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DIE SYNKOPE
Ein poetologischer Exkurs (März 2007)
für Klaus M. Rarisch

Zu dem Sonett von Radu Stanca: Ich würde wegen der Synkope Vers 6 so formulieren:

 

So saugen wir der Himmelsstrahlen Brand

Vielleicht akzeptierst Du die Änderung wenigstens diesmal; denn jedenfalls ist in Deiner Version das »ein« sprachlich überflüssig.

Klaus M. Rarisch am 20. März 2007 an Ernst-Jürgen Dreyer


… hat mir Deine Übersetzung »Schließe ich die Augen« uneingeschränkt gefallen, im Gegensatz zu anderen Gedichten von Radu Stanca. Der Text ist reimtechnisch und metrisch (weil synkopenfrei) makellos.

Klaus M. Rarisch am 24. März 2007 an Ernst-Jürgen Dreyer

 

 


Lieber Klaus, Deine Gleichung »metrisch (weil synkopenfrei) makellos« soll mir endlich Anlaß werden zu einer poetologischen Gretchenfrage: Was hast du eigentlich gegen die Synkope? oder genauer gesagt: gegen die spezielle Synkope — u u — am Zeilenanfang eines Jambus? wie ich sie in einer Radu-Stanca-Übersetzung folgendermaßen anwende:

Lang ausgestreckt und leer von allen Dingen
Saugen wir ein der Himmelsstrahlen Brand.

Diese Frage muß ich endlich einmal stellen, nachdem die Synkope in unserer Sonettkorrespondenz schon so oft ein Streitpunkt gewesen ist. Ich erinnere mich, daß Dir schon in meiner deutschen Fassung von Petrarcas »Canzoniere« die Synkope ein Dorn im Auge war –,

 

Irrender Vogel, der du singend ziehest

– obwohl – oder weil? – sich meine Fassung rhythmisch der italienischen Urform anschmiegte:

 

Vago augeletto, che cantando vai.

Zu diesem Beispiel bemerkt ja das Nachwort zum »Canzoniere«:

Der Zeilenbeginn »Irrender Vogel« scheint der Auftaktigkeit des fünffüßigen Jambus so zuwiderzulaufen, daß um den Synkopenreichtum der vorliegenden Übersetzung in der darüber mit Kennern, Liebhabern und Meistern des Sonetts geführten Korrespondenz immer wieder Kontroversen entbrannten.

»Meister des Sonetts« – damit warest vordringlich Du gemeint, und Dein Gegenargument gegen meine Lösungen war hauptsächlich die Andersartigkeit der italienischen Verstradition. In der Tat ist der italienische Endecasillabo von einer ganz anderen Versatilität als der deutsche Elf- bzw. Zehnsilber: seine Betonungen können sich vom jambischen Grundmuster ( u — u — u — u — u — u ) über jede Art Verschiebung nahezu bis zum Daktylos umgruppieren ( — u u — u u — u u — u ), und zwar in den Zeilen ein und desselben Gedichts. Ein berühmtes Beispiel solch quasi-daktylischer Gruppierung ist folgender Sonett-Anfang – ebenfalls aus Petrarcas »Canzoniere«:

 

Se la mia vita da l’aspro tormento / (…)

So weit bin ich dem Original denn auch nicht gefolgt – die Synkope ( — u u — ) habe ich aber auch hier nicht verschmäht:

 

Kann sich mein Leben von den harten Qualen/ (…)

Aber nicht allein Petrarcas Synkopen gaben Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten, sondern zum Beispiel auch die Betonungen Gottfried Benns, von dem ich Dir einmal Nr. III des Gedichts »V. Jahrhundert« mit Bewunderung zitierte:

 

Leuké – die weiße Insel des Achill!
Zuweilen hört man ihn den Päan singen,
gel mit den vom Meer benetzten Schwingen
streifen die Tempelwand, sonst ist es still.

