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Horus Apollo de Aegypte, 1543

Himmelstheater

 

Auß Würtzburg / vom 24. Jul. 3. Augusti. Wahrhafftige vnd vmbständtliche Beschreibung / was Sambstags den 2. 12. Julij abends zwischen 9 und 1 vhren ob dem Königlichen Prager Schloß am Himmel gesehen worden. Erstlich erschiene ein langer schneeweißer Todt / mit vielen neben ihme ligenden todten köpffen vnd särchen / der verwandlet sich bald in ein Weib / so ein Kind gefressen / die gleicher gestalt bald widerumb verschwunden. Demnach erzeigt sich ein schöner Engel mit langen haaren / der verwandlet sich in zwen gegen einander streitende Löwen / deren der einte weiß / der ander aber Rappenschwartz gewesen / fallen einander in den Rachen: der weiße ist recht ob Ihr Königlichen Majestät Zimmer gestanden / vnd seinen posto lang manuteniert / der ander aber stund vor der Staubbrucken / das ist von dem einten Schloßthor herwarts / vnd werden in ihrem Streit von zwen schönen grossen gleicher gestalt gegen einander streitenden Greiffen zertheilt. Darauff presentiert sich ein erschröcklich monstruoses Gesicht / mit grossen fewrigen Augen / auffgesperrten Rachen / mit abschewlichen grossen Backen. Nach demselben erschiene ein lieblich Angesicht / mit einer schönen Kron / so klar / daß es von Spectatoribus die Augen verblendet / das blawe am Himmel / so auß schwartzen Wolcken erfolget / war durchsichtig alß ein Saphir. Alle obstehenden Figuren wahren jhrem vrsprung nach auß einem liecht / so auß einer dicken schwartzen Wolcken entstanden / vnd herfür geleuchtet / transinutierten sich aber in schneller eyl / das auß vns Spectatoribus keiner / der nicht etwas versehen wolte / nicht ein aug verwenden dörffte. Darauff erschiene ein rechter zweyköpffiger Adler zwischen zwen starcken Löwen / vnder denen der einte weiß / der ander schwartz / vnd endtlich alß der schwartze gleichsam in dem kampff vberwunden zu seyn erschien / sich in gestalt eines Bären metamorphorisiert / wie dann der Bär die Tatzen vber sich geruckt / vnd auff dem Rucken gelegen / der weiße Löw aber stund mit rechter postur auff seinen füssen / seinen posten manuteniert / vnd den schweiff in die höhe haltend.

Hierauff gieng ein starcker scharmützel an von Infanteria vnd Cavalleria / darbey man todte Ross / viel Todtenköpff vnd Cörper so deutlich figuriert gesehen / alß wann sie von einem Mahler mit allen farben gemalet worden: Nach solchem wurde der Himmel sehr hell / vnd erschiene ein Weib mit der Sonnen bekleidet / vnd stunde vnder ihren füssen ein hellscheinender Mon / darauff kamen abermalen das abschewlich monstruosisch Gesicht / vnd nach verschwindung desselben zwen grosse Löwen / der einte schwartz / so von der Staubbrucken herkommen / der ander weiß / die namen ihren posto de novo recta auff Ihr Königlich Majestät Zimmer / ein jeder hatte ein schöne carmusierte Kron auff dem Haupt / vnd stritten lang mit einander / biß sie auch endtlich verschwunden.

Ordinari-Wochen-Zeitung [Zürich] 1636. Nr. 34 [1]

In seiner Phantastik mutet der Text fast so an, als beschriebe jemand ein Erleben nach »heroischer« Einnahme von irgendetwas Scopolaminhaltigem. Andererseits sieht es ganz nach kalkulierter Choreographie aus, wie im zweiten Absatz Motive des ersten in angenähert umgekehrter Reihenfolge wiederkehren.

Die revolverblattmäßig bizarre, gewaltgesättigte Erfindung ist zweifellos dem »Zeitgeist« geschuldet. Der Dreißigjährige Krieg ging mit Greueln und Scheueln bis zur – im Fall solch extrem katastrophaler Notlagen sicher zu vermutenden – Anthropophagie einher:

 

Extract auß dem Sundtgöw vom 1. 11. Martij. Der Jamer diser vnd benachbarten Landen ist nicht wol zu schreiben: die Flecken und Dörffer seind gar verlassen / die Stätt aber in äusserstem verderben: der Soldat will Speiß oder Gelt haben / vnd ist nichts mehr vbrig: das Eisen- Blei- Zin- vnd Glaßwerck wird aller Orten angegriffen. Die Bawersleuth gehen herumb wie lauter todtenbilder: dem Todtenfleisch wird nicht geschonet: die Lebendigen seind selbs nicht sicher / dann der stärcker den schwächeren angreifft für sein Nahrung.

