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Oskar Panizza (1853–1921)

Oskar Panizza

Von Klaus M. Rarisch


George Grosz hat Panizzas Leichenbegängnis, mit einem größenwahnsinnig triumphierenden Pfaffen im Mittelpunkt, expressiv als visionäre Groteske gemalt. Daß deutsche Dichter aus politischen oder rassischen Gründen verfolgt und vernichtet wurden, ist uns spätestens seit Heinrich Heine und dank Adolf Hitler zur stumpfen Selbstverständlichkeit geworden. Daß aber ein Poet allein auf Betreiben der Kirche, mit dem Staat als Büttel, zur Strecke gebracht worden wäre – dafür findet sich vor dem Fall Panizza kaum eine Parallele. Man muß schon mehr als drei Jahrhunderte verstaubter Literaturgeschichte zurückblättern auf der Suche nach einem Vorgänger. Da stößt man auf den wortgewaltigen schlesischen Barocklyriker und Mystiker Quirinus Kuhlmann, der 1689 in Moskau als Ketzer verbrannt wurde. (Mehr darüber in der geradezu spannenden Habilitationsschrift von Walter Dietze, »Q. K. – Ketzer und Poet. Versuch einer monographischen Darstellung von Leben und Werk«, Ost-Berlin 1963.)

Oskar Panizza, 1853 im fränkischen Bad Kissingen geboren, verlebte eine Jugend unter religiösem Hochdruck. Seine Mutter entstammte einer aus Frankreich geflohenen protestantischen Hugenottenfamilie, der Vater war Sohn eines aus Italien eingewanderten katholischen Kaufmanns. Die Eltern, die ein Hotel betrieben, konnten sich in der Frage der konfessionellen Erziehung der Kinder nicht einigen. Panizza, für kaufmännische Berufe ungeeignet, holt mit 24 Jahren das Abitur nach, studiert Medizin und promoviert 1880 mit Auszeichnung. Er wird Assistenzarzt an einem Münchner Irrenhaus, in dem er später selbst als Patient landet; dann ermöglicht ihm die Mutter mit einer finanziellen Unterstützung die Existenz als freier Schriftsteller. Über sein Leben und seinen Prozeß informiert der Band »O. P., Das Liebeskonzil und andere Schriften«, herausgegeben von Hans Prescher, Luchterhand Verlag, Neuwied/Berlin 1964. Charakteristische Zitate aus seinen Pamphleten »Die unbefleckte Empfängnis der Päpste« (1893) und »Der teutsche Michel und der römische Papst« (1894) sowie eine verständnisvolle Interpretation gibt Karlheinz Deschner in dem Sammelband »Das Christentum im Urteil seiner Gegner«, Band 2 (Limes Verlag, Wiesbaden 1971, S. 7-27).

Nun zu Panizzas Hauptwerk, zum »Liebeskonzil« (1894), dem Andenken Ulrich von Huttens gewidmet. Man schreibt Ostern 1495, kurz vor dem ersten Ausbruch der Syphilis. Gezeigt wird, kontrastierend und zugleich komplementär zu den Himmelsszenen, eine Sex-Orgie am Hofe des Borgia-Papstes Alexander VI., die Panizza übrigens mit Rücksicht auf die Aufführbarkeit des Dramas gegenüber der historischen Realität erheblich abgemildert hat. Die Konzeption des »Liebeskonzils« basiert nun auf einer grandiosen Fiktion: Wie würde der Gott der Christen auf die Sittenlosigkeit und Geilheit der Menschen reagieren, nachdem radikale Pferdekuren wie die Sintflut unwirksam geblieben sind? (Und nachdem, wie wir heute ergänzen könnten, auch die Möglichkeit eines Atomkriegs uns nicht zu »bessern« geeignet ist.) Panizzas Antwort: Aus der Sicht des Himmels müssen die Menschen bestraft werden, sie sollen dabei aber erlösungsbedürftig und -fähig bleiben. Dieses Dilemma können die Himmlischen aus Mangel an Intelligenz nicht lösen, nicht Gott Vater, ein boshafter, gebrechlicher Greis, nicht Christus, sein schwindsüchtig-hysterischer Sohn, ja nicht einmal Maria, eine versteckt lesbische Domina mit pausbäckiger Bauernschläue. (In ähnlicher Konstellation schildert Panizza die »Heilige Familie« übrigens in seinem bedeutendsten Prosawerk »Das Wirtshaus zur Dreifaltigkeit« aus dem Erzählungsband »Visionen der Dämmerung«, zuerst erschienen 1893, nur daß die Handlung dort in einer verkommenen fränkischen Abdeckerei spielt.)