Besonders bewunderte ich die Zeilen 3/4, deren letzte exakt das Betonungsmuster aller bisher zitierten Verse wiederholt. Zu meiner Überraschung begründetest Du Benns Synkopen mit dem »unmusikalischen Ohr« des Dichters. Du sagtest sinngemäß, manche hörten den Mißklang eben einfach nicht (Du wirst den Wortlaut anhand Deiner Briefkopien genauer verifizieren können).

In diesem Urteil sehe ich ein grundsätzliches Mißverständnis der Synkope, die doch in der Dichtung genau so unverzichtbar ist wie in der Musik, wo die »Verlagerung der Betonungen« – laut Musiklexikon – »einen spannungsvollen Konflikt zwischen Metrum und Rhythmus« erzielt. In den Versen Benns korrespondiert die Synkope darüber hinaus aufs feinste mit dem poetischen Bild: Kann man die Verse 1/2 mit ihren Gräkismen »Leuké«, »Achill« und »Päan« der starren Tempelarchitektur vergleichen, so kommen die Möwen der Verse 3/4 deren Metrik zu nahe: sie »streifen die Tempelwand«; sie verletzen – rhythmisch (das heißt »fließend«, wie ja auch das Meer und die Bewegung der benetzten Schwingen »fließend« sind) – die starren Abstände des Metrums. (Diesem »Fließen« – griechisch »rhein«, dem Wurzelwort auch des Begriffs »Rhythmus« – werden wir im »Römischen Brunnen« von Conrad Ferdinand Meyer wiederbegegnen.)

Aber ich erlebte im Briefwechsel mit Dir noch ganz andere Überraschungen. So hieß es ursprünglich in Deinem »Prolog zum Abendland«:

 

Stall des Augias, nicht mehr auszumisten.

Auch diese Durchbrechung Deiner Auftakte habe ich Dir einmal mit naiver Begeisterung gepriesen. Ich hätte es besser unterlassen; denn statt einzustimmen, danktest Du mir überschwenglich dafür, daß ich Dich auf einen Dir bis dato entgangenen Makel aufmerksam gemacht hätte, und revidiertest die Zeile wie folgt:

 

Augiasstall, der nicht mehr auszumisten.

Nie zuvor und nie danach habe ich es so bedauert, einen Dichter auf Schönheiten seiner Verse aufmerksam gemacht zu haben. Denn die Ersatzlösung steht m.E. der ursprünglichen Formulierung weit nach. An dem Vers, wie er ursprünglich dastand, beeindruckte (mich) nicht nur der »spannungsvolle Konflikt zwischen Metrum und Rhythmus«, wie er in allen zitierten Beispielen dem Sich-Spannen einer Feder gleicht. Sondern der Vers war auch grammatisch völlig im Lot. Die Revision glättet ihn in der Tat, aber – wenn man schon die »glatte« Fassung vorzieht – der Preis ist zu hoch. Die Glättung (genauer: Erschlaffung) verdankt sich der Einfügung eines schwachbetonten Füllworts, wie Du es ja (im Falle Radu Stanca) auch mir vorschlägst. Schwachbetonte Füllwörter aber sind nicht nur semantisch überflüssig; das Füllwort »der« Deiner Neufassung ist sogar schädlich. Es hebelt die »Ellipse« der ursprünglichen Fassung aus, macht aber auch keinen Relativsatz daraus. Mit einem »der« ohne finales »ist« ist die Zeile nun weder Fisch noch Fleisch.
Überblicken wir die bisher zitierten Synkopen, so finden wir ihr Grundmuster überall identisch: Das Metrum u — u — ist durch das Vorziehen der Betonung auf den Auftakt aufgerauht zu — u u — . Vergleicht man der taktgemäßen Folge ( u — u — ) die synkopische ( — u u — ), so sieht man die vierte Silbe, zu der hin sich das Metrum staut und entlädt, einen viel stärkeren Akzent gewinnen, als ihn die taktgemäße Verteilung der Betonungen schüfe. Man vergleiche die Beispiele untereinander:

 

Saugen wir

ein der Himmelsstrahlen Brand

Irrender

Vogel, der du singend ziehest

Vago auge-

letto che cantando vai

Kann sich mein

Leben vor den harten Qualen

Stall des Au-

gias, nicht mehr auszumisten

Wie sich zeigen wird, kann dieser Sonderakzent über die vierte Silbe auch hinwegspringen.


