Es ist eine alte dadaistische Forderung, endlich die Sexualverhältnisse vernünftig (und das heißt in Deutschland: von staatswegen) zu regeln. Aber was alt ist, braucht noch längst nicht falsch zu sein; was nicht ist, kann noch werden; und was dem Koitus recht ist, ist dem Exitus billig. Unsere freiheitliche demokratische Grundordnung sollte sich – schon aus luftschutztechnischen Erwägungen – in den Untergrund des Seienden zurückziehen, wo Es sich, vom eitlen So-Sein entblößt, als das reine Wesende offenbart. Die Gleichheit, wie das Gesetz sie uns befahl, kann sich rein nur im absoluten Weltinnenraum realisieren: im MASSENGRAB. Das strahlendste Weiß unseres Lebens wird bisher noch immer übertroffen von dem Weiß der Asphodelen, Wachskerzen, Leichentücher und Sargkissen erster Klasse. Für die Hinterbliebenen wird ein Genuß ohne Reue dadurch zunichte. Es lebe der schlichte Sozialfürsorgesarg, es lebe das Demonstrationsbedürfnis unserer Anatomien! Aber was bedeuten diese Faktoren schon gegenüber einem salbungsvollen Nekrolog auf den Einzigen und sein Eigentum, auf den teuren Verblichenen X. und seinen nicht minder teuren Sarg von der Firma Y. Die Summe solcher Nekrologe nennt sich trotz Dada noch immer »Kunst«, und zwar »Neue Kunst« – offenbar weil es immer wieder neue, individuelle Leichname gibt. Das Schnittmuster, nach dem hier Pietät für Abgeschiedene und Pikanterie für Überlebende von der Stange geliefert wird, wechselt die Namen nach der Mode: mal heißt es »sozialistischer Realismus«, mal »konkrete Poesie«, mal »wie-denke-ich-morgen« ... nennen wir es der Einfachheit halber doch: Schema F (F wie Freiheit gleich Bindung lies religio sprich Sittengesetz vergleiche §§ 166, 175, 218). – IHR wollt in Schönheit sterben – wir in Wahrheit: die nackte Wahrheit unseres Sterbens ist das MASSENGRAB. Es ist an der Zeit, definitiv festzustellen: eine »Neue« Kunst kann es nicht geben, denn es gibt keine alte. DU, der du dieses Manifest vielleicht einmal lesen wirst, du schreibst jetzt ein Gedicht, während sich in der besten aller Welten die alten Hekatomben wieder neu füllen – : also nimmst du in diesem Augenblick schon deinen Tod vorweg, denn wie könntest du sonst, dich im Nichts aufhebend, das Werk gebären. Kunst projiziert metathetisch ihre leere Zukunft in das überfüllte Gefangenenlager der Gegenwart – und nicht umgekehrt nach Art der Utopisten. Aber Bett stinkt bei Bett! Es ist stets die gleiche Verwesung, der eine uralte und immer wieder neue Tod, der war, ist und sein wird ... hörst du ihn nicht unerbittlich nach dem MASSENGRAB schreien? – Arno Holz löste sein ethisches Problem für alle Zeiten mit dem Satz: »GOTT IST NICHT, GOTT WIRD« – auf die ästhetischen Fragen unserer Zeit können wir nur eine Antwort geben: KUNST IST NICHT, KUNST WIRD NICHT, KUNST WIRD GEWESEN SEIN. Unsere Zeit ist reif für die Apokalypse, ihr Menschenmaterial dem MASSENGRAB verfallen, mit Notwendigkeit läßt sich jetzt nur noch eine Kunst finden: die letzte. Durch unser Credo tönt schweigend die ULTIMA ARS.

Berlin, im März 1961 – ERNST J. BERTHOLD, DR. R. BLEICH, FELICIA BRANDT (Utrecht), RICHARD HUELSENBECK (New York), RICHARD KLAUS, KLAUS M. RARISCH, NICCOLO SOSIA (Venedig), JOHANNES TEUFEL, DIETER VOLKMANN.
 

SONG AUS DEM MASSENGRAB

O Sternenhimmel! O Sittengesetze!
Wir kratzten ab die blutige Krätze,
       Wir kratzten ab!

O Landesväter! Teures Vaterland!
Dein Dank klatscht dreifach aus der hohlen Hand
       Auf uns herab!

Für den Sieg, für das Heil, für den Fürundfür!
Eine Handvoll Erde, c’est la nature –
       Und nicht zu knapp!

Die Erde fraß uns, wir fressen sie wieder
Und schweigen, denn im Gesangbuch die Lieder
       Machen uns schlapp!

Wir liegen – Männer, Frauen – schlecht und recht,
Uns faulten Augen, Nase und Geschlecht
       Schon lange ab!

Doch Kreuze, Kreuze, Kreuze uns entsprießen,
Die wie Giftpilze aus der Erde schießen,
       Aus unserm Grab!

Daß keiner uns von Auferstehung schwätze!
Wir kratzten ab die letzte fromme Krätze,
       Wir kratzten ab!