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Klaus M. Rarisch:
Das gerettete Abendland.
Songs und Hymnen.
Mit einem Nachwort von Jean Bréjoux

Wissenschaftlicher Verlag A. Lehmann
Gerbrunn 1982
Kl.-8°, 136 S. Preis geb. DM 12,80

Klaus M. Rarisch: Das gerettete Abendland

Gedichte ohne Ausflüchte

»Das gerettete Abendland« – so überschreibt Klaus M. Rarisch (1936 in Berlin geboren) eine Sammlung von Gedichten aus 25 Jahren Dichterei. Auf einer Dada-Veranstaltung der Berliner »Gruppe der Vier + 4« im Juni 1957 ging er erstmals literarisch in die Öffentlichkeit. Im selben Jahr war er bei der Gründung des »Ultimismus« dabei. Da kam Literatur aus einer rücksichtslosen bis aggressiven Wortversessenheit, daß die Reime fetzten und die Fetzen flogen: »Luftschutz sei bei uns, nimmt Strauss seinen Lauf! / Jesus verzeih uns: die Gasmaske auf!«

Dies Rarisch-Zitat ist aus seinem Gedichtbuch »Not, Zucht und Ordnung« von 1963. »Das gerettete Abendland« von 1982 macht klar: Beim Silberjubiläum geht’s noch ebenso jakobinisch zu wie am Anfang vor 25 Jahren. Der »heiße Atem« ist von keiner Kurzatmigkeit gedämpft: »Mama stellt das Fernsehn laut, / wenn der Papa uns verhaut ...« – Ganz tückisch schlicht also ist »Das gerettete Abendland« in Kreideweiß gebunden, der Unschulds- und Wolfsfarbe.

Die 75 Gedichte darin sind in drei Abteilungen geordnet. – »Prolog zum Nihil – Verse von Rost und Vitriol« ist die erste. Am Anfang steht dort die »Widmung« mit ihren Klagen: »Angekettet / Nichts vollendet / Glück verwettet / Ehr verpfändet / Lieb verschwendet / Ich verfettet / Krank verblendet ... / Ach wer rettet?« Ganz Pessimismus das Sonett »Sterbenslänglich« am Ende des Prologs: »Den toten Augen bleibt nichts mehr zu blicken. // Der letzte Mensch verstummt in seinen Qualen / und überläßt den Rest den Kannibalen. / Die Geigerzähler hören auf zu ticken.« Es geht auch ohne starke Worte, »Im Garten«: »Über den Zaun steigt / Rauch, es knistert verdächtig – / nebenan brennt Müll.« Da ist der zweifellos zweifelhafte Zustand der Welt in einem winzigen Fetzen Alltagsrealität präpariert.

»Coca Cola – Halleluja! Songs und Hymnen« kontern den Prolog mit einem buntscheckigen Kaspertheater von Entlarvungen. Da kommt ein Papst dran (welcher? ist ja egal) wegen seiner Enzyklika gegen Geburtenregelung – »Tut weg die Vorhaut eures Herzens! Kehrt / zurück zu dem natürlichen Gebrauch / des Weibes! Lehret eure Weiber auch, daß keines der Natur sich sündlich wehret!« Berliner Fontane-Preis 1969 für Wolf Biermann: »Des Geldes Geldverschenker / Im Charlottenburger Schloß / Sein Image zu polieren / Zehn Mille kostet’s bloß«. Beim Thema Fernsehen reimt sich bei Rarisch Ausgewogenheit auf »Haus-Verlogenheit«. Staatstragende Anpassung: »Ich steh auf dem Boden / der Bonner Verfassung, / ich hasse Vermassung / und linke Methoden. // Grips hat man mir ausgetrieben, Demut ist zurückgeblieben.«

Es sieht so aus, als hätte die Verzweiflung in den Prolog-Gedichten die Wirkung, die Sprache scharf und böse zu schleifen. Ein Appell zur Widersetzlichkeit geht von den Gedichten im »Coca Cola – Halleluja« aus, sich querzulegen zur grassierenden psychischen Umweltverschmutzung – die tödlich ist.