Ich wiederhole nun meine Behauptung, daß die Synkope – und speziell diese –, weit entfernt, eine italienische Sondererscheinung, und noch weiter davon entfernt, ein Makel zu sein, für die deutsche Lyrik konstitutiv ist, so weit, daß ich für mein Teil fast sagen kann: sie ist es, die mir den deutschen Jambus lieb und teuer gemacht hat. Diese Behauptung will ich durch eine Miniatur-Anthologie deutscher Dichtung belegen. Daß sie nur 24 Nummern enthält, liegt im Interesse der Knappheit meiner Darstellung – ich mache mich anheischig, sie auf jedes Format zu erweitern und um alle Namen zu bereichern, die hier fehlen.

Meine »Anthologie der Synkope« beginnt mit dem Minnesang des Kürenbergers –

 

Wīp unde vederspil diu werden līchte zam

– und den alten Volksliedern –

 

All mein Gedanken, die ich han, die sind bei dir!

– und führt über die Sinngedichte des Friedrich von Logau –

 

Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen?
Küß eine weiße Galathee: sie wird errötend lachen

– zum »Cherubinischen Wandersmann« des Angelus Silesius:

 

Mensch, was du liebst, in das wirst du verwandelt werden.
Gott wirst du, liebst du Gott, und Erde, liebst du Erden.

Zwischen Barock und Klassik steht Matthias Claudius:

 

Vorüber! Ach vorüber!
Geh, wilder Knochenmann!

Goethes schönste Gedichte beginnen synkopisch, –

 

Kennst du das Land wo die Zitronen blühn

– und bitte zähle die Synkope einmal in den fünf Strophen von Goethes »Nachtgesang«!

 

O gib, vom weichen Pfühle,
Träumend, ein halb Gehör!
Bei meinem Saitenspiele
Schlafe, was willst du mehr?

Bei Schiller ist die Synkope schwebend allgegenwärtig – im »Ring des Polykrates« so –

 

»Herr, diesen Fisch, den ich gefangen,
Wie keiner noch ins Netz gegangen,
Dir zum Geschenke bring ich ihn«

– und im Schauspiel (»Wilhelm Tell«):

 

Blind also! Wirklich    b l i n d   und    g a n z   geblendet?
(…)
Sterben ist nichts – doch    l e b e n    und nicht    s e h e n,
Das ist ein Unglück (…)

In beiden Versen Melchthals (in »Wilhelm Tell«) wird der Sonderakzent auf der vierten Silbe durch den auf der sechsten, ja auf der achten bzw. zehnten noch übertroffen, weshalb Schiller auch Wörter unterstreicht, die sowieso kein Schauspieler der Welt unbetont lassen würde (»l e b e n    und nicht    s e h e n«). Die kinetische Energie der Synkope reicht so weit, den Sonderakzent über den ganzen Vers hüpfen zu lassen wie einen über das Wasser geschnippten Stein; und zumindest im zweiten der zitierten Verse verdankt sich die Unterstreichung nicht der Sinnverdeutlichung, sondern dem Gehorsam, mit dem der Dichter diese Schwungkraft der Synkope bestätigt.
Der Romantik – etwa Clemens Brentanos – ist die Synkope ebenfalls unentbehrlich, sogar im Sonett:

 

Strahl, Himmelslicht! Flamm, Hölle, zu der Erden!
Brich der Verzweiflung rasende Gewalten!
Enthüll! verhüll! – das Freudenbett – die Bahre!

