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Bo-Peep

Robert Wohlleben

Wer ist das Rotkäppchen?

Zweiter Akt


    Während der Vorhang hochgeht, in der Ferne Donner und Blitz: die Doors mit dem Anfang der Riders on the Storm. Die Platte hängt. Bühne als einsame Waldschlucht, beleuchtet wie das Moor für Wozzeck. Links im Vordergrund verfallendes Hüttchen.

    WOHLLEBEN winkt Frank Böhm auf die Bühne, nimmt ihn bei den Händen:

        Im Rundfunk wie im Blick
        verlaufen Kaltluftfronten.
        Was wir nicht wenden konnten,
        pfeift uns jetzt ins Genick.

        Schlag in den Wind so kalt
        die eisigen Prognosen!
        Wir Hemd- und Hosenlosen
        ham uns schwer angeknallt.

        Da trifft es uns opstunns:
        Wie heizen wir die Buden,
        wir und unsre Druden –
        mit Feuer oder uns?

    DER/DIE KAPELLMEISTER/IN halb sichtbar, Rücken zum Publikum:

        Ganz oben im Kopp,
        da geht das Galopp,
        und schnell solls ja gehn.
        Mal Ex und mal Hopp,
        mal Go und mal Stop:
        Da kannst du mal sehn!

        Am Ende der Welt:
        kein Fahrschein, kein Geld ...
        und immer erwischt!
        Obs steht oder fällt,
        obs bricht oder hält ...
        doch wieder mal nischt.

    Also wieder von vorn. Wohlleben steht bequem und wartet ab, daß Frank über die Rampe verschwindet.

    WOHLLEBEN holt konzentriert Luft:

        Ich und meine Drude
        sind weder hier noch dort.
        Jedes in seiner Bude,
        doch Keins an seinem Ort.

        Ihr Loch und ihre Titten
        kenn ich mit Zung und Stert.
        Wir sind uns aufgeritten
        und schreiend ausgeschert.

        Jetzt sind wir ganz enthäutet
        und brauchen neue Haut.
        Und unsre Trauer bedeutet,
        daß Keins dem Andern traut.

    Er sieht ziemlich alt aus und verbirgt sein Gesicht.
     

    EIN CHOR ROTKÄPPCHEN tänzelt an die Rampe:

        Bist wohl mittweil vergreist
        und fürchtest dich sehr?
        Was Wölfchen nicht beißt,
        beißt Wolf nimmermehr.

        Du Trapper oder Sioux
        mit Blut im Schuh:
        Raus bist DU ...
        Schubiduh!

    RW mit Prikkelpizz in der Pumpe (Kiel)
     

    WOHLLEBEN versucht Erklärungen anhand einer Wasgenwaldkarte: Finger immer auf Wildenstein:

        Ich hatts über den kurzen Weg gewollt,
        AB GEHTS zu Ort und Stelle ...
        bergab, wie der Käse zum Bahnhof rollt.
        (So spart man wohl Sprit beim Gefälle.)

        Wies klopft und klingelt! Im Wortmotor
        sind Rost und Sprüche zu kloppen.
        Fahr hin! Bleib ich hier und mach mir mal vor,
        du fährst, und ich müßt dich stoppen.

        Da kriegst du mich ein, und unverhofft
        da kriegst du mich in die Wolle.
        ACH JE! Bin ein Aff und wieder wie oft
        erwischt bei der Selbstkontrolle.

    DIE SCHÖNSTE mit einem Affenfell als Wölfin verkleidet, kommt dem Rotkäppchenkordon entgegen, doch sie schwenkt rechtzeitig ab und wendet sich zu Wohlleben:

        Bon soir, du trister Clown,
        du kaltes norddeutsches Kind!
        Was tappst du wieder blind
        vom Abend- zum Morgengraun?

        Vom Wasserfall die Glasgestalt,
        gehst nieder und vorbei.
        Ich faß dich, lach und schrei –
        du fließt: Wie wird mir kalt!

        Verschwindest stets und nur
        dein Atem bleibt (vor Sehnsucht?) stehn.
        Tuts etwa weh, dir zuzusehn?
        Adieu, mon amour!

    Sie verwandelt sich in einen immateriellen Wasserfall, der in seinem Innern ihr Bild erscheinen läßt, in langsamen schönen Bewegungen.

