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Über den
TRAUM VON DER STIEFELSPITZE
(das Sonett Nr. 152
von Klaus M. Rarisch)

Fellini: E la nave va


SCHÖN maritim! Eigenartige (flimmernde) Entrückung mit dem Schlaf im Traum. – Hast Du beim zweiten Quartett E la nave va (oder: Fellinis Schiff der Träume) im Sinn gehabt ...? – Maul- und Klauenseuche VOLLSTÄNDIG zu verreimen ... darauf ist vor Dir vermutlich noch NIEMAND gekommen!
Robert Wohlleben, 3.4.2001


Ich fürchte, daß Ihr »Traum von der Stiefelspitze« verdammt viel von unserer Zeit auf einen sehr realistischen und trotzdem sehr ästhetischen Haufen kehrt. Daß nicht Sie oder der jeweils Träumende, der ähnliche Ängste hat, der »Abschaum« sind, sondern eben jene »Braven«, die Sie oder den Abschaum zu rasieren sich weigern. Das verschiebt mehrere Ebenen ineinander und ergibt doch ein Bild, das eigentlich jeder kennt, aus Träumen, die zu Albträumen werden: Kalabrien (wieder mehrere Bilder neben- oder sogar ineinander:) »in Höllenhitze«! Daß dies von vornherein als »letzter Hafen« erscheint, steht dabei über dem Ganzen mit einer derartigen Unbedingtheit, daß man es – wahrscheinlich vom Dichter ebenfalls vorgesehen – im Titel des Sonetts vermißt. Ihre Wortgewalt scheint seit der Pause, die Sie gemacht haben, noch gestiegen. Durch die Erwähnung der »Maul- und Klauenseuche« erhält das Ganze sogar, jedenfalls für den Zeitgenossen, noch ein Korn von Aktualität.
Heinz Ohff, 17.4.2001
 

FIEBER

Krank wie der Arzt, der seinen Arzt nicht fand,
und der, um nicht verzweifelt zu verenden
in seiner Gruft von steilen Bücherwänden,
sich aus dem schweißgetränkten Bettuch wand;

krank wie der Arzt, der sich mit eigner Hand
die Wunden öffnet, um die Not zu wenden,
und nun, geschält aus blutigen Verbänden,
sein Fleisch verbrennen fühlt im Wüstensand:

So hör ich plötzlich Engelschöre loben
den Herrn und Friedenspsalmen Balsam träufen
auf meine Schwären; mild ertönt von oben

Musik, um Labsal auf mein Haupt zu häufen,
bis eine Stimme feist zerquatscht den Wahn:
o weh! Es war nur Radio Vatikan.

Klaus M. Rarisch

Enthalten in
Die Geigerzähler hören auf zu ticken
= Meiendorfer Druck 20

Dein neues Sonett hat ein ergreifendes Eingangsquartett. Daß es danach sozusagen semantisch abfällt bis zu einer gewissermaßen banalen »Auflösung«, hat es gemein mit »Fieber«, das ich nach wie vor für ein grandioses und dann doch wieder enttäuschendes Gedicht halte. »Krank wie der Arzt, der seinen Arzt nicht fand«, und jetzt:

Ich ließ es mir nicht träumen, daß im Traum
ich müd genug sein könnte, um zu schlafen;

das ist ein wunderbarer, unbegreiflich schöner »Ring«. Und dann diese Auflösungen in Z. 14: »o weh! Es war nur Radio Vatikan« oder »Es war Kalabrien in Höllenhitze«, mit dem gleichen Doppelpunkt am Ende von Z. 13 und sogar einer gewissen Ähnlichkeit im »wehe« Z. 12 und dem »o weh« in Z. 14. Aber natürlich tue ich dem Gedicht Unrecht, wenn ich dem Lyrismus des Anfangs nachtrauere: Das »Figaro«-Quartett mit dem Wortspiel Schaum/Abschaum ist brillant und von einer herrlichen Assonanzenfülle; dann »fremde Strände / mit Badenden – die tauchten ihre Hände / ins Meer« wieder ein Lyrismus wie auf einem Bild, mit einem leisen Hölderlin-Anklang: »Ihr holden Schwäne (...)«. Mit den grauen Bäuchen mußte ich mich erst anfreunden, aber ich deute das Epitheton als das ergraute Schamhaar der Rentner. Eigentlich ein bösartiger, schadenfroher Traum, bei dem Italiens Stiefelspitze sich mit den MKS-Nachrichten verbindet und in der Höllenhitze die Feuer von Ir- und England mitlodern. Die Stiefelspitze sozusagen die Klaue, in der sich die Zehe krampft. Jedenfalls halten sich die Badenden die Bäuche nicht vor Lachen.
Ernst-Jürgen Dreyer, 18.4.2001