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Das gefährdete Asyl der Redlichen
Johann Gottfried Schnabels »Insel Felsenburg« in einer vorbildlichen Ausgabe

Von Harro Zimmermann

Welch ein Buch, dieser ingeniöse Welt-Reise- und Historien-Schmöker! Und welch gediegen schöne, ja, grundgelehrte Edition des Schnabelschen Opus! An Gewährsleuten der kompetenten Belobigung hat es ihm, von Goethe bis Arno Schmidt, bekanntlich nie gemangelt. Dennoch haben die Deutschen ihrem ersten veritablen Bestseller, einem ihrer Ur-Werke modernitätsgeschärfter Novellistik, allzu wenig national-literarischen Lorbeer umlegen wollen. Nun hat sich das geändert. Nun dürfen wir alles mit belehrtem Kennerblick ins Auge fassen, was jemals im Umkreis des berühmten Buches an Editions-, Forschungs- und Enträtselungsleistungen erbracht worden ist. Auch wenn die von Hans-Michael Bock und Günter Dammann erarbeitete Ausgabe letztlich die anvertraute Hochrangigkeit des Schnabelschen Erzählwerkes nur bestätigen kann; allein die hier vorgelegte bibliographische, quellenkritische und zumal interpretatorische Leistung ist von bestechender Akkuratesse.

Über die Biografie des Johann Gottfried Schnabel scheint nach wie vor kaum etwas Neues herausfindbar zu sein. Der am 7. November 1692 im Pfarrhaus zu Sandersdorf bei Bitterfeld geborene Autor, er wird früh Vollwaise und kann sich kein Studium leisten, absolviert zwischen 1706 und 1709 eine Barbierlehre, und arbeitet danach acht Jahre lang als Feldscher in verschiedenen Heeren. Um 1719 wird er Barbiermeister in Querfurt, wo ihm später die Hofbedienung offensteht. In Stolberg, wohin Schnabel 1724 mit Frau und Familie umsiedelt, bringt er es schließlich zum Gräflichen Kammerdiener und Redakteur der Stolbergischen Sammlung neuer und merkwürdiger Welt-Geschichte. Bald schon wird der geschäftlich umtriebige Mann zum Stolbergischen »Hofagenten« ernannt. In dieser Eigenschaft muß er irgendwann zwischen 1750 und 1760 gestorben sein, womöglich auf einer seiner zahlreichen Reisen. Außer zwei weiteren Romanen und einigen historischen und panegyrischen Schriften fanden sich bisher, von Gottfried Schnabel keine weiteren Lebensdokumente, weder Briefe noch Nachlaßstücke.

Um so mächtiger erhebt sich das Erzählmassiv dieser Insel Felsenburg über dem spärlich dokumentierten Lebens- und Schreibschicksal eines Autors, dem man heute zu Recht eine Art Initiationsfunktion für die Entstehung des modernen aufklärerischen Romans in Deutschland zumißt. Doch Günter Dammann, von dem die akribische gattungsgeschichtliche Verortung des Erzählwerkes stammt, beläßt es keineswegs bei der pünktlichen Rekonstruktion solcher Vorläuferschaft. Die Insel Felsenburg, so lernen wir, ist vermöge eines faszinierend mißlungenen Gestaltungsversuchs »modernisierter« Welterfahrung zu dem geworden, was sie für uns Spätgeborene heute darstellt. Jener Albertus Julius, Urvater der naturfrommen Erwähltengemeinde auf dem fernen Eiland, und alle, die mit und nach ihm hier ein »Asyl der Redlichen« errichten wollen, sehen sich im Widerstreit zum sündigen Weltzustand europäischer Zivilisation und Despotie. Sie suchen einen heilsamen Lebenssinn in humanitär befreiten Formen des Daseins. Das bloße Herkommen enthält keine freundlichen Perspektiven eigener Lebensplanung mehr. Alle Menschen in diesem Roman sind längst aus feudaler Winkelsicherheit entlassen. Auf Weltmeeren, in abgründigen Flucht- und Rettungsgeschichten, bar aller verbürgten Hoffnung und traditionalen Sicherheit, müssen sie ihren raumzeitlich entgrenzten Selbstverwirklichungsanspruch wie und wo auch immer in die Welt zu setzen versuchen.

