zuvor, im »Zauberberg«, als großmäuligen Säufer persifliert hatte. Es heißt darin:

    Da wir bei Preisen sind: was sagen Sie zu der weitverbreiteten Nachricht, daß dank der Propaganda einer Oberlehrer-Clique, die ihn vorgeschoben hat, Arno Holz den Nobelpreis erhalten soll? ... ich würde eine solche Preiskrönung absurd und skandalös finden und bin überzeugt, daß ganz Europa sich in voller Verständnislosigkeit an den Kopf greifen würde ... Es wäre ein wirkliches Ärgernis, und man sollte wahrhaftig etwas dagegen tun.

Der etwas dagegen tat, war der Tod, denn Holz starb kurz vor der Verleihung, und der Preis durfte nach den Statuten nur an Lebende fallen. Ob Holz, hätte er länger gelebt, den Preis erhalten haben würde, ist umstritten; auf eine entsprechende Anfrage hat die Stockholmer Jury ausweichend geantwortet. Immerhin sprechen mehrere Indizien für Holz, und in diesem Fall wurde der Preis des Jahres einem Ersatzkandidaten verliehen, und der hieß – Thomas Mann. Soviel nur zur Solidarität und Kollegialität unter berühmten Schriftstellern.

In dem Haus in der Reinickendorfer Straße, übrigens in einem möblierten Zimmer, wohnte Holz 1889, also vor genau 100 Jahren; allerdings nur für kurze Zeit. Im Wedding hatte er vorher schon einmal gelebt, in der Gerichtstraße 28, 1884 bis 85. In dieser Zeit schreibt er an seinen Freund Oskar Jerschke:

    Ich glaube nachgerade, daß die Chaussee, auf welcher ich noch einmal Steine karren werde, in einem der fünf Weltteile schon projektiert ist!

Zwischendurch wohnte er im benachbarten Pankow-Niederschönhausen, im heutigen Ost-Berlin. Ein Brief, datiert vom 26.12.1887, illustriert seinen damaligen Tageslauf:

    Mein Leben ist jetzt ein sehr einförmiges. Morgens um halb neun stehe ich auf, gehe mit meinem Freund Schuft, der jetzt viel unter der Kälte zu leiden hat, eine gute halbe Stunde im Park spazieren, braue mir dann, nach Hause zurückgekehrt, meinen Kaffee, mummle den Hund in seine Decken, und setze mich schließlich um zehn an meine Arbeit. Um drei unterbreche ich sie, um mit Schuft nach Berlin zu gehen. Um nämlich die nötige Bewegung zu haben, esse ich dort. Am Wedding, bei meiner Mutter. Um sechs bin ich dann wieder zurück, lege mich bis sieben aufs Ohr, und setze mich dann bis zwölf von neuem an den Schreibtisch. Eine Maschine kann kaum regelmäßiger sein.

Das sind, halten wir es fest, täglich zehn Stunden reine Schreibarbeit: der Dichter war kaum weniger fleißig als seine Zeitgenossen in Weddinger Fabriken, nur daß er erheblich weniger verdiente. In dem Auswahlband seiner 1948 veröffentlichten Briefe lesen wir immer wieder, wie die permanente Finanzmisere sein Leben belastet. Aus der Reinickendorfer Straße ist in dem Buch nur ein einziger Brief abgedruckt, unter dem Datum vom 10.7.1889. Holz schreibt:

    Ich bin die reine Geldverdien-Maschine geworden!

