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Klaus M. Rarisch:
Das gerettete Abendland.
Songs und Hymnen.
Mit einem Nachwort von Jean Bréjoux

Wissenschaftlicher Verlag A. Lehmann
Gerbrunn 1982
Kl.-8°, 136 S. Preis geb. DM 12,80

Klaus M. Rarisch: Das gerettete Abendland


Klaus M. Rarisch, 1936 in Berlin geboren, noch heute dort ansässig, ist ein Phänomen in unserer form- und sprachlosen Ära. Seine Gedichte sind makellos. Das Sonett, Gipfel der lyrischen Kunst, ist sein geliebtestes Vehikel, nicht ohne Grund ist eines Platen zugeeignet, dessen nihilistische Lebensphilosophie der von Rarisch entspricht Er ist ein Poet, aber ein böser, weil unbequemer; denn er gehört in die Kategorie »poète maudit«, wie er selber manifestiert; »Poète maudit«:

Im Jahrmarkt vor dem Ringerzelt,
ein Mensch im Hundezwinger bellt,
der sich für Axel Springer hält:

Dem Wahnsinn in die Finger fällt,
wer sich als Meistersinger quält
in dieser Fahnenschwinger-Welt.

Das Aprosdoketon von Rarischs jüngster Anthologie von Gedichten, »Das gerettete Abendland«, erscheint in magischer Beschwörung dreimals, als Gedichtüberschrift, als Unterteilung für »Gesänge von Würde und Unantastbarkeit« und schließlich als Gesamttitel, eine Art Leitmotiv, über die Spenglersche Prognose hinausreichend: der Untergang ist furchtbar nahegerückt, und das Fragezeichen der bangen Widmung, »Ach, wer rettet?«, hängt wie ein dräuender Atompilz in der Luft. Entsprechend heißt es in »Sterbenslänglich«:

Der letzte Mensch verstummt in seinen Qualen
und überläßt den Rest den Kannibalen.
Die Geigerzähler hören auf zu ticken.

Rarisch zieht die Register der gesamten deutschen Literatur für sein memento mori; er ist gründlichst belesen und treibt die dichterischen Assoziationen oft bis zur Travestie, um so einleuchtender die prekäre Lage des hilflos ausgesetzten Individuums aufzeigend; »Schicksalslied«:

Tapp ich vom Teppich einen Schritt
jahrlang ins Ungewisse hin –
ab bis zum Grab von Hölderlin ...
denk, also bin ich? Hirn, faß Tritt!

Wie Goethe, der sich in den »Zahmen Xenien, 37« als Glied einer Kette betrachtet, so sieht sich Rarisch seit den Tagen des von ihm mit gleichgesinnten jungen Autoren proklamierten Ultmimismus als Epigone von Dada:

Was man sah seit Dada–
aha:
Medienmodenmarkttrara!

In den sechziger Jahren veranstaltete diese »Gruppe Vier + 4« in einem ehemaligen Kohlenkeller, den sie »Massengrab« nannten, ca. 200 Lesungen für die damals größte literarische Gesellschaft in Westberlin. Rarisch gab im Zusammenhang damit 1965 den »Ultimistischen Almanach« heraus und 1966–68 die makabre Zeitschrift »total«, wie Dada ein alternativer Kampfruf und Warnung vor dem drohenden Weltuntergang. Rarisch bekennt sich zu Arno Holz, für dessen Wiedererweckung er seit 1965 kämpft, und dessen aufopfernder literarischer Nachlaßverwalter er seit Jahren ist. Einige Gedichte von Rarisch sind in der von Holz kreierten Mittelachsenkonstruktion verfaßt; »Denkmal des unbekannten Gammlers«:

Jesumann,
geh du voran,
du lockst die meisten Wähler an!

Auch Benn zählt Rarisch zu seinen Vorfahren: »Wenn schon, Benn schon: Entwicklungshohn.«

Rarischs sarkastische, doppelbödige Verse aus »Rost und Kupfervitriol« zielen auf jeden, ob Bundesbürger oder Klassiker:

Väter turnen über Mütter,
schlecken, schlingen, schlucken, schlürfen –
darauf einen Magenbitter!
Väter müssen, Söhne dürfen
später nach Salpeter schürfen ...
Schiller sucht Malteserritter,

ob Mitglied der »Gruppe 47«: »Furzt die Gruppe siebenfürzig, / und im Lande duftets würzig«, oder germanistischer Fachidiot, Professor Odradek auf der »Kafkakonferenz«:

Doch seine Dialektik des Entweder-
Und-Oder treibt sie durch die Nadelösen.
(Kamele, die bis dato sie gewesen,
mit ihren Exegesen, zäh wie Leder!).

Frappierend ist die Vielseitigkeit seiner Thematik; prophetisch warnt er noch vor dem Antritt Kohls, »Syphilis frißt Linksabbieger«, denn

Bedenklich ist’s, den Kopf zu schütteln.
Ein Ruck nach links, schon fliegt er weg
vor eiligen Ermittlungsbütteln,
die da geheiligt sind vom Zweck.

(Bedenklich). Gleichzeitig persifliert er die kapitalistische Bigotterie der USA unter »Coca Cola – Hallelujah!«

Er beherrscht sein Metier mit allen stilistischen Raffinessen, vom Akrostichon für Benno Ohnesorg bis zum Palindrom (Odradek-Kedardo), von rhetorischen Figuren bis zum alliterierenden Neologismus (Wortwildwuchs). Sein Stimmungsbarometer reicht von verschmitzt heiter, »Es folgt kein Epilöglein – / Drum schweigt das Dichtervöglein«, bis zum absoluten Tief, »Und kannst du noch schreiben – / treiben / sie dich zum Selbstentleiben!« Ein Sprachvirtuose, der etwas zu sagen hat, ist dieser Rarisch, rar.

INGEBORG L. CARLSON
Arizona State University

Rocky Mountain Review
of Language and Literature
vol. 37, no. 4, 1983


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