    WOHLLEBEN friert, ist plötzlich in einen zu großen Wolfsmantel gehüllt:

        Wird stürmischer und nasser
        von Wolkenbruch und Bö:
        Mein Kopf voll Feuerwasser,
        das Schwänzchen in die Höh.

    nimmt einen Schluck aus dem Flachmann

        O. K., viel Wasser fällt,
        verwässert mir das Feuer.
        Gefroren hab ich heuer
        in dieser Feuerwelt.

    holt eine Karte der Meiendorfer Schweiz aus dem Mantel, zeichnet einen Wasserfall ein

        Ich hiß die Seidenflagge
        bunt überm Sommerfick ...
        vom Feuer bleibt die Schlacke,
        vom Wasser bleibt der Schlick.

    DER/DIE KAPELLMEISTER/IN scheucht die verwirrten Rotkäppchen von der Bühne:

        Hemd oder Haut oder Schorf
        geflickt und wedder meschant.
        Der Posten der Venus von Meiendorf
        wohl immer noch vakant?

    Stellt das Orchestrion an: When Johnny comes marching home.

    FRANK BÖHM als reitender Bote, pariert seine Mähre vorm Wasserfall, meldet dann:

        Draußen vor dem Tor
        sitzt versteinert Leonor.
        Hat kein Hemdlein, hat kein Hos,
        hat ein einzigs Strümpflein blos.

    WOHLLEBEN während gleichzeitig der Wind ein Lied von Humpty Dumpty erzählt:

        Erzähl mir doch von Leonor!
        Die heißt nur so, sonst nix.
        Zeigt sie auch Häut- und Härchen vor –
        laß sie am Brunnen vor dem Tor:
        Ich schlag mich in die Knicks.

        Da knacke ich nicht Haseln bloß:
        Da wende ich mich oft.
        Und wind ich mich auch von ihr los –
        SIE kommt im Wind, was red ich groß,
        erwischt mich unverhofft.

        Das ist ein Wiedersehn im Kopp,
        mit großem Maul, damit ...
        Das kappt mir meinen Shivertop,
        da geht das Herze cif und fob
        mir durch auf Schritt und Tritt.

    Die Maskenbildnerin nur kurz aus den Kulissen sichtbar, zieht sich bedient zurück.

        Motorradfahrer

    Zwei Motorradfahrer schwarzes Lederzeug, schwarze Sturzhelme; ohne anzuhalten quer durch die Waldschlucht.

    FRANK BÖHM läßt seinem Gaul die Zügel, der — hier und da Gras rupfend — langsam mit ihm in die Kulissen verschwindet.

    WOHLLEBEN mit dem Wasserfall allein; beginnt einen langsamen, sprachlosen Tanz drumrum, die Fahne klirrt irgendwie.

    DER/DIE KAPELLMEISTER/IN nach einer Weile; wohl vorübergehend ratlos, wies weitergeht. Um für Action zu sorgen, läßt man ein Stück Tagesschau ins Bühnen-Ungeschehen projizieren, Empfang mäßig.

    HELMUT SCHMIDT die Schau des Tages:

        Kommt immer nur ran,
        wir hörn euch doch an.
        Im übrigen, Genossen,
        ist Alles längst beschlossen.

        Vielleicht habt ihr recht.
        Doch wir? Immer rechter!
        Wer für Wächter groß blecht,
        der kauft sich bloß Schlächter.

        Was Andre überlegen:
        Tut nichts, ist einerlei.
        Ich laß euch euren Brägen –
        wir ham die Polizei.

    HERBERT WEHNER von der Kamera erfaßt:

        Wir gehen die paar Stufen
        zum dritten Grad zur Not.
        Doch wolln wir nichts berufen:
        Meist reicht Berufsverbot.

        Ihr seid doch mit dem feinen
        Unterschied vertraut? ...
        Haut umgotteswillen keinen,
        bevor ihr ihn haut!

    Getümmel auf der Bühne: Eueu Zäffen — endlich aus seinem Versteck hervor — zieht den Antennen-, Frank den Netzstecker, die Maskenbildnerin dreht die Sicherung raus, nur noch der Guten Ordnung halber drückt der Kapellmeister AUS.

    EUEU ZÄFFEN hinter vorgehaltner Hand beiseite:

        Seht uns an: Wie stehn wir da?
        Unbehost und unbehemdet,
        selbst- wie à la Marx entfremdet …
        heißa, hopsa, trallala!