Buch der Zeit 1895

Unter anderem schrieb er »aus Brotgründen« unter dem Pseudonym Fritz Erdmann für die deutschsprachige »New-Yorker Staats-Zeitung« eine Artikelserie »Die Literatur der Gegenwart. In Einzeldarstellungen«; darin behandelte er 21 zeitgenössische Autoren, z.B. Zola, Tolstoi, Ibsen, Flaubert, Maupassant, Baudelaire, Gogol, Turgeniew. Pro Artikel erhielt er 20 Mark. Bis heute ist diese interessante Sammlung nicht als Buch erschienen, ebensowenig wie sein Gedichtzyklus »Unterm Heilgenschein« von 1885. Aber in diesem Jahr 1885 ist er als einziger origineller Großstadtlyriker mit sozialkritischer Tendenz in der programmatischen, den deutschen Naturalismus begründenden Anthologie »Moderne Dichter-Charaktere« vertreten. 1885 erschien auch (auf 1886 vordatiert) sein großer Gedichtband »Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen« in Zürich, nachdem mehrere deutsche Verlage die Publikation aus politischen Bedenken nicht riskiert hatten. Für dieses Buch mit mehr als 400 Seiten hochkarätiger Lyrik erhielt Holz ein Honorar von sage und schreibe 25 Mark; nach zehn Jahren waren von der Erstauflage ganze 60 Exemplare verkauft worden. Trotzdem machte das »Buch der Zeit« den Dichter als Kühnsten seiner Generation mit einem Schlag berühmt; sein älterer Kollege, der urteilsfähige, neidlos bewundernde Detlev von Liliencron meinte: »Arno Holz ist ja wüster, rothester Socialdemokrat«, während der Berliner »Kladderadatsch« dem Verfasser den wohlmeinenden Rat erteilte, doch besser Essigfabrikant zu werden. Zwar war Holz nie Parteigenosse; mit dem braven Revisionismus des rechten Parteiflügels konnte er sich nicht abfinden. Links von ihm stand sozusagen nur noch die Wand, wenn er z.B. »An die ›obern Zehntausend‹« die Strophe richtete:

    Ein neu Geschlecht, schon wetzt es seine Schwerter,
    schon webt die Sonne ihm den Glorienschein,
    und glaubt: Es wird kein veilchenblauer Werther,
    es wird ein blutiger Messias sein!

Daß man solche Verse, daß man seine Attacken auf Thron und Altar als wüst und rot empfinden würde, wußte er. Ein Gedicht »Selbstportrait« beginnt so:

    Nur wenigen bin ich sympathisch,
    denn ach, mein Blut rollt demokratisch,
    und meine Flagge wallt und weht:
    Ich bin nur ein Tendenzpoet!

Seine ethisch-politische Gesinnung komprimiert er in zwei Zeilen:

    Für mich ist jener Rabbi Jesus Christ
    nichts weiter, als – der erste Sozialist!

Und überzeugter Sozialist blieb Arno Holz auch, nachdem das Kaiserreich abgewirtschaftet hatte. Am 5.8.1926 richtete er, im Ton überhöflich, aber in der Sache schneidend scharf, an den liberalen Preußischen Kultusminister Becker als der »ganz ergebenst Unterzeichnete« eine polemische, leider folgenlos gebliebene Denkschrift zur Emanzipation der Berliner (damals Preußischen) Akademie der Künste, in der er mit Recht das »noch immer vorhandene Vorherrschen eines antiquierten Polizeipreußentums« konstatierte. Das Memorandum umfaßte zehn Druckseiten und war sorgfältigst begründet; die einzige Konsequenz für Arno Holz als Gründungsmitglied der Sektion für Dichtkunst war eine unerfreuliche Auseinandersetzung mit dem Akademiepräsidenten Max Liebermann, den Holz doch verehrte und der in seiner Tragödie »Sonnenfinsternis« als handelnde Person auftritt.

Aber zurück zur Zeit im Wedding. 1889 war für Holz das Entscheidungsjahr; nie zuvor hatte er sich so kurz vor dem definitiven literarischen Durchbruch gewähnt. Das Gefühl, es müsse sich nun schnellstens alles ändern, war damals in Berlin weitverbreitet; der Literat und Kritiker Heinrich Hart z.B. sprach vom »Jahre des Heils 1889«. Im Januar war unter dem norwegischen Pseudonym Bjarne P. Holmsen und unter dem Titel »Papa Hamlet« ein Buch mit Prosaskizzen erschienen, das den sogenannten »konsequenten Naturalismus« begründete und wie eine Bombe einschlug. Gerhart Hauptmann widmete die Erstausgabe seines Bühnenerstlings »Vor Sonnenaufgang« – Holz hatte in uneigennützigster Weise diesen Titel formuliert und dem Buch auch einen Verleger beschafft –, Hauptmann also widmete es am 8.7.1889 dem angeblichen Norweger mit folgenden Worten:

    Bjarne P. Holmsen, dem consequentesten Realisten, Verfasser von »Papa Hamlet« zugeeignet, in freudiger Anerkennung der durch sein Buch empfangenen, entscheidenden Anregung.

