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5,85 Sonette per annum
Klaus M. Rarisch
* 17. Januar 1936 in Berlin, † 20. Juli 2016 ebendort

Von Robert Wohlleben

Ein unruhiger Geist mußte Ruhe geben. Klaus M. Rarisch war in erster Linie Lyriker, im Lauf der Zeit mehr und mehr bis schließlich einzig auf die Gedichtform Sonett spezialisiert. Seine Gedichte oft ebenso kämpferisch scharf in der Diktion wie seine Rezensionen und Stellungnahmen. Zelebritäten wie Heinrich Böll, Günter Grass, Marcel Reich-Ranicki, Wolf Biermann, Ulla Hahn flickte er am Zeuge. Mit dem als Substrat, was Marcel Reich-Ranicki in seinem FAZ-Artikel »Das Ende der Gruppe 47« über deren Abschiedstreffen in Saulgau schrieb, verfaßte Rarisch die nach Cefalù verlegte Kontrafaktur »Das Ende der Mafia – Sizilien 1977«, Namen des Personals der Lokalität angepaßt: Giovanni Giudice, Grasso, Gioacchino Imperatore, Federico Radezza, Marcello Ricco-Randellone. Das Ganze im Stil der späten Phantasus-Dichtung von Arno Holz, also mit reichlich Fiorituren. So müssen dem als früherem Treffensort erwähnten Gasthaus »Pulvermühle« erst noch »Explosivklause« und »Dynamitbaude« vorangehen. (Ich machte 1981 nur allzugern – und grinsend – den Meiendorfer Druck Nr. 8 daraus: alle Buchstaben einzeln mit meinen »Signierstempeln« aufs Papier gebracht, klebstoffliche Mittelachsmontage auf einem ausgehängten Stallfenster als Lichttisch.)

Andrerseits ging es ihm darum – ich zitiere mich: –, »mit blanker Schreibmaschine gefährdete Posten literarischer Rechtlichkeit freizukämpfen (zu entsetzen, im militärischen Verstande), – vorzugsweise wenn Amo Holz tangiert ist.« Die Beziehung zu diesem Dichter begann, als Rarisch – wie er mir erzählte – als Junge beim Durchstreifen Berliner Ruinenkeller auf dessen Gesamtausgabe von 1924/25 stieß. Mithin nur konsequent, daß er später, nach dem Tod der Dichterwitwe, für eine Weile mit der Verwaltung des literarischen Nachlasses von Arno Holz betraut war und dessen ungefüges, zweibändiges Verstheater »Die Blechschmiede« zu einem Hörspiel kondensierte, von Heinz von Cramer für den Bayerischen Rundfunk inszeniert und von der Akademie der Darstellenden Künste (Frankfurt) als »Hörspiel des Monats« Oktober 1979 ausgezeichnet. Auch für andre trat er ein: etwa für die ins Exil getriebenen Dadaisten Richard Huelsenbeck und Walter Mehring wie für vergessene Sonettdichter.

Klaus M. Rarisch und ich begegneten einander, als ich Ende der Sechziger im Zuge von Recherchen für eine (nie zu Ende gebrachte) Dissertation über Arno Holzens Tragödie »Sonnenfinsternis« Besuch machte bei Anita Holz, der Witwe. (Die alte Dame bekam von mir den ersten und immer noch einzigen ernstgemeinten und, wie ich hoffe, »formvollendeten« Handkuß meines Lebens). Klaus M. Rarisch, damals ihr Beistand beim Umgang mit der literarischen Hinterlassenschaft ihres Mannes, war sozusagen als Wachhund anwesend. Als er und ich nach meinem Besuch bei Anita Holz in eine etwas dunkle Berliner Bierkneipe gingen, um noch miteinander zu reden, mußte er mich dort auslösen. Unsere Bekanntschaft geriet über die Jahre zur Freundschaft.