Die magischen Verse aus Brentanos »Libussa« haben die Synkope in jeder Zeile, die mit »Still« anfängt:

 

Still ist der graue Wolf, der list’ge Laurer;
Doch würgt die Herrin er, die in dem Duft
Der Blumen sorglos an dem Quell entschlafen,
Und treibt ein blutig Spiel mit ihren Schafen.
Still schwebt der Adler bläulich in der Luft,
Wie eine Locke aus des Donnrers Bart,
Nicht schreit er, so die Tauben er gewahrt,
Die auf dem dunklen Saatfeld schimmernd spielen,
Nicht stummer kann ein Pfeil vom Bogen zielen.
Still sind die tiefen Wasser, hohe Not
Holt leisen Odem, und es schweigt der Tod.

Auch bei Eichendorff enthält ein Sonett – »Jugendandacht« – eine starke Synkope in der Mitte des zweiten Terzetts –,

 

Geheimnisvoll gehn oben goldne Sterne,
Unten erbraust viel Land in dunklen Wogen –
Was zögerst du am unbekannten Rande?

– und ebenso starke Synkopen in der Mitte der Schlußstrophe zeigt seine berühmte »Mondnacht«. Schumann hat beide bewußt auskomponiert und der vierten Silbe – »Flügel« (bzw.«stillen«) den oben erwähnten Akzent verliehen:

 

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Platen nutzt die Synkope im Sonett –

 

Ja, der sogar, der ruhig und gelassen
Mit dem Bewußtsein, was er soll, geboren,
Frühzeitig seinen Lebensgang erkoren,
Muß vor des Lebens Widerspruch erblassen

– und im Ghasel:

 

Einförmig stellt Natur sich dar, doch tausendfältig ist ihr Tod.

In Heines »Buch der Lieder« ist die Zahl der Synkopen Legion:

 

Ich grolle nicht, und wenn das Herz auch bricht,
Ewig verlornes Lieb! ich grolle nicht

Du schönes Fischermädchen,
Treibe den Kahn ans Land

Aus deinen Augen liebevoll
Fielen die Tränen nieder.

Mörikes »September-Morgen« zieht seinen Zauber nicht zuletzt aus der synkopischen Plazierung des starken Epithetons »herbstkräftig«, das »normalerweise« im Jambus ja gar keine Stelle hätte – ebensowenig wie »irrender« (Petrarca/Dreyer) oder »frühzeitig«, »einförmig« und »wollüstig« (Platen):

 

Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
Den blauen Himmel unverstellt,
Herbstkräftig die gedämpfte Welt
In warmem Golde fließen.

Nebenbei gesagt, bestätigt die Zeile die bei Schillers »Tell«-Zitat angestellte Beobachtung: die vierte Silbe ist zwar eine Hebung des vierfüßigen Jambus, trägt aber keineswegs den behaupteten Sonderakzent. Daß dieser über die vierte Silbe hinweg auf die sechste (achte, zehnte) überspringt, ist mit nachträglich geschärftem Ohr auch anderen der zitierten Gedichtzeilen abzulauschen –

 

Gott wirst du, liebst du Gott (Angelus Silesius)
Schlafe, was willst du mehr (Goethe)
Still ist der graue Wolf, der listge Laurer (Brentano)
Unten erbraust viel Land in dunklen Wogen (Eichendorf)

– und namentlich einer der zitierten Ghaselen-Verse Platens macht auf noch ganz andere Komponenten aufmerksam, die bei der Akzentverteilung eine Rolle spielen – zum Beispiel die Alliteration:

 

Einförmig stellt Natur sich dar, doch tausendfältig ist ihr Tod.

Trägt in Mörikes Zeile der zweite Versfuß eine gar noch schwächere Arsis als bei Platen, so machen doch auch hier der dritte und der vierte die Schwäche wett:

 

Herbstkräftig die gedämpfte Welt (…)

Mörikes Imperativ dagegen fügt sich zudem ganz dem schon bei Friedrich von Logau, bei Claudius, Brentano und Heine beobachteten Muster:

 

Sie sind erlesen schon,
Denk es, o Seele,
Auf deinem Grab zu wurzeln und zu wachsen.