Moderner Musenalmanach 1893: Arno Holz und Johannes SchlafIn Wirklichkeit stammte der »Papa Hamlet« von Arno Holz und seinem gleichaltrigen Freund Johannes Schlaf; sie hatten das Buch 1887/88 in völliger Abgeschiedenheit in Niederschönhausen geschrieben. Die Mystifikation blieb sieben Monate lang aufrechterhalten, bis Holz im Sommer 1889 aus dem damals idyllischen Vorort Niederschönhausen nach Berlin, in die Reinickendorfer Straße, zurückkehrte, um sich mit neuer Energie in den Literaturbetrieb zu stürzen. Im Vorwort zu dem Gemeinschaftsdrama »Familie Selicke« zitieren die Autoren Holz und Schlaf kommentarlos, aber mit sichtlichem Vergnügen 20 äußerst konträre, teils begeistert zustimmende, teils wütend ablehnende Kritiken aus der internationalen Presse (u.a. aus Frankreich, Dänemark, Holland und der Schweiz) über den vermeintlichen Autor Bjarne P. Holmsen, wobei sie der Kuriosität wegen anmerken, daß »Papa Hamlet« gegenwärtig, also Ende 1889, sogar ins Norwegische übersetzt werde. Holz und Schlaf, die damit ihr Arme-Leute-Drama aus dem Berliner Elendsmilieu »Familie Selicke« vorstellten, wiegten sich im Glauben an den unmittelbar bevorstehenden, ganz großen Erfolg. 1889 wurde zur Umgehung der Theaterzensur das private Vereinstheater »Freie Bühne« gegründet; dort ereignete sich am 20. Oktober der historische Premierenskandal von Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang«. Damit war Hauptmann als Bühnenautor dem Freundespaar Holz und Schlaf um entscheidende sechs Monate zuvorgekommen. Holz hatte gleichzeitig die Redaktion der Zeitschrift »Freie Bühne für modernes Leben« übernommen, die, von dem geschäftstüchtigen Kritiker und Regisseur Otto Brahm herausgegeben, zuerst im Januar 1890 erschien. Holz redigierte die Zeitschrift geschickt und mit vollem Engagement, aber vergebens: Wegen seiner konzessionslosen Haltung wurde er Brahm bald lästig und mit anderen Mitarbeitern schon im Juli 1890 aus der Zeitschrift hinausintrigiert. Hinzu kam die lieblos und halbherzig inszenierte Premiere der »Familie Selicke« an der Freien Bühne am Ostermontag, dem 7. April 1890.

Die Provokation des Bildungsbürgertums war erreicht; die konservative Presse druckte Beschimpfungen wie: »diese Thierlautkomödie ist für das Affentheater zu schlecht!« Es half nichts, daß der unbestechliche alte Theodor Fontäne in der »Vossischen Zeitung« schrieb:

    Diese Vorstellung wuchs insoweit über alle vorhergegangenen an Interesse hinaus, als wir hier eigentlichstes Neuland haben. Hier scheiden sich die Wege, hier trennt sich Alt und Neu.

Fontane stellt die »Familie Selicke« über Hauptmann und Tolstoi und fährt fort:

    Das Stück beobachtet das Berliner Leben und trifft den Berliner Ton in einer Weise, daß auch das Beste, was wir auf diesem Gebiete haben, daneben verschwindet.

Die Provokation war da, aber sie zündete nicht mehr, weil das Publikum der Freien Bühne an dem vorhergegangenen Hauptmann-Skandal genug hatte und nun in ruhigeres Fahrwasser zu steuern wünschte. Dem kam Hauptmann mit seinen nächsten Stücken entgegen. Holz und Schlaf aber hatten ihr letztes Geld verbraucht und mußten sich notgedrungen aus dem Literaturbetrieb zurückziehen. Hauptmann avancierte langsam, aber sicher zum Berliner Bühnenliebling, strich bei der Zweitausgabe seines »Vor Sonnenaufgang« die Widmung an Bjarne P. Holmsen und eignete sie stattdessen seinem Theatermentor und Propagandisten Otto Brahm zu. Schlaf konnte die seelische Belastung nicht länger ertragen, wurde nervenkrank und verlor sich in sinnlosen Prioritätsstreitigkeiten mit seinem Ex-Freund Holz. Der aber stellte verbittert fest:

    Nach Aufführung der »Familie Selicke« waren alle unsere materiellen Mittel erschöpft und – neben uns operierte Hauptmann mit, wie ich schätze, vielleicht einem Minimum von 150 000 Mark bar. Aus diesem Vergleich ergab sich als notwendig: Hauptmann mußte durchkommen, ganz gleich wann, er konnte es ja »aushallen«, er hatte 99 Chancen gegen eine, wir aber umgekehrt eine gegen 99.

Holz mußte eingestehen, diesen Kampf verloren zu haben:

    Den guten Gerhart Hauptmann [...] glaube ich in mehr als einer Beziehung bequem in die linke Westentasche stecken zu können. Nichtsdestoweniger ist er heute der große Mann, der »Reformator«, und mich pissen kaum die Hunde an!

Um sich wieder zu fangen, um für sich selbst und für die Leser die eigene Position zu bestimmen, befaßte sich Holz mit theoretischen Studien und publizierte im Herbst 1890 die schon erwähnte Schrift »Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze«. Die Reaktion darauf ist zitierenswert: »Kunst ist in dem Buche gar nicht enthalten, Wesen wird viel gemacht, und Gesetze, welche die Veröffentlichung derartiger Bücher verbieten, könnten wir gebrauchen« (Deutsche Presse, Organ des deutschen Schriftsteller-Verbandes). Nicht begriffen wurde das ästhetische Grundgesetz von Arno Holz: Kunst = Natur minus x. Es besagt unter anderem: Die Natur, in umfassendem Sinne verstanden, also sowohl Milieu und äußere Umwelt als auch die entsprechenden Empfindungen des Menschen, seine seelische Innenwelt einschließend, ist Maßstab für alle Kunst. Der Künstler strebt danach, diese Natur in seinem Werk auszudrücken und darzustellen, kann sie aber wegen der Unzulänglichkeit seiner technisch-handwerklichen Mittel nie völlig erreichen (»minus x«). Weil und indem er nach dem Unerreichbaren strebt, muß er seine ästhetischen Ausdrucks- und Darstellungsmittel ständig perfektionieren, um die Größe »x« immer mehr in Richtung Null hin zu reduzieren. Das Gesetz von Holz besagt ferner, die Kunst sei nicht, wie in aller bisherigen Ästhetik seit der Antike angenommen oder vorausgesetzt, ein Absolutum, sondern ein Relativum. Die Kunst ist für Holz ein gleichberechtigter Lebensbereich neben allen anderen. Der Künstler in seiner menschlichen Begrenztheit, eingebunden in das soziale Koordinatensystem seiner Zeit, kann daher, beispielsweise, weder propagandistischer Handlanger noch normativer Leithammel des Politikers sein. Wie eine so verstandene Wortkunst aussehen könne, stellte Holz mit seinem Hauptwerk »Phantasus« unter Beweis.

Phantasus Heft 1, 1898

Dieses Werk ist mitsamt seiner Entstehungsgeschichte einzigartig. Der Keim dazu ist bereits in dem gleichnamigen, 13strophigen Gedicht aus dem »Buch der Zeit« enthalten. Den Ur-Phantasus bilden die beiden unscheinbaren, 1898/99 erschienenen dünnen Hefte mit insgesamt 100 sehr kurzen ungereimten Gedichten in Mittelachsenform. Als erster Einstieg für neugierige Leser ist das Werk in dieser Urfassung bestens geeignet; es liegt glücklicherweise seit 1968 in der ältesten deutschen Taschenbuchreihe, preiswertest, wieder vor. In den folgenden 30 Jahren seines Lebens hat Holz am »Phantasus« unermüdlich weitergearbeitet. Er hat das Werk ständig erweitert und künstlerisch perfektioniert, zum kosmisch allumfassenden Riesenpoem gesteigert und immer wieder neue, größere Versionen davon erscheinen lassen. In der Nachlaßfassung, von Wilhelm Emrich und Anita Holz herausgegeben, füllt es drei Bände im Großformat mit insgesamt fast 1.600 Druckseiten. Nur ein Beispiel: das Gedicht »Gottseidank!« besteht im Ur-Phantasus aus ganzen 15 Zeilen. In der Nachlaßfassung ist dieses Kurzgedicht, unter dem Titel »Das Tausendundzweite Märchen«, auf 461 Seiten angewachsen; es enthält dort auch den längsten zusammenhängenden, grammatisch korrekt konstruierten und vor allem verständlich bleibenden, genußreich lesbaren und wirkungsvoll rezitierbaren Satz der gesamten Weltliteratur mit 3.720 Verszeilen.

