Klaus M. Rarisch
Die Geigerzähler
hören auf zu ticken

99 Sonette mit einem Selbstkommentar

Klaus M. Rarisch: Die Geigerzähler hören auf zu ticken

Von Herbert Laschet Toussaint



I.

Willkommen im club! hätt ich beinah gesagt. Freilich, es schlafen hauptsächlich tote in den sesseln. Und Klaus M. Rarisch geht in keinen club, auch nicht in den exklusiven, den ich meine, dessen schriftführer Albert Vigoleis Thelen ist. Doch, die ULTIMISTEN, lange her; 1957, seitdem steht die zeit. TOP eins: expertise über einen der’s noch kann. Und einer, der noch lebt, hebt die brauen: Martin Pohl in Berlin. Der hat das gleiche schwere nervige barock in seinen versen, vom piratensong bis zu Firdausis ghazel, den deutschen kreuzweg von Gryphius und Hofmannswaldau herauf über die schädelstätte der expressionisten bis zu den finisten und den wenigen glöcknern und kathedralkastellanen unserer tage. Diese gedichte kommen mit so geballter metaphorik und verskunst daher, daß sie mich erst einmal entmutigen. Hart die gedanken ineinander verschränkt, kein wort zu viel. Sparsam hinein gewebt bilder von großer lyrischer schönheit. Und manche zeile wie ein peitschenschlag, federnd, gespannt, in scharf eingezogenem atem. Dann spüre ich dahinter eine ungeheure einsamkeit, eine fast gewaltsam niedergehaltene zärtlichkeit, und ich höre mich von den untertönen in die verse hinein.

Literaturhistorisch ist er mir über: die verweise entschlüsselt, wie ich die falotten kenne, heute nicht mal mehr ein germanist. Ich will auch nicht den verästelungen seines metaphorischen strebewerks nachspüren. Ich stelle nur fest, da hat sich einer eine eigene bildwelt erarbeitet und führt sie in hoch verdichteter sprache zu einer form, die er als einer der wenigen in den flachtälern nach dem krieg virtuos fortführt.

Am stärksten ist er in der auseinandersetzung mit der kirche, der geißel, von deren schlägen das abendland vernarbt ist. Ich spüre, wie er sich in abscheu wendet von dem geronnenen blut, das die weltformel der gotik zerfrißt. Diese sonette könnten in alexandrinern geschrieben sein; die dreißigjährigen Kriege der welt brennen hinter den häusern. In diesen sonetten, wie auch in denen gegen den krieg, sind über aller sprachherrschaft die erschütterungen spürbar, die Rarisch, jahrgang 36, in früher zeit heimgesucht haben müssen, und sei es nur im rückgriff auf volksliedwendungen und sentimentale genitive. ›Skepsis, Mut & Pazifismus‹, so hieß das motto der Ultimisten, und seine ätzlaugenattentate auf kriegshetzer sind tödlich wie zeichnungen von Grosz.

II.

Der Vigoleissche begriff der Tüchte fällt mir ein, diese mischung aus sprachgewalt und einer metaphorik, bis zum kalauer hoch gebolzt, dazu eine durchgängig erotische ader mit pilarisierendem einschlag, falls jemand versteht was ich meine: verklemmtheit in erster ableitung. Wortmacht also und ein bildungshorizont wie aus vorkriegszeiten, kapriole und vereinzelung; Vigoleis gibt eine meßlatte für dies schicksal ab.

Auf der einen seite: kein zweifel daß da genau das, was gemeint ist, glasklar und virtuos ausgedrückt wird, auf der anderen seite – die themen stammen fast vollständig aus dem alten allgemeinmenschlichen unverbindlichen bildungskatalog: literatur, mythos, landschaft, tod. Bei aller Bennschen bissigkeit gewinnen die gedichte und der mensch dahinter wenig profil. Die sprache hat, bei ausgeprägt eigenen bildern, keinen eigenen ton. Bekanntes wird brillant aufgegriffen, aber als standpunkt ergibt sich wenig mehr als daß da einer gern angreift. Wo er angreift, wird es problematisch. Positiv zitiert er von der antike bis zur menschheitsdämmerung, also das unbestrittene kulturerbe; auf alles zeitgenössische kann er nur noch vehement speien. Daß der langhaarjüngling Handke eins drüber kriegt: d’accord. Und von böllgrass bis zur Klagenfurter preisverleihung gibt es auch genug zu rotzen. Aber ich werde das gefühl nicht los daß da nur ein zurückgesetzter über die erfolgreichen giftet. Rarisch könnte gelassen sein. Wie las ich kürzlich in einer rezension über van Gogh: Bis zur rente muß schon durchhalten, wer seine zeitgenossen bekehren will.

