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Psalmen für eine lebende Mumie
von Robert W. A. Wohlleben
mit Graphiken von
Jens Cords

1959 von Jens Cords in 56 numerierten Exemplaren gedruckt
 

Jens Cords: Psalmen für eine lebende Mumie Blatt 1

Blatt 1


Wir sind die flügellahmen Aare –
wir waren immer flügellahm.
Wir hüpfen mühsam durch die Jahre
und glauben selbst an die Kandare,
die jeder von uns mit sich nahm.

Wir sitzen deutend auf der Erde
und wissen, wo man fliegen muß,
damit der Flug ein guter werde –
doch trotzdem hat die große Herde
auch ohne uns am Flug Genuß.

Sie sprechen immer nur vom Fliegen
und kennen nicht ein Wort wie ›Ziel‹-
der Knochen muß beim Hunde liegen.
Wir können uns in Geist einwiegen –
doch nur wer fliegen kann, kann viel.

Sela

Blatt 2

Jens Cords: Psalmen für eine lebende Mumie Blatt 3

Blatt 3

Drängen sich um alle Betten
dem Geiste feindliche Dämonen –
kräuseln sich aus Zigaretten,
wuchern um Hormontabletten
und werden niemanden verschonen!

Hand und Fuß und Zunge kleben
von unbedarften Daseinstrümmern. –
Wieviel schöner wär das Leben,
könnt man uns alles schriftlich geben –
was brauchte uns die Welt zu kümmern!

Selbstentleibt nach oben schweben,
entfernt von allen Massenglücken!
Könnt man uns alles schriftlich geben,
wir würden nur von Lyrik leben
und uns dem Schmutz und Dreck entrücken.

Sela

Blatt 4

Jens Cords: Psalmen für eine lebende Mumie Blatt 5

Blatt 5
Von zwei Sieben gedruckt

Jens Cords: Psalmen für eine lebende Mumie Blatt 6

Uns brennen Worte auf den Nägeln;
die niemand jemals sprach. –
Wir handeln nur mit Syntaxregeln,
und selbst ein Schiff mit tausend Segeln
legt niemals unsern Acker brach.

Da sind die Existenzgefährten –
wir lächeln ihrer nur.
Wir träumen in den unbeschwerten
Erlebensgründen, Lebensgärten
die alte Grand Tour de l’Amour.

Wir gehen schwanger mit Diktionen,
die niemand jemals sprach. –
Wir beten nur vor Schriftikonen
und selbst ein Schiff mit Kruppkanonen
legt niemals unsern Acker brach.

Sela

Blatt 6

Hei!
Wir haben erst gestern ins Gras gebissen –
jetzt haben wir Wolken und Wind!
Hei!
Man hat uns das Brustbein eingeschmissen
und Schädel und Rippen herabgerissen –
und alles noch viel zu gelind!
Hallelujah und Kyrieleis

Hei!
Wir brauchen kein Butterbrot mehr zu essen.
Wozu jetzt noch Leberwurst?
Hei!
Man hat uns die Särge zugemessen. –
Wir haben das Gestern schon lang vergessen
und Hunger, Gelüste und Durst.

Hallelujah und Kyrieleis

Hei!
Wir haben zuvor die Bilanz geschlossen
und haben das Buch verbrannt. –
Hei!
Wir haben den Vogel abgeschossen:
den lumpigen Tod im voraus begossen
und selbst die Termine genannt!
Hallelujah und Kyrieleis

Sela

Blatt 7

Jens Cords: Psalmen für eine lebende Mumie Blatt 8

Blatt 8
Von zwei Sieben gedruckt


Jens Cords: Psalmen für eine lebende Mumie Blatt 9

Ein jeder malt sich seine Pique
und Coeur allein in seine Karten,
ein jeder wertet die Rubrik
der unbekannten Seinsreplik
so, wie’s die andern nicht erwarten.

Wer einmal einen Bluff verlor,
der legt jetzt nur noch Patiencen.
Er steckt sich Wachs in jedes Ohr
und legt den Türen Riegel vor – – –
hier haben Mumien nach Chancen!!

Sela

Als Kain den Abel einst erschlug,
war dies nur Muster für die Nachwelt,
die viele mehr zu Grabe trug. –
Gott ist als Joker gut genug –
selbst für den Brudermord im Brachfeld.