Es ist unmöglich, den universalen Gehalt und die formvollendete Gestalt des »Phantasus« hier auch nur anzudeuten; beschränken wir uns also auf einen einzigen Aspekt, den uns die Inschrift unserer Gedenktafel vorgibt. Es heißt da, »Phantasus« spiegele etwas wider; ich werde mich hüten, auf die entsprechenden, ganze Bibliotheken füllenden Mimesis-Theorien einzugehen, denn wir sind hier nicht im Universitätskolleg. Was nun der »Phantasus« widerspiegele, sei das Weddinger Milieu. Reine Milieuschilderungen im Sinne der frühen Dramen Hauptmanns oder der populären Zeichnungen von Zille findet man im »Phantasus« nur selten, z.B. das Grunewald-Gedicht »Berliner Himmelfahrtstag« im Zille-»Milljöh« mit dem Schluß: »Zwischen weggeworfnem Stullenpapier und Eierschalen / suchen sie die blaue Blume!« – für Arno Holz ist dieser Tonfall atypisch. Ich wähle ein im Ur-Phantasus noch nicht enthaltenes Gedicht aus der Riesenfolio-Inselausgabe von 1916; es lautet:

In Berlin N.,
vor der Nazarethkirche,
sitzt <ein alter Mann> und bettelt.

Scheu, im Halbkreis, bekucken ihn sich die Kinder.

Seine Augen schwimmen,
die Haare sind Bindfäden,
sein ganzes Gesicht ist wie von Vitriol zerfressen.

Er hat keinen einzigen Zahn mehr!

Ich denke an unsre schöne Zeit am See Genezareth
und werfe ihm in den fettigen Hut meinen letzten Groschen.

Er dankt mir mit Tränen.

Dann hängt er sich zitternd in seine Krücken,
drückt gegen das rechte Nasloch den Daumen, schneuzt sich
und humpelt durch blühenden Flieder und Goldregen,
verfolgt von den Kindern,
– dem kleinsten schleift noch die Puppe nach –
schräg über den Damm hinter den Droschkenstand,
in die nächste Destille.


