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Im Paradies
Aber aus dem Untergrund blüht etwas:
»Die Insel Felsenburg« wiederveröffentlicht

Endlich eine Neuausgabe der »Insel Felsenburg« – das forderte Amo Schmidt schon vor vierzig lahren in einem wegen seiner Deutlichkeit immer noch gern zitierten Denkstück zur Philologie. »Aller Dreck wird heute neugedruckt!« Bloß dieses große Reise- und Abenteuerbuch des dichtenden Hofbarbiers Johann Gottfried Schnabel suche man vergebens im Handel. Dabei sei dies neben dem »Simplicissimus« der einzige deutsche Barockroman von europäischer Wirkung gewesen: nicht nur Jugendlektüre späterer Dichterfürsten (Wieland, Goethe, Moritz), sondern als Pflichtbuch im frühbürgerlichen Bildungskanon wohl der meistgelesene Roman des 18. lahrhunderts.

Doch wie es mit Bestsellern ist: Die »Insel Felsenburg« verschwand im Vergessen. Nach 1800 wurde sie ein einziges Mal wieder aufgelegt – leider in der Redaktion Ludwig Tiecks, der den Text gründlich verhunzte. Er kürzte das Werk auf drei Viertel und zensierte sexuelle Unwörter wie »Brüste«; auch sonst »verfeinerte« er die Sprache des Buches nach Belieben. Von Schnabels Mischung aus ruppigem Landstörzerdeutsch und reichlichen Latinismen blieb da streckenweise bloß der blasse Schatten. Lobenswert also, daß uns Günter Dammann nicht nur, endlich!, mit einer vollständigen Ausgabe beglückt. Durchgehend hält sich sein Text an die Erstdrucke. Die wiederhergestellte Authentizität mindert dabei mitnichten die Lesbarkeit. Schnabels Sprache erscheint heute in vielem moderner als der flache Ton Tiecks, gerade dank der Vielfalt der stilistischen Modulationen, die nun wieder unentstellt wirken darf.

Auch Barockliteratur-Laien ist Schnabels Geschichte darum bedenkenlos anzuempfehlen: von dem verarmten Studenten Eberhard, den der Brief eines mysteriösen Urgroßonkels auf eine nicht minder mysteriöse Südseefahrt lockt. Am Ende der Reise ist ihm Rettung aus Not und sämtlichen Kümmernissen versprochen. Und wirklich! Auf einem paradiesischen Eiland, kurz vor dem Südpol, erwartet Eberhard eine lutheranische Idealgesellschaft: harmonisch, glücklich und gottesfürchtig. Die Bewohner der Insel Felsenburg kennen weder Hunger noch Geiz, keinen Geldverkehr und kaum sonstige Sorgen. Auch ihre sexuellen Sitten sind streng. Kurz, in allen Details bietet die kleine Inselrepublik das Gegenbild zur verdorbenen Welt.

Nicht nur der arme Student wähnt sich in diesem Idyll sofort am Ziel aller Wünsche. Exilanten aus allen Ecken Europas haben die Insel bevölkert: Desertierte Soldaten fanden Schutz vor den grausamen Kriegszügen der Zeit; einst tugendlose Hallodris führen dank Bekehrung zum Christentum ein naturverbundenes Leben; Seefahrer, nach Schiffbruch gerettet, gründeten mit den rosigen Töchtern der Insel glückliche Großfamilien. In insgesamt zweiundzwanzig Biographien zeichnet Schnabel seine Figuren; dabei entsteht ein düsteres Bild vom Europa des frühen 18. lahrhunderts: von Kriegen verwüstet, gottabgewandt durch alle Nationen und gesellschaftlichen Schichten hindurch.

Darum wird Schnabel meist als Zeitkritiker gewürdigt. Wesentlich bedeutsamer jedoch ist seine Qualität als Erzähler. Einfallsreich variieren seine Geschichten die zeitgenössischen Genres: Robinsonade, Schäferroman, Pikareske. Die Souveränität, mit der er gängige Motive und Muster gegen- und ineinanderückt, demonstriert nichts weniger als den state of the art spätbarocker Romankunst – stets originell, aber im vollen Bewußtsein der eigenen Originalität und so über das komponierte Material stets schon hinaus.

Sicher ist dies das größte Verdienst der vorliegenden Ausgabe: Sie hilft, Schnabel als individuelles Talent wiederzuentdecken, das seine historischen Voraussetzungen weit hinter sich läßt. Besonders der Schluß des Werks, in den Literaturgeschichten immer gern ignoriert, ist dabei von Bedeutung: Ein Abgesang auf die Hoffnung, die Utopia schon im Diesseits zu errichten, denn auch auf der Insel Felsenburg vereitelt die angeborene Amoralität der Menschen zunehmend das harmonische Dasein.

Wie die Erbsünde allgegenwärtig ist, illustriert Schnabel dabei mit immer tieferen Griffen in die Trickkiste der Kolportageliteratur. Erst mehren sich rätselhafte Naturphänomene und Geistererscheinungen. Dann entdeckt eine Expedition auf der Nachbarinsel Klein-Felsenburg verlassene Höhlenwohnungen, staffiert mit heidnischen Götzen und rätselhaften Hieroglyphen. Klamm geht die Frage um: Hat man den lutheranischen Idealstaat auf unheiligem Grund gebaut?

So sehr sich die Interpreten auch mühen, Herkunft und Sinn der satanischen Artefakte bleiben ungeklärt. Lakonisch schließt das Werk mit dem Deutungsversuch eines Archäologen, der an der erratischen Symbolik doch bloß seine Hilflosigkeit demonstriert. Die Felsenburger müssen mit der Ungewißheit, was ihnen aus dem Untergrund blüht, weiterleben – ebenso geht es den Lesern.

Als wohl erster deutscher Romanautor hat Schnabel die Faszination des offenen Endes entdeckt; das zeigt, wie bewußt er die Wirkung seiner Geschichten auf die Phantasie des Publikums kalkuliert. Ob dabei, wie der Herausgeber in seinem umfassenden Nachwort behauptet, bereits der psychotische Ton E. T. A. Hoffmanns präludiert, sei dahingestellt. Dammanns zentrale These ist zweifellos überzeugend: Mit diesem Buch beginnt die Literatur der deutschen Aufklärung. Aber wie im Zeitraffer, schlägt deren Dialektik zum Schluß schon ins Romantische um. Eine frische und unverbrauchte Perspektive auf einen sorgfältig gesicherten Text: Das beschert uns, nicht zuletzt, einen spannenden Schmöker.

Jens Balzer

© Berliner Zeitung
19. September 1997