Mehr hamburgisch vom Studentenkurier und Leslie Meier geprägt, hatte ich nicht mitbekommen, was bis in die International Times Wellen schlagend in Bremen passiert war. Dessen Oberpostdirektion schloß die im November 1966 erschienene Nummer 11/12 von »total – eine macabre zeitschrift« vom Versand als Drucksache oder Büchersendung aus, weil ihr »einsehbarer Inhalt erkennbar gegen das öffentliche Wohl oder die Sittlichkeit« verstoße. Im anstößigen Heft als Redakteur genannt und gut mit potenziell inkriminierbaren Beiträgen vertreten: Klaus M. Rarisch. Von 1966 bis ’68 war er dabei. Im Nachhinein bedaure ich, die Publikation damals verpaßt zu haben: Ich hätte Sinn dafür gehabt.

Mir ging bald auf, daß dieser für Dokumentierung stadtbezüglicher Grauer Literatur zuständige Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Urbanistik damals schon einiges an literarischer Vita beisammen hatte. 1957 war er Mitbegründer der literarischen »Gruppe der Vier + 4« und des Ultimismus, beides angelegt auf literarische Unruhestiftung. 1958 veranstalteten die »Vier«, zu denen des weiteren Dieter Volkmann, Manfred A. Knorr und, ich meine, Johannes Teufel gehörten, in Berlin eine Dada-Soiree im Beisein von Huelsenbeck und waren bei den Unterzeichnern von Carl Laszlos »›Manifest‹ gegen den Avantgardismus« vertreten. Es begleitete die Nummer 1 von Laszlos Augen öffnender Zeitschrift »Panderma – Revue de la fin du monde«. Namen wie Bruno Spoerri, Bazon Phönix Phlebas Brock und K. R. H. Sonderborg zeigen an, daß sich die vier Ultimisten als Unterzeichner in bester Gesellschaft befanden. Fazit des Manifests: »Wir distanzieren uns von jeglichen restaurativen Tendenzen, sagen aber den Kampf der avantgardistischen Stagnation an. Der heutige Avantgardismus ist mit seinem verstaubten Fortschrittsglauben an die Gegenwart gefesselt. WIR BESCHRÄNKEN UNSERE INTERESSEN AUF DIE ZUKUNFT!«

Zwischen Juli 1961 und dem 31. Dezember 1963 fand der Ultimismus der »Gruppe der Vier + 4« seinen Raum im »Kulturkeller ›Das Massengrab‹«, von Rarisch und dem Freund Dieter Volkmann in der Charlottenburger Schillerstraße, Haus Nr. 40, gegründet; in den Räumen hatte zuvor eine Kohlenhandlung ihr Geschäft betrieben. Das »Massengrab« war als Klub organisiert. Nur Mitglieder hatten Zutritt. Wer erstmals hineinwollte, hatte seinen Klubeintritt zu erklären. Auf diese Weise wurde das »Massengrab« mit am Ende fast 1700 Mitgliedern zur größten literarischen Gesellschaft Berlins. Die schließlich 133 Soireen waren deshalb nicht öffentlich, weil die Veranstalter keine Chance gehabt hätten, eine Schanklizenz gewährt zu bekommen. »Der Tag – Unabhängige Zeitung für Deutschland« gab am 11. 7. 1962 eine Impression: »Die Preise sind niedrig, die Stühle hart, doch die Erwartung ist groß. Viel junges, interessiertes ›Volk‹ sitzt in drangvoll fürchterlicher Enge im ›Kulturkeller‹ in der Schillerstraße 40 (genannt Massengrab), wo die literarische Vereinigung der ›Vier + 4‹ ein immerhin anspruchsvolles Programm zusammengestellt hat.« Der Kulturkeller bringe »einen Farbfleck mehr in den, wie es scheint, doch ganz munteren, zumindest vielgestaltigen Kulturbetrieb unserer Stadt«.