*

So, meine Damen und Herren, wäre es in der Tat ein Gedicht aus dem realen Milieu des Wedding um die Jahrhundertwende , als alte Bettler im Stadtbild noch keine Seltenheit waren; heute könnte man vielleicht ebenso präzise, nüchtern und phantasiefern-eindimensional etwa junge Asylbewerber in das Milieu einfügen. In dieser Formulierung würde höchstens die mild ironische Erinnerung an den See Genezareth den aufmerksamen Leser oder Zuhörer irritieren. Aber ich habe den Text bewußt falsch vorgelesen; bei Arno Holz lautet die erste Strophe richtig: »In Berlin N., / vor der Nazarethkirche, / sitzt der liebe Gott und bettelt.« Denn auch der liebe Gott beschäftigt die Vorstellungskraft und das Empfindungsvermögen des Menschen, und wenn dieser Mensch Dichter wie Holz ist, so legt ihm gerade das Proletariermilieu des damaligen Wedding die Assoziation an einen heruntergekommenen, zahnlosen, versoffenen Bettler nahe, der doch einmal der allmächtige, allgütige Schöpfer und Lenker der Welt war und dem nun nur noch die spärlichen Almosen barmherziger Passanten in den Hut fallen, sofern er nicht von einem gestrengen Schutzmann der Wilhelminischen Reichshauptstadt arretiert wird. Es ist übrigens für Arno Holz keine Glaubens- und schon gar keine Kirchenfrage: der liebe Gott bettelt ja vor der Nazarethkirche, denn drinnen würde er Anstoß erregen und schleunigst aus dem Tempel gejagt werden. Das Gedicht ist auch durchaus kein symbolistisches: wofür sollte denn Gott hier ein Symbol sein? Das Gedicht öffnet lediglich dem aufnahmebereiten Leser die Augen für soziale Zustände, die er sonst nicht wahrnehmen könnte oder wollte. Hätte Holz nämlich tatsächlich nur einen bettelnden alten Mann milieugetreu geschildert, so würden 999 von 1000 Lesern gleichgültig bleiben oder mit Sprüchen reagieren wie etwa: Ach du lieber Gott, was soll denn das, Bettler hat es immer gegeben und wird es immer geben, und wenn die noch saufen, sind sie an ihrer Misere selber schuld – warum will also der Verfasser hier in Mitleid machen? Soweit vielleicht die Zeitgenossen; ein Leser des Jahres 1989 könnte noch lässig hinzufügen: Soll der Alte doch gefälligst zum Sozialamt gehen! – Holz liefert nur (aber was heißt hier »nur«?) eine Diagnose seiner Zeit und Gesellschaft, keine Therapie; darüber und über die Gründe für diese Zustände mag der geneigte Leser selbst nachdenken. Holz vermittelt keine Moral von der Geschicht, belehrt nicht und bietet keine Patentrezepte an. Aus der Szene ein Lehrstück zu machen, bleibt Autoren vom Schlage Bert Brechts vorbehalten; unser aller Goethe hat den Stoff zu einem Lehrgedicht in holprigen Knittelversen verarbeitet, unter dem Titel »Legende«; es beginnt »Als noch, verkannt und sehr gering, / Unser Herr auf der Erde ging ...« und endet mit der Schulmeisterweisheit »Wer geringe Ding’ wenig acht’t, / Sich um geringere Mühe macht«; vielleicht kennt der eine oder andere das Gedicht noch aus der Schule, wo es auch hingehört.

Socialaristokraten 1896Als der Ur-Phantasus kurz vor der Jahrhundertwende erschien, hatte Holz gerade eine neue Enttäuschung hinter sich: die von ihm selbst veranstaltete und finanzierte Premiere seiner Literatur- und Polit-Komödie »Sozialaristokraten« am 15. Juni 1897. Der blutjunge Max Reinhardt spielte mit, wollte später als Theaterpapst aber nicht mehr daran erinnert werden. Holz schilderte den Ablauf rückblickend auf 17 Phantasus-Seiten ebenso wahrheitsgetreu wie amüsant und anrührend: Riesenerfolg beim Publikum und gnadenloser Verriß des Starkritikers, späteren Burgtheaterdirektors und Hauptmann-Freundes Paul Schlenther, der das Stück als »Bierulk« abtat. In Wirklichkeit war es eine der wenigen bühnenwirksamen Komödien der deutschen Literatur mit einem zentralen Thema des Naturalismus, dem unglücklichen Verhältnis zwischen kleinbürgerlichen Literaten, den »lebensreformerischen« Halb-Bohemiens in Friedrichshagen, und der SPD nach dem Erfurter Parteitag. War das Stück also 1897 von größter Aktualität, so erwies es sich eine Generation später, 1933, als schier unglaublich hellsichtige Prophezeiung, denn es sagt den Aufstieg einer radikal antisemitischen Karrieristen-Partei voraus. Mit seinem Bühnenhelden hat Holz den Typus Goebbels vorweggenommen, aber leider vergebens: das Stück verschwand in der Versenkung.

Es erübrigt sich, auf die Handlung einzugehen; man wird sich ja hier noch an die glanzvolle Neuinszenierung von 1980 im Schloßparktheater erinnern, über die ca. 200 Zeitungen und Sender berichteten und die mehr als 70 Vorstellungen bei stets vollem Hause erlebte. Ich hatte damals als Nachlaßverwalter von Holz die Freude und das Vergnügen, Boy Gobert auf dieses für Berlin so typische Stück hinzuweisen; er akzeptierte sofort und inszenierte als Intendant selbst mit Engagement und mit dem für Holz leider so seltenen durchschlagenden Erfolg. Zum Dank dafür wurde Boy Gobert von Herrn Hassemer entlassen. Auch dies ein Indiz dafür, wie man – abgesehen von rühmlichen Ausnahmen weniger einzelner – mit Arno Holz in der Berliner Kulturpolitik umspringen zu dürfen glaubt.

