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Schnabel, Johann Gottfried: Insel Felsenburg. Ausg. in drei Bänden. Nachw. von Günter Dammann. Textredaktion von Marcus Czerwionka (unter Mitarbeit von Robert Wohlleben). Frankfurt a. M.: Zweitausendeins 1997 (Haidnische Alterthümer. Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts [12]). t. 1, Teil 1:650 p., Teil 2:653 p.; t. 2 Teil 3:486 p., Teil 4:584 p.; t. 3:312 p. – In zwei dickleibigen Bänden (und einem Kommentarband) wird hier die vierteilige, unter Pseudonym erschienene (Gisander) und sehr seltene Wunderliche Fata einiger Seefahrer, die eigentlich nur unter dem Titel Insel Felsenburg bekannt ist, in einem Neudruck (Ausgaben von 1731 bis 1772) vorgelegt (ein Nachdr. der Ausgabe Nordhausen 1731-1743 erschien in New York 1973). Der von Lessing, Herder, Goethe, Tieck, Brentano, Hauff u. a. geschätzte utopische Reise- und Abenteuerroman im Stil der Robinsonade enthält alles, was einen Roman lesenswert macht. Da wird gesoffen, gefressen und geliebt und dies alles so wortgewaltig mit den abenteuerlichsten Satzkonstruktionen geschildert, daß es einiger Anläufe bedarf, um der z. T. verschachtelten Handlung folgen zu können. Wer aber diese Durststrecke überwunden hat, wird reichlich entschädigt, hat ein Lesevergnügen ersten Ranges und taucht ein in eine längst vergessene Welt, die bar jeder elektronischer Raffinessen das Leben dennoch erfindungsreich zu bewältigen wußte. Der utopische Abenteuerroman stammt von Johann Gottfried Schnabel, dessen Biographie trotz intensiver Nachforschungen nicht restlos aufgeklärt werden konnte: geboren als Sohn eines Pfarrers in Sandersdorf bei Bitterfeld 1692, nimmt bei einem der jüngeren Grafen von Stolberg als Feldscher an Reisen und Feldzügen teil, erlangt das Bürgerrecht als Hofbarbier im Harzer Städtchen Stolberg, wird zum Hof- und Stadtchirurgus ernannt und erhält den Titel eines Hofagenten, gibt in Stolberg von 1731 bis 1738 eine politisch-literarische Zeitung heraus und schreibt sich hier auch die Abenteuer des Sachsen Albert Julius von der Seele, der die Insel Felsenburg entdeckt (erschienen in Nordhausen 1731- 1743). Schnabel, der offenbar durch Schreiben seinen Lebensunterhalt verdienen mußte, verfaßte außerdem verschiedene andere Romane, darunter auch einen »allen Wollüstigen zum Beyspiel und wohlmeinender Warnung in behörige Ordnung gebrachten« galanten Roman u.d.T. Der im Irrgarten der Liebe herumtaumelnde Cavalier oder Reise- und Liebes-Geschichte eines vornehmen Deutschen von Adel, Herrn von St.*** (Nordhausen 1738 u.ö.). Nach 1744 sind keine Dokumente über Schnabel bezeugt; es wird angenommen, daß er nach etwa 1750 und vor 1760 gestorben ist (während einer Reise?). Die vorliegende Ausgabe, mit der die Reihe der Lieblingsbücher Arno Schmidts nach neunjähriger Pause fortgesetzt wird, ist eine editorische und auch verlegerische Leistung (nur DM 78,-- für die hübsch eingebundene Edition, mit Lesefädchen) sondergleichen! Verantwortlich für die Ausgabe ist der Hamburger Literaturwissenschaftler Günter Dammann, den Neudruck betreute Marcus Czerwionka (Editionsbericht im Anhang, p. 300-313). In seinem bescheiden als ›Anhang‹ bezeichneten ausführlichen Nachwort von 299 Seiten zeichnet Dammann den Lebensweg Schnabels aus den Dokumenten akribisch nach, ordnet den Roman (und auch weitere Werke Schnabels) im literarischen Umfeld des 17./18. Jahrhunderts ein und macht die Verbindungslinien solcher ›mystery stories‹ und des Romanhandelns, von Dammann als ›Geheimnis-Syntagma‹ bezeichnet, deutlich, indem er u. a. auf die Romanstrukturen John Barclays und Honoré d’Urfés verweist und an ähnliche Strukturmodelle innerhalb der Contes des fées erinnert (Madame d’Aulnoy, Françoise le Marchand), die naturrechtliche Diskussion (Mensch als ›animal sociabile‹) einbezieht sowie daraus sich entwickelnde moralphilosophische Ansätze (Johann Joachim Becher): »Im Felsenburgischen Gemeinwesen wie in Bechers Kolonien ist ganz ohne Frage das ›moralische Gute‹ zu Hause« (Anhang, p. 169), folgert Dammann, gibt aber zu bedenken, daß die »gelingende Glückseligkeit des Felsenburgischen Lebens« sich dann als Epoche erweist, der ein beträchtlicher Aufwand an religiöser Reinigung, an Heiligung als Kondition ihrer Möglichkeit vorausgehen muß« (p. 176 sq.). Bei all dem Interesse Schnabels für die historischen Verhältnisse und Entwicklungen im Europa seiner Zeit blieb er jedoch, wie Dammann eindrucksvoll belegen kann, dem abergläubischen Denken früherer Jahrhunderte verhaftet (Beispiel: Teufel als Schatzhüter), obwohl sich im frühen 18. Jahrhundert bereits nicht wenige kritische Stimmen gegen den christlich überformten heidnischen Aberglauben erhoben und in ihrer rationalistisch geprägten Weltsicht vor kritikloser und kompilatorischer Übernahme von Teufelsgeschichten gewarnt hatten.

© Fabula, 39. Band, Heft 1/2