Drittens »Das gerettete Abendland«. Also Rarisch sieht es bestimmt nicht als gerettet an. Die Gedichte dieser Gruppe haben mit christlich-abendländischem Bewußtsein zu tun, wie es sich hier im Brückenkopf Bundesrepublik entwickelt hat und Politik und Kultur verbiegt. »Deutsches Credo«: »Moralisch aufgerüstet lauern wir: / Kein Krieg sei fürder ohne happy-end; / kein Feind spring über unsre fünf Prozent. / Um keinen toten Juden trauern wir.« Filbinger kriegt sein Fett wegen seiner patenten Geschichtsauffassung. Die Porzellanmodelle der Berliner Freiheitsglocke für Witwen in Vietnam gefallener Amerikaner als Beispiel für die Scheußlichkeiten, die längst zur Normalität geworden sind.

Rarisch reibt sich mit spürbarem Ingrimm an der deutschen Gegenwartsliteratur der Bundesrepublik; sie wächst und gedeiht in und von diesem Klima. Die ganze Gruppe 47 und besonders Böll und Grass sind seine Lieblingsfeinde. Über Günter Grass: »Denunziert er Brecht, den Toten, / klatscht man Beifall seinen Zoten. // Reklamiert er Döblins Geist, / den er stets als Vorbild preist, // furzt die Gruppe siebenfürzig, / und im Lande duftets würzig.« Heinrich Böll kriegt den Kommentar: »Geweihter Quark wird fromm, nicht stark.« Eine »Mafia« steuert eine Literatur, die für Rarisch zum »Medienmodenmarkttrara« verkommen ist.

Hier beißt der Dichter Rarisch um sich, der partout nicht in die gegenwärtige Literaturlandschaft sich einfügen will. Er sträubt sich gegen literarische Uniformität, die sich von Kahlschlag und ausgemergelter Rollenprosa herleitet. Seine literarische Abstammung führt mehr zum Dada, zu einem pathetischen Expressionismus und ins quicklebendige Kabarett der zwanziger Jahre zurück, noch weiter vielleicht in eine giftige Romantik. Damit hat er reichlich Abfuhren, Herabsetzung und Ignorierung erfahren. Er hat eine reizbare Galle, wird Partisan, der mit blanker Schreibmaschine dem Gegner in die Flanke fällt (und in Watte trifft). Der Hinweis auf persönliche Motive seiner Gereiztheit soll nicht von seinem Vorwurf ablenken, die Preisträger-Literatur produziere Alibis für den Staat, in dem so viel faul ist.

Eine merkwürdige Beobachtung: Auf der einen Seite bleiben Rarisch Veröffentlichungsmöglichkeiten versperrt; fürs Literarische Colloquium Berlin z.B. oder fürs Lyrikprogramm der auf dem Markt führenden Verlage weist er nun wirklich denkbar falsche Merkmale auf. Auf der anderen Seite sind viele seiner Gedichte z.T. mehrfach in kleinen und kleinsten Zeitschriften abgedruckt, die der »alternativen Szene« zuzurechnen sind. Leserinteresse und Wirkungsbreite sind also durchaus da.

Über alle »offizielle« Nichtbeachtung hinweg halte ich die Gedichte von Klaus M. Rarisch für einen wichtigen Beitrag zur Gegenwartsliteratur. Sie kommen aus keinem stillen Kämmerlein, sondern fangen viel und genau Realität ein. Das reicht von Alete bis zum Telephonseelsorger (»Techniker der Selbstmordverhütung en detail«), von der Allianz-Versicherung bis zu Wim und Wum. Die Sprache ist nicht, was gefällig heißt; das muß wohl sein, wenn jemand über so viele Methoden verfügt, Sprache und Wirklichkeit zusammenzubringen. Reim, Strophik, Metrik sehen aus wie traditionell, ich werte das aber nicht als epigonale Nachahmung. Ich sehe dort vielmehr ein sehr kunstvolles Spiel mit Sprache entstehen, mit ganz persönlich bedingtem Aufgreifen von Wirklichkeit. So wird die Sprache mal gewaltsam und mal glitzernd, ist immer gut für Überraschungen. Und nicht zuletzt: Es gibt viel zu lachen!

Robert Wohlleben

     
Remington-Anspitzer

Klaus M. Rarisch bei fulgura frango

     

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