Blatt 9

Jens Cords: Psalmen für eine lebende Mumie Blatt 10

Blatt 10

Wir sind durch die Länder gezogen,
von Pol zu Pol die Küsten lang.
Wir sind mit dem Kondor zum Mond geflogen,
wir haben die Wirte der Welt betrogen:
wir suchen die Geistesgrössen von Rang.

Wir haben Kristalle gestohlen
der recht-und-schlechten Clairvoyance.
Wir werden uns Obst aus den Märchen holen
und – wenn es schon sein muß – auch Höllenkohlen –
wir liehen von Benn die Lücken der Trance!

Wir werden niemals verzagen –
denn Hirn und Körper sind sich fremd.
Wir werden nach Traumcharakteren fragen,
die tausendundeinmal ins Blaue ragen,
wo nichts den Bereich des Denkenden hemmt.

Sela

Blatt 11

Jens Cords: Psalmen für eine lebende Mumie Blatt 12

Blatt 12

Strassenbahnen zu laut
für radargeeichtes Ohr.
Erlösung auf Sand gebaut,
zu vieles dem Schneefall vertraut –
Lächeln aus Tickets hervor.

Schädel züchtig verhüllt
von staubigem Chapeau-claque.
Den Laien ins Trinkhorn gefüllt,
dem Morgen entgegengebrüllt:
Messe aus Firnis und Lack.

Bimsstein im Portemonnaie –
den Eruptionen zum Gruß.
Glaube und richtiger Dreh
verleihen der Èpopé
erstmalig Hand und Fuß.

Sela

Blatt 13

Wir gehen schlafen mit Doktrinen,
daß nichts beim Denken stört.
Wir müssen uns den Geist verdienen
und würden selbst die Knochen schienen,
wenn das zum Spiel dazugehört.

Wenn wir uns neue Götter kaufen,
sind sie pasteurisiert.
Sind Lieferfristen abgelaufen
und türmen alte sich zu Haufen:
sie werden schmerzlos abserviert!

Der Bundschuh ist die Schreibmaschine
und flattert uns voran.
Wir folgen ihm mit viel Routine
trotz Brückenbruch und Staublawine –
was kommt’s uns auf den Corpus an?

Blatt 14

Jens Cords: Psalmen für eine lebende Mumie Blatt 15

Blatt 15

Wir singen unsre Kanzonetten
mal hier, mal dort und sonst noch wo,
wir spielen Schach mit Wachskeletten
und schnupfen Koks in Kabinetten
und warten weiter auf Godot.

Heißa – hoppsa – Lot is dot!

Nichts trübt die edle Seinsmisere:
wir machten Sartres Nichts zur Show –
und selbst die allerbeste Schere
zerschneidet nichts als nackte Leere –
wir warten weiter auf Godot!

Heißa – hoppsa – Lot is dot!

Ist alles hin – wir zelebrieren
mit blauem Sakramentspernod –
und wenn wir dabei noch so frieren
und Ehr’ und Kind und Weib verlieren:
wir warten weiter auf Godot!

Heißa – hoppsa – Lot is dot,
und Jule liegt im Sterben!

C’est la –

Blatt 16

Jens Cords: Psalmen für eine lebende Mumie Blatt 17

Blatt 17

Die Finger am Himmel geklemmt:
blutunterlaufenes Blau. –
Die Stirnen eingedämmt,
die Augen ausgeschwemmt
vom Styx im Unterbau.

Pfingstliches Aquarell
zu spät auf den Grind geschmiert.
Die Jahre hart und grell
von Oper zu Bordell
von Ford und Freud zitiert.

Liturgischer Kleingeldswing
im voraus bestellt und bezahlt;
Fußball- und Kurortgeschling,
Smoking und Siegelring
rot ums Gebiß gemalt.

Sela –

Blatt 18

Nur die Benennung
sammelt mein Buch in sich,
keiner Verbrennung
schwärzlichen Kupferstich.
Keiner behauche
Spiegel und Glas des Blicks –
fremdem Gebrauche
tröpfelnde Tintentricks.

Form oder Zeichen
früh oder spät im Tag –
andren Bereichen
dieser und jener Schlag.
Grenzen inzwischen
hier oder dort erstellt.
Texte verwischen,
was in die Trommel fällt.

Fleisch in den Zähnen
blechernen Unterschieds.
Nichts oder Tränen
streifen den Rand des Lids. –
Nur die Benennung:
Farbe und Klang des Lichts.
Jede Verbrennung
zögert und ändert nichts.

Blatt 19

Rechte am Text bei mir, an der Graphik bei Jens Cords