Abschließen will ich die Blütenlese mit drei Gedichtbeispielen, die (wie oben Goethes »Mignon«) gleich mit der Synkope beginnen. Nämlich mit Hebbels »Herbsttag« –,

 

Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah

– mit Conrad Ferdinand Meyers synkopisch aufspringendem Wasserstrahl im Gedicht »Der römische Brunnen« –

 

Aufspringt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund

– und mit Stefan Georges »Totgesagtem Park«:

 

Komm in den totgesagten Park und schau (…)


Fast alle diese Beispiele finde ich beim Durchblättern einer einzigen Anthologie (»Das deutsche Gedicht«, Sammlung Dieterich Bd. 91). Ihr zufolge waltet die Synkope bereits im lateinischen Hymnus des Hrabanus Maurus –,

 

Veni creator spiritus,
mentes tuorum visita,

dessen zweiten Vers Goethe übrigens rhythmisch ganz getreu, nämlich ebenfalls synkopisch, übersetzt:

 

Komm, deine Seelen suche heim.

Da haben wir sie bereits – im Lateinischen und im Deutschen gleich paradigmatisch –, die rhythmische Stauung des Metrums und ihre Entladung zur vierten Silbe hin, kurz, die Synkope, die Du so verabscheust. Für mein Gefühl ist sie die Seele des Jambus – und selbst wenn Du mir darin nicht zustimmst, so wirst Du anderseits auch kaum einwenden wollen, meine Blütenlese sei eine Zusammenstellung stümperhafter Verse, von denen Du Dich prinzipiell nur distanzieren kannst.

Dagegen nun die »so ganz andere Lyrik« Klaus M. Rarischs – »metrisch (weil synkopenfrei) makellos« (wie man doch wohl schließen muß). Aber ist es denn überhaupt denkbar, zwar a) den Jambus beizubehalten, sich aber b) im Verzicht auf die Synkope radikal von der Dichtungstradition abzukoppeln – aus Gründen eines skurrilen und traditionslosen Purismus? Oder weiß es Dein lyrisches Ich besser, als Dein Dogmatismus ihm zugesteht? Machen wir die Probe aufs Exempel und öffnen wir Rarischs Gedichtband »Die Geigerzähler hören auf zu ticken« (1990). Ich habe das Buch allzuoft gelesen, als daß sich mein Exemplar nicht von selbst aufschlüge – sagen wir, um die Seite 60 herum –:

 

Blutlaugensalzbeladen ziehn die Kähne

– S.61 Vers 1 –,

 

Krank wie der Arzt, der seinen Arzt nicht fand

– S.62 Vers 1 –,

 

Zusehends dünner wird die Haut der Welt

– S.67 Vers 2:

 

Richtend auf uns den strengen Richterstab (…)

Jede dieser Zeilen gliedert sich in ihrer rhythmisch-metrischen Struktur dem Bild des deutschen Jambus ein, wie ich es entworfen und exemplifiziert habe. Womöglich wirst Du die zitierten Verse als »Jugendsünden« verurteilen. Dann gehen wir zu den Sonetten 100 und 101 über, den letzten des Buches, und zitieren aus Deinem Jahrhundertsonett MENSCHÜBER – MENSCHUNTER, S.105, die Schlußverse 13/14 –

 

Mordkutschertat Turin – ein Geist stürzt ein:
Weltwundwahndunkelwunschverlorenheit.

Und vom Schlußgedicht GRUPPENBILD OHNE DAME, S.106, Vers 15 – die das ganze Buch abschließende Coda des einzigen »Sonetto caudato« und zugleich die Selbstcharakterisierung des Dichters:

 

Nur ein poète maudit, ein Visionär.