    DIE MASKENBILDNERIN schminkt blitzschnell Wohlleben zum Tristen Clown:

        »Weißt noch was zu sagen?«
        Du weißt und gehst verloren
        im Film im Kopp, im Kopp im Raum –
        das Fell zu Markt getragen,
        Gebiß geschoren,
        verrannt in Trip und Traum.

        Kannst selbst das Fell versohlen
        und machst dich krumm zum Sprunge,
        den Wolf zu mimen, wie er spricht.
        Du zwingst das Atemholen,
        du zwingst die Zunge:
        »Nein, nicht. Eigentlich nicht.«

    WOHLLEBEN unentwegt mit der Fahne um den Wasserfall, murmelt außer Zusammenhang:

        Das Spiel um Haut und Haar,
        das geht um Kopf und Kragen.
        Ach scheiß auf Unpaar oder Paar!
        Werds Risiko noch tragen.

        Wers nicht tut, kenn ich wen.
        Und weh tuts, die zu kennen.
        Ich laß mich ganz auf Zero stehn,
        DAS wird mich von mir trennen.

        Ach je! Wer jetzt verliert,
        hat sich und uns verloren.
        Zu spät Fortüne korrigiert:
        Wirds Fell uns abgeschoren.

    Er kommt mit dem zu weiten Mantel in'’n Tüdel, fällt in’n Dreck — bumms, da ist die Fahne weg.

    DIE KAPELLMEISTERIN läßt das Orchestrion mit dem Great Pretender laufen, damit alles wie Absicht aussieht:

        Wer Haut und Haar riskiert,
        wird regelgerecht rasiert.
        Dein System ist gesponnen, die Kugel spinnt
        und überhaupt: Die Bank gewinnt.

    DER KAPELLMEISTER übernimmt:

        Wer sich aufs Wetter verläßt,
        wird eingeschneit oder durchnäßt.
        Die Sonne schwindelt, und Mond betrügt
        und überhaupt: Der Wetterbericht lügt.

    EUEU ZÄFFEN als lustige Person; äfft in Aufzug und Gehabe Wohlleben nach:

        Wer sich an sich selbst verschluckt,
        wird am Ende ausgespuckt.
        Der Brocken zu dick, die Kehle verrotzt
        und überhaupt: Wem schlecht ist, der kotzt.

    DIE KAPELLMEISTERIN hechtet zum Orchestrion, immer noch der Great Pretender, dreht laut.

    EUEU ZÄFFEN WILL wohl einfach nur Scheiß machen, gröhlt zur Musik:

        Yes, I'm a Great Pretender,
        just loafing astray like a clown.
        I seem to be what I'm not. You see:
        I'm flaring my heart with a frown,
        pretending that you’re still aroun’.

    Er hat noch mehr Klöpse auf Lager: Tut jetzt wie ein kleines Kind, tapert zu Wohlleben, der immer noch auf der Schnauze liegt; gemachte Kinderstimme:

        Ach guter Vater, seid so gut
        (ich geh dann brav zu Bette):
        Erzählt mir die Schmonzette
        von Little Red Ridinghood!

    FRANK BÖHM hats wohl von Anfang an nicht so witzig gefunden; nimmt ihn sich vor:

        Mein liebes Kleinchen, spürst du nix?
        Er möcht, daß ers vergesse.
        Mach eine Mücke, aber fix!
        Sonst gibt es in die Fresse.

    EUEU ZÄFFEN mit beschwichtigender Handbewegung zum Bühnenhintergrund:

        Mit heißer Nadel fix
        die braune Nacht vernäht:
        Nich bang! Däi deit Di nix,
        da sie schwarz schweigt und steht.

        Hast Hunger mitgebracht und Durst?
        Die Schwarze Köchin kocht Dir Flünk
        und Bein mit Brägenwurst
        im Grünkohl à la Pidder Lünk.

        Dann renovier Dein Häuslein klein,
        verfugt auf Nut und Feder:
        Loch an Loch und Stein auf Stein,
        soll Niemand drin wohnen als Jeder.

    Ab.

    WOHLLEBEN löst sich im Wasserfall auf, der immer noch lautlos niedergeht. Es ist aber nichts mehr drin zu sehn.

    FRANK BÖHM allein auf der Bühne; hält die Hand an den Wasserfall: Sie bleibt trocken. Schaut ins Fenster des Hüttchens, zuckt die Achseln, gibt der Technik ein Zeichen, schaut ruhig zu, wie der Vorhang runterkommt.


    Bo-Peep
    Zum 3. Akt

     


    Hans Ritz
    Muriverlag



     


    Rechte bei mir