So bleibt nur ein Ausweg: vor den wackligen Thron Gottes, der mit unentbehrlichen Requisiten wie Wärmflasche und Spucknapf wohlbestückt ist, wird zum Konzil ein proletarischer Underdog, ein wurzelloser, zersetzender Intellektueller geladen – der Teufel. Er ist, wie man heute sagen würde, Experte für wissenschaftliche Politikberatung und selbstverständlich Spitzenkönner in seinem Fach. Bezeichnenderweise fordert er als Gegenleistung vor allem Zensurfreiheit für seine Bücher, denn: »Wenn jemand denkt, und darf seine Gedanken nicht mehr andern mitteilen, das ist die gräßlichste aller Foltern«. Um die Menschen in puncto puncti zu treffen und sie durch ihren Koitus zu vergiften, zeugt er mit der biblischen Salome ein verführerisches Weib, die Syphilis. Nachdem er seine Tochter der Maria effektvoll vorgeführt hat, läßt er sie auf die Opfer los:

»Jetzt zu den Kardinälen! Dann zu den Erzbischöfen! Dann zu den Gesandten! Erst zu den Gesandten der italienischen Staaten; dann zu den fremdherrlichen Gesandten! Dann zum Camerlengo! Dann zu den Neffen des Papstes! Dann zu den Bischöfen! Dann durch alle Klöster durch! Dann zu dem übrigen Menschenpack! – Tummle dich und halte die Rangordnung ein!«

Nüchtern betrachtet ist der Teufel mit seiner Tochter erfolgreicher als Gott Vater mit seinem Sohn Christus, der die Erlöserrolle nicht mehr ohne die Hilfe der Syphilis spielen kann. So ist der vollständige Titel des Stückes zu verstehen: »Das Liebeskonzil. Eine Himmelstragödie«. Amor dei, die Liebe Gottes zu den Menschen, erleidet Schiffbruch – das ist die Tragödie des Himmels, eine metaphysische Pleite. Das himmlische Konzil aber, das diese Pleite abwenden sollte, ist nicht etwa aus göttlicher Liebe einberufen worden, sondern im Gegenteil zur Bestrafung der irdischen Liebe, zur Rettung der himmlischen Machtpolitik, zur Bekämpfung des menschlichen Emanzipationsstrebens. Panizzas Satire richtet sich nicht in erster Linie gegen die korrupten Zustände auf der Erde des Jahres 1495 – die Borgia-Szenen bleiben mittelmäßiges Theater –, sondern gegen den Christengott, der, weil an ihn geglaubt wird, auf Korruption mit teuflischen Gegenmaßnahmen reagieren kann. Ist dies »Gotteslästerung«? Ich glaube ja. Nur daß die anstoßnehmenden Gläubigen dann zuallererst den biblischen Jesus von Nazareth anstößig finden müßten, der ja – akzeptiert man ihn einmal als historische Figur – als Gotteslästerer hingerichtet wurde, wie u. a. Ansgar Skriver in seinem Buch »Gotteslästerung?« ausführt (Rütten & Loening Verlag, Hamburg 1962. Dort auch ein lesenswertes Kapitel über Panizza, S. 64-74).

Mit seiner Auffassung des christlichen Gottvaters stand Panizza in der Literatur seiner Zeit durchaus nicht allein. 1886, also acht Jahre vor dem »Liebeskonzil«, erschien in demselben Züricher Verlag (Verlags-Magazin J. Schabelitz) der Gedichtband »Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen« von Arno Holz, in dem es u. a. heißt: »Und so war denn nun der einst so allmächtige / Schöpfer des Himmels und der Erde / ein närrischer Popanz geworden« (zitiert nach der Luchterhand-Ausgabe A. H., Werke, Band V, l. Teil, S. 267). Panizza wußte wohl, warum er sein Buch in der Schweiz erscheinen ließ. »Es hat jeder deutsche Autor einmal etwas auf dem Herzen, was er nicht in Deutschland drucken lassen kann, und er geht dann ins Ausland«, schrieb er in seiner Verteidigungsrede zur Verhandlung vor dem Königlichen Landgericht München I am 30. April 1895; er hoffte vergeblich, daß eine »im Ausland begangene und dort nicht strafbare Handlung auch im Inlande nicht verfolgt werden« könne. Es half ihm nichts, daß viele der besten Schriftsteller seiner Zeit – Theodor Fontane, Detlev von Liliencron, Otto Julius Bierbaum, Theodor Lessing u. a. – sich zu ihm bekannten, ebenso wie später vor allem Kurt Tucholsky und Walter Mehring. Nichts galt beispielsweise die Äußerung Fontanes, die sich so mancher Kirchensteuerzahler noch heute unters Kopfkissen legen sollte: »Unser Publikum müßte endlich lernen, daß der Unglauben auch seine Helden und Märtyrer hat« (Brief an Maximilian Harden vom 22. Juli 1895). Auf taube Juristenohren stieß auch das Sachverständigengutachten seines Freundes Michael Georg Conrad, des Herausgebers der Gesellschaft und führenden Münchner Naturalisten. Der Staat war finster entschlossen, an Panizza ein Exempel zu statuieren. Man suchte lange krampfhaft nach dem unentbehrlichen Denunzianten, bis man schließlich in Leipzig einen Anstoßnehmer fand, der eines der wenigen verkauften Exemplare des Buches gelesen hatte und – gottlob! – Anzeige erstattete. Der Angeklagte konnte zunächst keinen Rechtsanwalt für seine Verteidigung finden. Der Advokat, der sich seiner schließlich erbarmt hatte, plädierte dann selbst auf einen Monat Gefängnis. Die Atmosphäre dieses trüben Verfahrens beleuchtet die authentische Äußerung eines Geschworenen: »Wenn der Hund in Niederbayem verhandelt würde, der käm’ nicht lebendig vom Platz«. Das Gericht konstatierte 93 Lästerungen im »Liebeskonzil« und verurteilte Panizza zu einem Jahr Gefängnis, das er bis zum letzten Tag absitzen mußte. Sein Gefängnistagebuch gibt traurige Einblicke in die Realität des deutschen Strafvollzugs, die leider noch immer aktuell sind.