Es ist faszinierend zu sehen, wie alle betagten Strukturmuster des barocken Romans gleichsam zerrieben werden im Malstrom der anbrandenden neuen Erfahrungen, die schließlich nur noch im pikarischen Genre, unter dem abenteuernden Individualismus des so fehlbaren Weltentdeckungszwangs, eine versuchsweise Funktion übernehmen können. Doch Schnabels Insel Felsenburg gehorcht keineswegs naiv dem Erzählmuster der Robinsonade im Gefolge des Defoeschen Paradigmas, sondern muß, das zeigt Dammann erstmals deutlich, im Spannungsfeld der frühaufklärerischen Naturrechts-Debatten wahrgenommen werden. Ruhe und Glückseligkeit in all-beseelter Natur zu finden, ist ein Anspruch des Altvaters und der Seinen, der sich nur in schmerzhafter biographischer (Selbst-)Erprobung realisieren läßt. Denn die göttliche Vorsehung erweist sich als ein historisches Kontinuum, innerhalb dessen die Karriere der Subjekte auf ihre innerweltliche Klugheit und Handlungsfähigkeit verwiesen ist. Schnabels Insel Felsenburg zeigt, daß dieses in die Zukunft geöffnete prekäre Entwicklungspotential keinesfalls frei ist von Unwägbarkeiten, von bestürzenden Geheimnissen und beängstigender Irrationalität.

Die abgestandene Mär, der Autor Schnabel habe zumal die Teile drei und vier seines Werkes ausschließlich um des »Honorariums« willen und daher lustlos und ästhetisch defizitär verfaßt, wird verdientermaßen gründlich revidiert. Gerade im Motiv des Geheimnisvollen brennt sich vielmehr das Stigma der gefährdenden Modernität in die sozial-psychische Legierung der Roman-Protagonisten ein. Nur sehr schwer, das zeigt der Roman als Dokument dieser verflossenen Lebenskultur, arbeiten sie sich aus alten mentalen Strukturen heraus: »Das Subjekt sieht sich gewissermaßen unterminiert durch Vorgängiges, Vergangenes familialer oder gar atavistischer Herkunft. Der Eintritt in diese Bahn ist von Verunsicherung, Schauder, Hilflosigkeit, Neugier und Faszination gekennzeichnet; als ihr Resultat zeigt sich vorerst einmal hauptsächlich das glückliche Gehaltenwerden durch die Familie.«

Die insulare Utopie-Projektion dieser »Felsenburg« erscheint daher auch als eine Beschwörung familiärer Stabilitätshoffnung in urnbrechenden Zeiten. Doch eine von aller Geschichte befreite »Genossenschaft der Glückseligkeit«, ein absolutes Naturrecht, so sehr es im damaligen intellektuellen Reizklima seine Faszination besitzt, kann dieser Johann Gottfried Schnabel unter den dräuenden Realitätserwartungen seiner Zeit weder ernsthaft denken noch ausfabulieren. Auch wenn die Insel Felsenburg einen Ort christlicher Selbstzucht und erhoffter Heiligung darstellen möchte, die sie umgebende Welt der Gewalt, der Despotie und des Kolonialismus bleibt als Pandämonium menschlichen Horrors unaufhebbar.

Das Drama dieser Autorschaft enthüllt sich am Ende als scheiternder Versuch, die christlich dogmatisierte Sündengeschichte der Menschheit in ein freies Phantasiespiel ihrer vernunftsrechtlichen Überwindung umzudeuten. Doch unter diesem säkular überanstrengten Schreibimpetus mußte die Integrität der Autorschaft dieses Johann Gottfried Schnabel notwendigerweise zerbrechen. Was daher als eine Emanzipationsgeschichte von Heil und Glück suchenden Individuen begonnen hat, verstrickt sich am Ende in die orthodoxe Kehrtwendung zum ohnmächtigen Bannspruch wider Sünde, Buße und Verderbnis. Die Welt der Felsenburgianer muß weiterhin mit dem Teufel rechnen. Zermalmt werden die Wonnen der Fiktion im Widerstreit des historischen Fatums. Schnabels narrativer Blick aufs ganz andere kann von Europa nicht abstrahieren, was die fortdauernde Unheilsgeschichte dieses Kontinents als das Zerbersten aller humanitären Utopie in Erscheinung treten läßt.

Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg.
Vollständige Neuausgabe in der originalen Textfassung
der vierbändigen Erstausgabe von 1731-1743.
Mit einem Nachwort von Günter Dammann.
Hg. von Hans-Michael Bock.
3 Bde., Zweitausendeins, 2700 Seiten, 79 DM.

© Frankfurter Rundschau
14. November 1997