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Asyl für Europäer
Ein Geschenk für jeden Leser: Die größte aller deutschen Robinsonaden ist jetzt endlich wieder komplett erhältlich.

Deutschland 1946. Ein Kriegsheimkehrer liegt in der AbsteUkammer eines Bauernhofs auf einer Zeltbahn und träumt: »Dahin: Dahin!: Aus der Tafelmitte strahlte, gewaltig groß, die Insel: weiße Wände über dröhnendem Meer: o du mein Exil!«

Deutschland, knapp zwei Jahrhunderte zuvor: Ein Junge träumt von einer Insel, phantasiert sich eine Welt zusammen, in der er selbst, sonst immer nur Randfigur, den Mittelpunkt bildet.

Deutschland im Jahre 1725: Der Student Eberhard Julius hat die Nachricht vom Tod seiner Mutter, vom Bankrott seines Vaters noch nicht verwunden, doch längst schon ist ein Brief an ihn unterwegs, der ihn von allen materiellen Sorgen befreien und ihm den Weg zu jener Insel eröffnen wird, von denen seine Nachfolger nur träumen konnten, obwohl auch sie Gestalten der Literatur waren.

So begann im Jahre 1731 Johann Gottfried Schnabels Geschichte über »Wunderliche Fata einiger Seefahrer«, die sich bis 1743 zu vier Bänden auswachsen sollte – ein seinerzeit ungemein populäres Werk, das nicht nur dem jungen »Anton Reiser« des Karl Philipp Moritz und dem heimatlosen Protagonisten aus Arno Schmidts Nachkriegserzählung »Brand’s Haide« als Traumvorlage diente. 1828 erhielten die »Wunderlichen Fata« durch Ludwig Tiecks verkürzte Bearbeitung »offiziell« jenen Titel, unter dem sie bei ihren zeitgenössischen Lesern, wie etwa Anton Reiser, längst bekannt war: »Die Insel Felsenburg«.

Sprachduktus und Inhalt veranschaulicht am besten das Original, dessen Titelblatt anhebt: »Wunderliche FATA einiger See-Fahrer, absonderlich ALBERTI JULII, eines geborenen Sachsens, Welcher in seinem 18den Jahre zu Schiffe gegangen, durch Schiff-Bruch selb 4te an eine grausame Klippe geworfen worden, nach deren Übersteigung das schönste Land entdeckt, sich daselbst mit seiner Gefährtin verheyrathet, aus solcher Ehe eine Familie von mehr als 300. Seelen erzeuget, das Land vortrefflich angebauet, durch besondere Zufalle erstaunens-würdige Schätze gesammlet, seine in Teutschland ausgekundschafften Freunde glücklich gemacht, am Ende des l728sten Jahres, als in seinem Hunderten Jahre, annoch frisch und gesund gelebt, und vermuthlich noch zu dato lebt, entworffen von dessen Bruders-Sohnes-Sohnes-Sohne, Mons. Eberhard Julio, Curieusen Lesern aber zum vermuthlichen Gemüths-Vergnügen ausgefertigt, auch par Commission dem Drucke übergeben von GISANDERN.«

Das wichtigste Stichwort taucht in dieser Einleitung wohlweislich nicht auf: Robinson. Denn Daniel Defoes 1719 erschienener »Robinson Crusoe« hatte gerade in Deutschland eine Flut, manche sprachen von einer »wüthenden Pest«, von Titel-Nachahmern ausgelöst, so daß sich Schnabel genötigt sah, dem geneigten Leser zu versichern, daß sein Buch »die unzählige Zahl derer Robinsons von fast allen Nationen« nicht nur um eine weitere vermehren wollte.

Dennoch ist die »Insel Felsenburg« natürlich auch eine Robinsonade, die Geschichte eines oder einer Gruppe von Menschen, durch Wechselfälle des Schicksals oder göttliche Vorsehung auf eine einsame Insel verschlagen. Doch Schnabels Gestalten erkennen ihren Schiffbruch bald als Glückstreffer, der nicht nur sie selbst aus ihren europäischen Leidensgeschichten befreit, sondern es ihnen auch erlaubt, Verwandten. Freunden und vom Leben Geschlagenen ein Asyl zu bieten, über das der »Altlvater« Albert Julius ein mildes Regiment führt. Albert Julius gebietet nicht nur über Felsenburg; um seine Geschichte gruppieren sich auch die seiner Schicksalsgenossen, die in die Konquistadorenzeit zurückreichende seines Vorgängers auf der Insel und die der Neuankömmlinge. Das Bild Europas, das so entsteht, bestätigt auf vielfältige Weise die Einsicht des alten Simplicissimus, nach der es sich am besten fern von ihm leben ließe.

Aber auch das ferne Felsenburg steht nicht am Ende der Geschichte: Seine Abgesandten halten den Kontakt zum alten Kontinent, die Gemeinde entwickelt sich und droht aus dem Ruder zu laufen, als einige der Neuankömmlinge den Sprung auf eine rätselhafte Nachbarinsel wagen ...

Das alles bietet nicht nur Spannung, »wahre Historische Streiche« und insgesamt, dank der seit vielen Generationen ersten Neuausgabe, weit über zweitausend Seiten kompakten Lesestoff zu einem geradezu beschämend günstigen Preis. Der Hamburger Literaturwissenschaftler Günter Dammann, ein ausgezeichneter Kenner der Robinsonadenliteratur, liefert zudem mit seinem Nachwort eine trotz ihres Umfangs sehr kompakte Analyse des biographischen und poetologischen Kosmos Schnabels.

Dabei löst Dammann die Figur des Autors und auch das Werk selbst, das unzähligen Lesern Baustoff für eigene Phantasiereisen geboten hat, in eine Reihe abstrakter Roman-Plots auf, die umreißen, was Anfang des 18. Jahrhunderts literarisch üblich und möglich war. So erscheint die »Insel Felsenburg« auch als eine Art literarische Großbaustelle, auf der sich ein Schriftsteller vom Boden erzählerischer und geistiger Traditionen zu neuer »Arbeit am Sinn« erhoben hat. Wohlfeil erhältlich und sachkundig analysiert, bietet sie damit nicht allein Stoff für private »Lesereisen«, sondern auch eine solide Basis für eine weitergehende Erschließung der Romanliteratur des 18. Jahrhunderts und ihrer weiterreichenden Einflüsse.

Ulrich Baron

© Rheinischer Merkur
19. September 1997