Zweifellos hat die Gefängnishaft Panizza zerbrochen. Er emigriert 1896 in die Schweiz, wo er aber im Herbst 1898 ausgewiesen wird. Er geht nach Paris; dort entsteht der satirische Gedichtband »Parisjana – deutsche Verse aus Paris« (Verlag Zürcher Diskussionen, 1899), in der Nachfolge Heines eine scharfe Abrechnung mit dem wilhelminischen Zeitgeist:

 

»So wie heut’ die Frankfurter Zeitung,
ein Bischen hier, ein Bischen da,
regierungsfreundliche Begleitung –
doch kommen sie mir nicht zu nah’! –
niemals ganz sichere Entscheidung
mit demokratischem Trara;
zweideutig-schlüpfrig, schielend jede
Kolumne nieder auf und ab –
hört endlich auf mit dem Gerede,
das ewige Papperlapapp!«

(Ein Hans Magnus Enzensberger dürfte noch 1960 diese Verse in Erinnerung gehabt haben, als er in seinem Buch »Landessprache« die FAZ mit der Wendung »Das frankfurter allgemeine geröchel« attackierte.)

Panizza wurde daraufhin steckbrieflich verfolgt, sein Vermögen in Deutschland beschlagnahmt. Finanziell ruiniert, mußte er sich in München den Behörden stellen, wurde prompt für geisteskrank erklärt und 1905 vom Amtsgericht München entmündigt. Die letzten 16 Lebensjahre verbrachte er in der Nervenheilanstalt Herzogshöhe bei Bayreuth. Hans Prescher bezweifelt zwar in dem ansonsten sehr informativen Nachwort seiner Panizza-Ausgabe, daß man aufgrund kirchlicher Intrigen den Dichter gegen seinen Willen in der Klinik festhielt. Andererseits läßt Prescher aber durchblicken, daß ein Geistlicher, Dekan Lippert, den ihm in der Schlangengrube wehrlos preisgegebenen Panizza vergeblich zu »bekehren« versuchte.

Panizzas handschriftlicher Nachlaß aus der Anstaltszeit, 4000 Manuskriptseiten, liegt heute unerschlossen in der Münchner Stadtbibliothek. Eine Gesamtausgabe, geschweige denn eine kritische, existiert nicht. Noch 1962 wurde eine Faksimile-Ausgabe des »Liebeskonzils« (Verlag Petersen Press) von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt und erst nach Monaten freigegeben. Als im Oktober 1962 die Ultimisten, darunter der Verfasser dieser Zeilen, in ihrem Berliner Kulturkeller »Das Massengrab« eine szenische Lesung der Himmelstragödie veranstalteten, war der Raum überfüllt, aber keine einzige der eingeladenen Zeitungen wagte darüber zu berichten. Fast selbtverständlich ist es angesichts der phantasielosen Routine unseres Theaterbetriebes und der zu erwartenden klerikalen Repressionen, daß das »Liebeskonzil« – trotz eines durchschlagenden Bühnenerfolgs in Paris – in Deutschland noch immer unaufgeführt geblieben ist. Ob aber Panizza in die Vergessenheit versinken wird, können weder die Päpste noch ihre protestantischen Ableger entscheiden, sondern einzig und allein: wir, seine Leser.

Erschienen in
Materialien und Informationen zur Zeit (MIZ)

Berlin
Nr. 2/1976



 


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