Mit Datierung März 1961 bot die Nr. 1 der Flugschrift »Das Massengrab – Blätter für das Menschenmaterial« schon vor der Kluberöffnung Klaus M. Rarischens »Ultimistisches Manifest Nr. 3« mit diesem programmatischen Schluß: »Unsere Zeit ist reif für die Apokalypse, ihr Menschenmaterial dem MASSENGRAB verfallen, mit Notwendigkeit läßt sich jetzt nur noch eine Kunst finden: die letzte. Durch unser Credo tönt schweigend die ULTIMA ARS.« Der pathetische Pessimismus darin rückt die Weltsicht der Ultimisten in die Nähe des von Peter Rühmkorf für sich und Werner Riegel proklamierten Finismus, wie er mit Hang zum Ironischen, Elegischen in Rühmkorfs und Riegels Gedichten im Heft »Heiße Lyrik« von 1956 vibriert. Doch die ultimistische Intonation klingt dringender, greller in ihrem verzweifelten Furor. Rühmkorf und Riegel hatten den Krieg bewußter »mitbekommen« als die »Kriegskinder« der »Vier«: Riegel ’43 eingezogen, verwundet, Gefangenschaft, Rühmkorf bei Kriegsende fünfzehn. Kriegserinnerung auch bei Klaus M. Rarisch: Als Berlin evakuiert wurde, geriet die Mutter mit dem Kleinen nach Ostpreußen, gegen Kriegsende mit einem Treck zurück nach Berlin, Deckung suchen unter Tieffliegerangriff.

»Ultimistischer Almanach« ist die retrospektive Sammlung betitelt, die Rarisch 1965 herausgab, die Dadaisten Hans Arp, Huelsenbeck und Mehring hatte er mit an Bord geholt. In der Einleitung befand Rarisch: »Was den Schriftsteller heute zwingt, die Stimme zu erheben, ist die Totalität der ideologischen Ansprüche unserer Zeit und Umwelt: nationaler Untertanengeist, soziale Umklammerung, politische Pseudo-Antinomien und religiöser Dogmatismus, in summa die Philosophie des Als-Ob.« Allerdings: »Der Schriftsteller bleibt ohne jede praktische Wirksamkeit, denn: ›Monaden haben keine Fenster‹ (Leibniz).« (Nebenbeobachtung: Wie zuvor schon Rühmkorfs und Riegels »Heiße Lyrik« kam auch der ultimistische Almanach mit einem Holzschnitt von Arp auf dem Einband daher.) Damit war nun aber, mal pathetisch verbildlicht, die Fackel des Ultimismus nicht erloschen. 1966 trug Klaus M. Rarisch sie hinein in »total«, drei Jahre zuvor vom damals 17-jährigen »Jungspund« Siegfried-Hermann Hirsch in Bremen begründet. Zwei Nummern nach dem Ärger mit der Postzensur als »die literarische illustrierte« gezähmt. Nach außen hin jedenfalls, denn im Innern blieb es beim »Macabren« und offenkundig Ultimistischen.

So konnte es denn getrost oder mußte gar laut zugehn in »Not, Zucht und Ordnung«, Rarischens als ultimistisch deklarierter Gedichtsammlung von 1963, am Schluß des Impressums prophylaktisch – und im Hinblick auf die »geistige« Wetterlage nicht abwegig – angemerkt: »Beim Erwerb hat der Käufer erklärt, weltanschaulich unbefangen zu sein und an den Texten keinen Anstoß zu nehmen. Für eventuelle Unannehmlichkeiten, die durch diesen Band entstehen, ist der Käufer verantwortlich.« Erstes Stück des kleinen Zyklus »UNTERGÄNGE – Sonette für Anarchisten«:

    Unsterblichkeit! Du Mutter der Propheten!
    Dein Lavaschoss – vereiste Anarchie,
    Gemordet für die Glückssekunde Nie.
    Finale reifer Untergangstrompeten.

    Gefrierfluch tauen sie in allen Städten,
    Und aus den Schloten steigt Theologie
    Gen Himmel. Totentanz wird dernier cri.
    Poeten kritzeln auf Gebetstapeten.