Rarischs credo, etwa im Antisonett: Alles eitle nichtskönner, und ich der letzte wahre verseschmied! verhilft einem vorsätzlich unzeitgemäßen nicht einmal zur anerkennung der wenigen initiierten. Da geht selbst die wichtige zeitsatire einiger sonette unter. Das riecht nach Kohl (groß geschrieben, also nicht der dr) und wollsocken, so als ob sich einer heutzutage über ›Beatlesmähnen‹ mokierte.

III.

Wie gut verstehe ich daß einer, der sich jahrzehnte über verkannt fühlt, dem einzigen, der sich je die mühe einer fundierten kritik gemacht hat, mit einem selbstkommentar antwortet! daß einer aus so reich ausgebildeter innenwelt sich einmal in eigener person zu wort meldet, wie menschlich ist das! ich stelle also mein erstes unbehagen über diese scheinbare eitelkeit zurück und versuche, ob Rarischs selbstinterpretation von drei seiner sonette mir zur deutung der übrigen aufschlüsse gibt. Denn manches, muß ich gestehen, verstehe ich nicht. Manchmal hebt ein sonett mit donnergepolter an, dröhnt majestätisch durch die stollen, um am ende in einen furz auszulaufen, kalauer wie ›Retter oder Rettich‹. Manchmal spürt man auch wie einzelne wörter nur um des klangs willen eingesetzt sind. Im selbstkommentar vertritt Rarisch eine theorie des abgestuften vokalklangs, nach der selbst Petrarca oder Platen fast nur unreine sonette geschrieben hätten. Hinter Platens versemarmor standen die kommissare eines judenpogroms. Sollte hinter diesen sonetten reinster wortmusik einfach ein fieser alter streithammel stecken? wo liegen Rarischs cacata carta? einige sind versteckt in zeitsatiren von rang: im Hochhuth sonett gegen den Furchtbaren Juristen Filbinger, oder im sonett über Barschels ehrenwortkonferenz, das ohne die peinlichkeit der badewannenszene auskommt. Wo sonst hat einer solche satirische schärfe derart erlesen verpackt? freilich hat er sich auch da im vorhinein zur wirkungslosigkeit verdammt, vordergründig durch die alterthümliche form, wesentlich durch schroffe distanz zu allem auch nur irgendwie zeitgeistigen. Aber warum dann die pose des verkannten?

Rarischs brillanz in form und sprachbeherrschung erzeugt kopfgeburten aus der studierstube, wie beim späten Arno Schmidt. Vielleicht braucht ein literarisches präzisionswerk wie dieses, um zu funktionieren, die reine luft Borgesscher leseabteile. Vielleicht spricht seine biografie eine andere sprache. Ab von allen forderungen nach Rellwanz und Innowatzjohn: bei einem lebendigen autor sollte man sich an einer spezifischen weltsicht reiben können, um eine andere, sei es brüderliche oder gegen-position zur programmpflege eigener realität zu beziehn. Klaus M.Rarisch wird immer ein fremder im literaturbetrieb bleiben. Aber es könnte sein stolz sein, lieber wenige wasserspeier an der kathedrale der zukunft zu metzen als fertigplatten zu pressen für die Malls der Gegenwart.

HEL

ULCUS MOLLE INFO, Nr. 7-9, 1990, S. 19-21
auch
fragmente (Fulda), Nr. 7, Januar 1991, S. 23-25

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HEL stellt die »Geigerzähler« in den Großen Rahmen

     
 

Klaus M. Rarisch bei fulgura frango
Herbert Laschet Toussaint bei fulgura frango

   

 

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