Ignorabimus 1913

Die »Sozialaristokraten« sind das erste Stück des Holzschen Dramenzyklus »Berlin. Die Wende einer Zeit«; es folgten noch die schon erwähnte Künstlertragödie »Sonnenfinsternis« (1908) und die riesenhafte, um metaphysische und erkenntnistheoretische Gipfelprobleme kreisende Wissenschaftlertragödie »Ignorabimus« (1913), mit der Holz einen Gegenfaust geschaffen und in der er u.a. den Ausbruch des 1. Weltkriegs prophezeit hat. Beide Dramen spielen nicht nur, mehr oder weniger zufällig und beliebig wie viele anderer Autoren, in Berlin, sondern thematisieren in unvergleichlicher Weise das Kultur- und Geistesleben unserer Stadt zu einer Zeit, als sie noch wirkliche Metropole war. Trotzdem oder gerade deswegen sind beide Stücke in Berlin noch nie aufgeführt worden. »Ignorabimus« erlebte nur eine einzige deutsche Inszenierung in stark gekürzter Textfassung, 1927 unter dem jüdischen Regisseur Berthold Viertel und mit seiner Frau Salka Steuermann als weiblicher Hauptdarstellerin; sie hatte sich leider mit der enorm kräftezehrenden Riesenrolle übernommen und wurde lebensgefährlich krank, so daß das Stück schnell abgesetzt werden mußte. Es wäre ohnehin vergeblich gewesen: die Uraufführung im Düsseldorfer Schauspielhaus hätte das einheimische Publikum, das schon mit dem eigenen Heinrich Heine wenig anzufangen wußte, in jedem Falle überfordert.

1979, anläßlich des 50. Todestages von Arno Holz, hätte Berlin Gelegenheit und Pflicht zur Wiedergutmachung an dem Dichter gehabt. Aber es geschah so gut wie nichts. Die »Familie Selicke« wurde in der Schillertheater-Werkstatt halbherzig und kostensparend nur als szenische Lesung vorgestellt. Mein Vortrag des längsten Satzes in der Staatsbibliothek wurde von der gesamten Presse ignoriert; desgleichen , obwohl in Berlin gesendet, meine Hörspielbearbeitung des Riesenpoems »Die Blechschmiede« von Arno Holz. Die Bundespost, und zwar die Entscheidungsgremien in Bonn und Berlin, lehnte eine Sondermarke für Holz ab und ehrte stattdessen, wie zum Hohn, seine ostpreußische Landsmännin Agnes Miegel, die nach 1933 »feierlichst« ein »Gelöbnis treuester Gefolgschaft« zu Adolf Hitler unterschrieben und entsprechende Führerhymnen verfaßt hatte. Die Abteilung Literatur der West-Berliner Akademie der Künste distanzierte sich von ihrem ehemaligen Gründungsmitglied Arno Holz und überließ es der Abteilung Darstellende Kunst, den Dichter auf Initiative von Walter Huder mit einer begeistert aufgenommenen Lesung zu würdigen. Die Anregung, am 50. Todestag einen Kranz auf dem Ehrengrab des Dichters niederzulegen, wurde vom damaligen Kultursenator nicht einmal beantwortet, geschweige denn in die Tat umgesetzt.