    Jetzt rauscht es laut durch alle Regentraufen
    Und sammelt gallig sich in geilen Laken.
    Kreuzweise schlägt die Dialektik Haken

    Und lässt sich antichristlich trocken taufen.
    Die Luft drückt schwül in weihrauchsüsser Güte
    Auf spitze Köpfe runde Priesterhüte.

Etwas paradox meine Regieanweisung fürs stille Lesen: den inneren Lautstärkeregler weit aufdrehen, um der wilden Jagd der Wörter gerecht zu werden. Denn laut hat es zu sein … und das wohl mehr im Sinne einer wütenden Reviermarkierung bis zur Erschöpfung wie beim Finkenmanöver als nur eines Pfeifens im Walde am Rande von Verzagtheit. Der Gestus ist expressionistisch ungebärdig, die letzte Zeile deutlich genug aufs »Weltende« des Jakob van Hoddis weisend. Die Sprachform ist aber keineswegs ungebändigt: 40 der insgesamt 46 Gedichte im kleinen Band sind Sonette, alle – wie das Beispiel – nach »strenger« Regel gebaut. Fest muß dies Gehäuse auch sein, um nicht vom Druck der Wörter ins Formlose zersprengt zu werden. Hinzu kommt eine bald schon barocke »Klangpflege« mit Alliterationen und vokalischen Assonanzen: cri / kritzeln, gallig / geil, Trompeten / Traufen / trocken, rauscht / laut / Traufen, schwül / süß / Güte.

Musik war von Anfang an im Spiel. Zu den Ultimisten der ersten Stunde gehörte der 1958 von einem betrunkenen Schlachtermeister am Volkswagensteuer totgefahrene Dichter und Komponist Manfred A. Knorr, er wurde 23 Jahre alt. Die neun Gedichte von Rarischens 1957 entstandenem Gedichtzyklus »Der Tod ein Traum« – später auf vierzehn ausgebaut – begleitete er mit »Neun solennen Salmisationen für Klavier über den polytonalen Komplex A-Dur, es-moll, d-moll«, beides noch 1958 von den Urhebern gemeinsam uraufgeführt. Knorrs Komposition habe ich nie gehört, das Notenbild half und hilft mir nicht … die Reinschrift für den Meiendorfer Druck Nr. 4 von 1977 verdankte ich dem einstigen Schulkameraden Dieter Einfeldt, zwei Klassen über mir. Ich bat die Klavierlehrerin zwei Etagen tiefer, mir die Stücke vorzuspielen. Sie setzte sich an ihren Flügel, schlug den ersten Akkord an, erschauerte und klappte den Deckel der Klaviatur runter. Offensichtlich nicht »ihre« Musik. Da wiederholte sich vielleicht, was zu einer 1959 beim Internationalen Jugend-Festspieltreffen in Bayreuth aufgeführten Streichorchesterfassung der »Salmisationen« angemerkt wurde: Vom »Gehalt der Selbstverneinung und dem Schock einer ungewohnten Form« seien einige Zuhörer vertrieben worden. Beginn der zugehörigen »Leichengesänge des Niccolò Sosia aus Venedig«, »Maestoso« als Vortragsanweisung der Knorrschen Parallelkomposition:

Maskiert
mit lächelnder Tristesse
hat sich das Nichts ein Tanzlied ausgedacht:
Mich
reißt mit ungemessener Brisanz
die Implosion
des Welt vor abertausend Ewigkeiten:
ja Welt und Aberwelt!
gewesenen
Allwesens ins Entwesen –

Musik … über die Jahre sammelten sich bei mir viele Audiocassetten an, von Rarisch geschickt: Mitschnitte literarischer Radiosendungen, Aufnahmen von ihm gesprochener Lyrik. Vielfach war danach verbliebener Freiraum mit Musik gefüllt: Skrjabin (Schwarze Messe), Schnittke, Debussy, Cimarosa, Karl Goldmark, Einfeldt, Bellini, Puccini, Mahler – dem die fünfzehn Sonette des Zyklus »Letztes – Ein Epilog in Sonetten« in »Not, Zucht und Ordnung« gewidmet sind.