Auch dies noch »Jugendsünden«? So zwingst Du mich denn, aus Deiner allerletzten Veröffentlichung zu zitieren – »Entferntere Nirwanen«, Meiendorfer Druck Nr.60, Hamburg 2007 –, die noch druckfrisch vor mir auf dem Tisch liegt.
NUR EINE ROSE ALS STÜTZE, Anfang –,

 

Ein Arbeitsplatz für tausend Arbeitslose.
Was tun? Verlosen? Oder auch verschenken?
Neunhundertneunundneunzig andre kränken
sich ölsardinengleich in enger Dose.

DIE TONNE, Vers 8, –

 

Geh aus der Sonne mir, laß dich nicht mahnen!

LIEBST DU? Vers 1, –

 

Liebst du? um was? Um Liebe? Nun, so wisse:

– Vers 5 (nach Goethes Muster), –

 

Kennst du das Land, das dir Gewissensbisse/ gewährt (…)

– und Vers 7:

 

Hältst du ein Höheres nicht hoch in Ehren?

SURSUM CORDA! Vers 14:

 

Längst nahm ein Knochenmann uns ins Visier.

WÜRDE, Vers 6:

 

Wer übersprang schon leicht die Hürde/ (…)


Ich mache Dich auf Deine (schönen) Synkopen nur ungern aufmerksam. Denn am Ende dichtest Du – einer Marotte zuliebe, von der ich mir nicht vorstellen kann, wie Du auf sie verfallen sein magst –, noch Deine besten Verse um. Ich habe das schließlich schon einmal erlebt.

Noch einmal also die Gretchenfrage: Was hast Du gegen die Synkope? Nach wessen Vorbild verteufelst Du sie? Als wessen Schüler kreidest Du sie Deinen Schülern an? Nach wessen Muster lobst Du sie mit einer Gleichung, die so offensichtlich nicht aufgeht? Auf Platens Marmorglätte darfst Du Dich dabei am allerwenigsten beziehen:

 

Horch! wie es säuselt in den alten Rüstern!
Durchschwärmt vielleicht ein Elfenchor die Lüfte,
Wollüstig weichen Brautgesang zu flüstern?


PS.: Eine Coda soll auch diesem Exkurs nicht fehlen. Wenn ich im folgenden die Verse 6/7 Deines Sonetts DER PREIS IST HEISS zitiere (aus »Entferntere Nirwanen«), dann bin es ausnahmsweise einmal ich, der mit einer Synkope – aber an ganz anderer Stelle des Verses – nicht einverstanden ist. Es ist nicht die »Verb«-Synkope »schreibt« am Anfang von Vers 7, die ja in meinem Exkurs so viele Gegenstücke hat – von »Saugen wir ein« über »Kann sich mein Leben« und »streifen die Tempelwand«, über Eichendorffs »Flog durch die stillen Lande« bis zu Heines »fielen die Tränen nieder«. Was mir mißfällt, ist die Synkope in der Wendung »es sei denn«, die Du so betonst: — u — (»es sei denn«, statt, dem Sprechrhythmus gemäß, u — u , mit dem Ton auf »sei«):

 

Ein jeder, es sei denn, er schreibt nur Schund,
schreibt sich umsonst die zarten Finger wund.

Für mich jedenfalls ist es eine Synkope, denn mich zwingt der Sprachgebrauch, den Vers nahezu daktylisch zu lesen, was den (deutschen) Jambus nun allerdings sprengt: »Ein jeder, es sei denn, er schreibt nur Schund« – eine solche Betonungsverteilung ist nur im italienischen Endecasillabo möglich – siehe oben. Ich schlug Dir vor, stattdessen zu formulieren: »Ein jeglicher, es sei denn, er schreibt Schund«. Aber jeder muß seinem eigenen Kompaß folgen; und es sei ferne von mir, Dir meinen Nordpol aufzwingen zu wollen.


Ernst-Jürgen Dreyer
 


Rechte bei Ernst-Jürgen Dreyer



 

Klaus M. Rarisch antwortet