Ich komme zum Schluß. Vorher möchte ich Ihnen das italienische Prato vorstellen. Das ist eine Industriestadt mit 143.400 Einwohnern und entsprechender Sozialstruktur, quasi der unbekannte Hinterhof des nahegelegenen Weltkulturzentrums Florenz. In vielem ist Prato dem Wedding ähnlich, wo das Statistische Jahrbuch von Berlin Ende 1987 139.200 Einwohner zählte; vielleicht hat der Herr Bürgermeister neuere Zahlen, aber in dieser Größenordnung spielt das keine Rolle. Was der Wedding leider nicht besitzt, ist das Besondere und Einmalige im Weltmaßstab in Prato: eine aufs allermodernste ausgestattete und großzügigst subventionierte Experimentalbühne, das »Teatro Fabbricone« im Gebäude einer ehemaligen Plastikfabrik. Dort wurde am Pfingstsonntag, dem 18. Mai 1986 ein Wunder wahr, dort vollzog sich das theatralische Jahrhundertereignis: die zuvor von allen sogenannten Experten, von allen routinierten Bühnenpraktikern für unmöglich erklärte Aufführung des »Ignorabimus« in voller Länge, ungekürzt, von Spitzenkräften italienischer Regie-, Darstellungs- und Bühnenbildkunst realisiert. Die italienische Übersetzung, die gleichzeitig auch als Buch erschien, stammte von Cesare Mazzonis, dem künstlerischen Direktor der Scala in Milano. Regie führte der auch dem Berliner Publikum schon lange nicht mehr unbekannte Luca Ronconi, neben Giorgio Strehler der Größte seines Fachs in Italien. Die Aufführung dauerte einschließlich der Pausen zwischen den fünf Akten genau zwölf Stunden, und was kein Theaterwissenschaftler je für möglich gehalten hätte: die Zuschauer verhielten sich äußerst diszipliniert, nahmen regesten Anteil, waren gepackt, ja hingerissen und applaudierten orkanartig, wie die gesamte italienische Presse in teilweise triumphalen Kritiken bestätigte. Ein Journalist schrieb, man hätte vor Freude verrückt werden können; ich stimme ihm zu und verzichte auf weitere Superlative. Voraussetzung für dieses Wunder waren sechs Monate intensiver, ganztägiger Probenarbeit; die Produktionskosten einschließlich des monumentalen Bühnenbildes aus Marmor, Granit und Eisenzement wurden zwar nie bekanntgegeben, aber auf anderthalb Milliarden Lire gleich zweiundeineviertel Million DM geschätzt. Die Region Toscana brachte einen Teil der Kosten aus öffentlichen Mitteln auf; daß die ansässigen Großunternehmen sich daran beteiligten, war für sie ebenso selbstverständlich, wie dies, beispielsweise, die Weddinger Firma Schering als kuriose Zumutung empfinden würde. Es blieb in Prato nicht etwa bei der einen Aufführung; es folgte noch eine ganze, stets erfolgreiche Vorstellungsserie im Frühjahr und Herbst 1986.

Ignorabimus in Prato

In Deutschland erschienen darüber ganze drei Kritiken, davon eine lauwarme und zwei Verrisse. Was Wunder, daß sich daraufhin alle deutschsprachigen Bühnen so desinteressiert wie eh und je zeigten. Wer das Stück kennt (aber wer kennt es schon?), weiß, daß es nach Berlin wie kein anderes gehört. Man hätte es als selbstverständlich erwartet, daß Berlin das italienische Ensemble zu einem Gastspiel einladen würde, zumal 1987 (750-Jahrfeier) oder 1988 (Europäische Kulturmetropole). Geld hätte keine Rolle spielen dürfen; es wurde ja rücksichtslos für ebenso seichte wie defizitäre Massenunterhaltungsrevuen am Wannseestrand oder rings um die Siegessäule verpulvert. Es haben meine diesbezüglichen Anträge, teils ohne Begründung, teils unter grotesken Vorwänden, abgelehnt: der Kultursenator, der Chef der Berliner Festspiele GmbH, der Kulturausschuß im Abgeordnetenhaus. Man wollte offenbar das Wählervolk lieber durch niveauloses Spektakel bei der Stange halten, als es ein einziges Mal mit berlinspezifischer Spitzenkultur zu konfrontieren. Ein einmalige Chance war vertan.

Arno Holz hat ein Phantasus-Gedicht in den Dialog des »Ignorabimus« übernommen; es beginnt: »Unser bestes / Sehnen / schreit nach Gerechtigkeit!« Wenn unsere Gedenktafel nur ein wenig dazu beitragen könnte, dem Dichter selbst Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so hätte sie ihren Zweck erfüllt.


Rechte bei Klaus M. Rarisch