Die Gedichtform Sonett mit ihrer »innendruckbeständigen« Ausführung und mit spezifisch ultimistischer Ornamentik blieb typisch für die poetische Produktion von Klaus M. Rarisch, wenn auch »Das gerettete Abendland – Songs und Hymnen« von 1982 außer 45 strophischen, teils auch »freirhythmischen« Gedichten »nur« 30 Sonette enthält. 1990 erschien »Die Geigerzähler hören auf zu ticken – 99 Sonette mit einem Selbstkommentar«. Der Band brachte die Sonette aus den beiden zuvor erschienenen Sammlungen zuzüglich danach entstandener. Die Gesamtzahl vom Autor bewußt auf 99 beschränkt, um damit womöglich hämisch ironische Kommentare à la »Für hundert hat’s wohl nicht gereicht …?« zu provozieren. Alles, was nach den »Geigerzählern« an Sonetten entstand und großenteils sukzessive in mehreren kleinen Heftportionen erschien, ist in »Memento mori – 99 Sonette zwischen Tod und Leben« von 2008 zusammengefaßt. Etwa vier Jahrzehnte nach »Not, Zucht und Ordnung« entstanden und immer noch ultimistisch:

    DIE TOTE STADT

    Der Abend graut. Kein Laut vom Campanile
    durchdringt die Silberwatte der Gardine,
    die uns das Drama, wenn es je erschiene,
    verbirgt. Wir ahnen: Wir sind viel zu viele

    Statisten nur fürs Brot, doch ohne Spiele.
    Wir für den kurzen Auftritt Ausgeliehne,
    Maskierte, wir verziehen keine Miene,
    uns locken zu der Heimfahrt keine Ziele.

    Doch jener Hagre, Alte, Lippenlose,
    auf seiner Gondel gänzlich Hippenlose
    zirpt Mandoline und krächzt Abschiedslieder,

    verschwimmt im nebeldunklen Canal Grande.
    Zurückgeblieben, spüren wir die Schande,
    gelebt zu haben einmal und nie wieder.

… und gleichfalls immer noch der venezianische Limbus! Als Niccolò Sosia, so sein frühes Pseudonym, hatte sich Klaus M. Rarisch tief hineinversetzt.

Hinzu kommen seine Sonette als Bestandteile größerer »Tenzonen«, Zwiegespräche in Gedichten. Sie sind nicht in »Geigerzähler« und »Memento mori« aufgenommen. Zwischen dem 12. März und dem 25. Juni 1995 gerieten Rarisch und Lothar Klünner in ein erbittertes Sonettgefecht. Klünner hatte »Streit angefangen« mit einer ironischen Sonettschelte in Sonettform, wie bestens von Robert Gernhardt bekannt. Klünners Sonett schloß:

    Sonette schreiben, wißt ihr, was das heißt?
    Im Dorf der Schützenkönig kann’s euch sagen:
    Ein Scheibenschießen! Mir geht’s auf den Geist.

O wei! Das lief dann auf zehn Sonette von Rarisch und elf von Klünner hinaus, daß die Fetzen flogen, noch während des Streits und kurz danach von Brigitte Lange (BRI), Ernst-Jürgen Dreyer, Herbert Laschet (HEL), Gisela Kraft, Lothar und Joachim Klünner mit sonettalen Ein- und Zwischenreden flankiert. Alles im Meiendorfer Druck Nr. 40 von 1996 versammelt, dem ich den Titel »HIEB- UND STICHFEST« erfand, bewußt in Versalien gehalten, auf daß offenbleibe, wie es sich mit Groß- und Kleinschreibung verhält (2012 Neuausgabe im Leipziger Verlag Reinecke & Voß).