Ordinari-Wochen-Zeitung [Zürich] 1636. Nr. 10 [2]

Selbst ein »Weib / so ein Kind gefressen« begegnete mithin der Leserschaft. Und war – so ist zu fürchten – im Kern wohl nicht erfunden … kleine, hier unterschlagene »Details« der folgenden Meldung vermutlich mit tückischem Kalkül hinzufabuliert:

 

Auß Straßburg vom 20. 30. Jenner. Von der nachbarschafft wirt glaubwirdig geschriben: Dieweil der arme Mann bey diser harten Winterszeit auff dem Feld keine vnnatürliche Kräuter [offenbar = Unkraut, denn es ist unnatürlich, Unkraut zu genießen] vnd Eycheln findet / auch keine abgestorbne todte Aaß mehr haben kan / als thut er sich mit Mispel [hier wohl irrtümlich für Mistel] von den Bäumen / ja Mäusen vnd Ratten auffhalten / biß er endtlich stirbt. Ohnlängst hat eine Wittib im Ampt Lixheim ihr Töchterlin von 5 jahren getödtet / {Auslassung RW} vnd geessen / den vbrigen Cörper auff den Kirchhoff / welchen man also ihrer anzeig nach gefunden / vergraben. Bey der Zerstörung Jerusalem ist nicht harter hergangen als der zeit diser Revier / Gott wölle sich vnser erbarmen.

Wochentliche-Ordinari-Zeitung [Zürich] 1637. Nr. 6 [3]

Eine solche Meldung, in ihrer Art gewiß nicht die einzige, scheint ein beim Lesepublikum gegebenes spezielles Gelüst nach »erschröcklichen« Faszinosa bis Horrenda und Tremenda »bedient« zu haben. Das Muster dafür von Gustav Sichelschmidt in Bezug auf Heinrich Zschokkes Roman »Abällino, der große Bandit« von 1793 – »sogleich« ein »sensationeller Erfolg« – formuliert: »Des Lesers Unterhaltungsbedürfnis wurde mit der Darstellung von Mord, Notzucht, Blutschande, Hängen und Pfählen voll befriedigt.« [4]

Und wenn nun das große, ausgerechnet in Prag veranstaltete Tohuwabohu am Himmel gänzlich erflunkert sein sollte … könnte es dann sein, daß es sich um eine als Zeitungsmeldung verkleidete Allegorie handelt? Wäre der Text – wie dann auch schon die kurze Amsterdamer Meldung von 1628 – damals vielleicht gar als solche erkannt worden? Oder ist das zu weit hergeholt? Mit dem »zweyköpffigen« Adler, den Löwen, dem Bären und den Greifen sind ja lauter Wappentiere im dann heraldischen Spiel … in dem selbst Engel ihren Platz fänden. Weisen sie auf Kriegsparteien und Kriegsherren? Der Doppeladler ließe sich auf die Habsburgermonarchie beziehen. Die in der Heraldik ubiquitären Löwen auf alles mögliche: Schweden, die Böhmische Krone, Wallenstein, Tilly. Ein weißer – wenn denn damit ein silberner gemeint wäre – »ob Ihr Königlichen Majestät Zimmer« befände sich dort in Prag sozusagen zu Hause. Doch wofür stünden der Bär und die Greife? – Mit der Marienfahne der Katholischen Liga wäre im ganzen Fahnen- und Bannergeflatter des Dreißigjährigen Kriegs jedenfalls auch ein »Weib« vertreten.

Robert Wohlleben

Bild aus: The Waking Dream. Fantasy und the Surreal in Graphic Art 1450–1900. – London: Thames and Hudson Ltd. 1975, S. 48.

Anmerkungen:
1] Eberhard Buchner: Das Neueste von gestern. Kulturgeschichtlich interessante Dokumente aus alten deutschen Zeitungen. Bd. 1. München: Albert Langen 1911, S. 82 f.
2] Ebd., S. 80.
3] Ebd., S. 83.
4] Gustav Sichelschmidt: Liebe, Mord und Abenteuer. Eine Geschichte der deutschen Unterhaltungsliteratur. Berlin: Haude & Spener 1969, S. 88.