Kameradschaftlicher lief es von Mai 2004 bis November 2005 zwischen Rarisch und Matthias Koeppel ab, dem Maler, Mitbegründer der »Schule der Neuen Prächtigkeit« und einstigen Starckdeutsch-Dichter, nachdem Koeppel auf einen entsprechenden Aufruf des Deutschen Sprachrats hin das Wort »Wurst« – mit »Durst« als natürlichem Reim – als schönstes deutsches Wort in Vorschlag gebracht hatte. Und zwar in Sonettform. Allerdings erst nach dem Einsendeschluß. Es entspann sich ein munterer Wechsel von Sonetten im Sinne literarischen Kabaretts bester Tradition. Stark verknappte Themenübersicht für »Um die Wurst – Sonette zur Lage«, dem Meiendorfer Druck Nr. 56 von 2006: »Aufregung um Dosenpfand und die Sozialreform Hartz IV, Papstwahl und Papstwort zum Zölibat, Mord am Exzentriker Rudolf Moshammer, die unscharfe Bundestagswahl vom 18. September 2005 … hinein mischen sich Reflexionen hie zum Malen, hie zum Dichten.« 32 Rarisch-, 33 Koeppel-Sonette. In ihrer von Ende 2007 bis Frühjahr 2010 entstandenen, als Privatdruck erschienenen Tenzone »Macht die Seelen weit!« ventilierten Rarisch in 80 und Koeppel in 79 Sonetten abermals brennendste Weltprobleme.

Nachgezählt: 310 Sonette in den Jahren 1957 bis 2010. Oder, weil Klaus M. Rarisch eine Neigung zu solchen Berechnungen hatte: 5,85 pro Jahr. Ein paar Sonettübersetzungen kommen hinzu, darunter – natürlich! – Shakespeares Nr. 66 mit der Klage über die Verkommenheit der Menschenwelt. Bemerkenswert Rarischens Annäherungen ans Romanesco des Giuseppe Gioachino Belli. Sicherlich half dabei die »Seelenbindung« an Italien, der wohl auch seine Übersetzung von Filippo Tommaso Marinettis »La cucina futurista« geschuldet ist … im Januar 2003 erlebte ich zu meiner Überraschung im kleinen, aber feinen Zürcher Theater Stok die Inszenierung »Tabula rasa«, als Basis »Die futuristische Küche«, Rarischens Übersetzung. Ein Schweizer Rezensent der Aufführung war besonders beeindruckt vom Rezept für das Herbstessen: »fünfzehn Schweigeminuten, während deren der Gast das Leere kaut«. Schräg. Auf seine Weise schräg auch der römische Dichter Belli, der – wie Rarisch angemerkt hat – »in den zwanzig Jahren von 1829 bis 1849 heimlich seine phänomenalen 2279 römischen Sonette schrieb, von denen er nur ein einziges zu Lebzeiten selbst veröffentlichte. Jährlich entstanden im Durchschnitt 114 Sonette«. Im übrigen wird das folgende Belli-Sonett dem ultimistischen Dolmetsch aus der Seele gesprochen haben:

    DER TOD MIT DEM SCHWANZ

    Du kannst von mir aus Jakobiner sein,
    wenn nicht, dann glaube fest an die Gesetze,
    du glaubst, ob Adliger, ob armes Schwein,
    daß einer schon für dich die Sense wetze.

    Noch läufst du ins Theater und trinkst Wein,
    rennst vom Bankett zur Liebschaft, welche Hetze,
    noch schacherst du, noch bringt es etwas ein,
    du paßt dich an … und hängst dem Tod im Netze!

    Und dann? Dann kommt das große Wehgeschrei,
    das andre Leben in der andren Welt,
    das immer währt und niemals geht vorbei!

    Verrücktes Nie! Wie der Gedanke schreit!
    Ob oben oder unten, ewig bellt
    ins Ohr dir diese Hündin Ewigkeit!

Arrivederci, Niccolò …
 


 

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Nr. 17, 3. Jg., November 2016

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