www.fulgura.de

ROBERT RESS
(† 9.2.1935)
zum Gedächtnis

von O. E. Lessing

Arno Holz und Robert Reß, 1910
Arno Holz und Robert Reß, 1910

Robert Ress sagte einmal kurz vor seinem Hinscheiden: »Erst wenn auch ich tot bin, wird Arno Holz tot sein.« Mit diesem Wort, das zunächst unlösliche Verbundenheit ausdrückt, meinte er, dass erst vom Augenblick des leiblichen Sterbens das wahre Leben beginne; dass dann endlich das Werk als solches, befreit von persönlicher Abhängigkeit und menschlichem Vorurteil der Nachwelt ganz gehöre und vom Gesichtspunkt reiner Kunst allein betrachtet werden könnte.

Denn ihm, dem nun Entschlafenen, stand die dichterische Schöpfung, als deren hauptsächlichsten und einsichtsvollsten Deuter er sich fühlte, über alles. Dem Meister und Freunde als Widerhall seines dichterischen Erlebens zu dienen und ihm die Gesetze der eigenen Kunst wissenschaftlich begründen und in vollstes Bewußtsein rücken zu helfen, das war die wesentliche Aufgabe, der tiefste Inhalt des Lebens von Robert Ress. Persönliches sei hier nur kurz umrissen. Er ist am 2. Juni 1871 in Prag als Sohn des bekannten Gesangspädagogen Professor Johann Ress geboren. Nach dem frühen Tod der Mutter wuchs er teils in Wien teils im Kloster Melk a. d. Donau auf. kam noch sehr jung nach Berlin zu seiner Tante Luise Ress, die eine gleichfalls hochgeschätzte Gesangslehrerin war. Von ihr übernahm er die Schule, die er berufsmäßig bis in die letzte Zeit hinein fortführte.

Manch schöner Erfolg war ihm beschieden, da er es verstand, die angeborenen Fähigkeiten seiner Schüler und Schülerinnen organisch zur denkbar höchsten Entfaltung zu bringen, ohne dem Mass des natürlich Gegebenen Gewalt anzutun.

Den Weltkrieg machte er, als Fünfundvierzig-Jähriger 1916 einberufen, an der Ost-Front mit, und all die Leiden, Kümmernisse und Sorgen des Zusammenbruchs und mühsamen Wiederaufbaus hat auch er zu bestehen gehabt, im Vaterland wie zu Hause. Doch glücklicher als tausend Andere blieb er umfriedet von einem schönen Familienleben mit Gattin, Sohn und Tochter, und durch die Geburt eines gesunden Enkels und Stammhalters wurde ihm noch vor wenigen Wochen eine letzte große Freude zuteil.

Zunehmende Krankheit brachte Beschwerden und Schmerzen, aber das Ende war ein beneidenswert leichtes, schnelles Aufhören nach heiterem Zusammensein mit Freunden und nächsten Angehörigen. Er hätte nun wohl gerne länger gelebt wie man einen sonnigen Tag immer festhalten möchte, und war doch in vollkommener Ruhe auf den Abend gefasst. Er durfte sich sagen, dass er stets das Beste seines Wesens gegeben, selbstlose Liebe den Menschen seiner Umgebung und dem Lebenswerk des bewunderten Meisters.

Seit 1892 mit Arno Holz bekannt und unter dessen Einfluß, veröffentlichte er 1899 nach dem Erscheinen der ersten kurzen Phantasusgedichte ein Bändchen Lyrik – »Farben« –, in der neuen, von Arno Holz geschaffenen Form des »immanenten Rhythmus«. So gehörte er von Anfang an als Mitkämpfer zu der kleinen, mutigen Schar der Neutöner, die sich einer verständnislos feindseligen Kritik zu erwehren hatten und damit für die deutsche Dichtung wirkliches Neuland erwarben. Unentwegt blieb er als treuer Kamerad und opferbereiter Freund an der Seite des Dichters. 1913 erschien sein Buch: »Arno Holz und seine künstlerische, weltkulturelle Bedeutung, ein Mahn- und Weckruf an das deutsche Volk«, worauf noch einige Zusätze folgten; 1925 das kühnangelegte, in vieler Beziehung bahnbrechende Buch: »Die Zahl als formendes Weltprinzip. Ein letztes Naturgesetz«.

Von Gedanken des griechischen Philosophen Pythagoras ausgehend, stellte Ress die im Phantasus geschaffene Form des immanenten, natürlichen Rhythmus der Lyrik in den allumfassenden Kreis des kosmischen Geschehens, das nach ganz bestimmten, mathematisch zu berechnenden Zahlenfolgen abläuft: wie im unermeßlichen Sternenraum so auch im kleinsten Lebewesen auf Erden. Ein so weiter Rahmen, über das vom Meister selbst theoretisch Niedergelegte hinaus, schien ihm notwendig, dem deutschen Volke klar zu machen, worin das eigentliche Geheimnis und die Allgemeingültigkeit dieser neuen, vom Wust der Tradition befreiten Wortkunst bestand.

Noch unveröffentlicht, jedoch im Manuskript fertig, liegt ein ausgedehntes Werk vor, das bis ins EinzeInste hinein die technische Gestaltung und das innere Wesen der Phantasuslyrik wissenschaftlich darstellt. Damit hätten wir dann den Schlüssel zum reinsten künstlerischen Genuß der Dichtung selbst. Denn in täglichem Zusammensein mit seinem Meister konnte er dessen letzte Ziele und Absichten unmittelbar miterleben, immer von neuem in die äußersten Folgerungen hinein durchdenken und durchsprechen. Vielleicht ist bei so merkwürdigem, gemeinsam und gegenseitig gesteigertem Sich-in-letzt-Mögliches-Hineinspintisieren manches Übersteigerte zutag gefördert worden. In der Hauptsache aber gelang die große Tat: der Phantasus in seiner allerletzten Gestaltung wurde vollendet und harrt nun seiner Veröffentlichung. Es ist die gewaltigste dichterische Leistung deutscher Sprache in unserer Zeit. Man könnte behaupten, ein solches Werk würde sich aIlmählich auch ohne Mittler, wie Robert Ress einer war, von selbst durchsetzen. Aber die Welt hat von jeher der Führung zu allem Schönen und Einzigartigen bedurft und ein so ganz Neues wie der Phantasus braucht unbedingt eine unangreifbar wissenschaftliche Begründung, und die hat Robert Ress in der Tat geschaffen.

Das ist wiederum an sich ein Werk von unvergänglichem Werte. Denn auch das ist große Leistung: das Erfühlen eines neuen Bedeutenden, das unbeirrbare Streben nach hohem Ziel im festen Glauben an ein zukünftiges Ideal. Den praktischen Anteil am Werk des Meisters hat Ress noch selbst formuliert mit den Worten: »Er war durch ein volles Vierteljahrhundert, in einer seltenen, gegenseitigen, geistigen Freundschaft, zwar keineswegs der ›Mitarbeiter‹ von Arno Holz – das von ihm aufgetürmte, Zyklopen- Giganten- und Titanenwerk gehört ihm durchaus ganz allein – aber doch in ständiger Mitanteilnahme und Mittätigkeit, unter Einsatz seiner gesamten geistigen und seelischen Menschenkraft, sein ihm bei der Ungeheuerlichkeit seiner Aufgabe notwendiger »künstlerischer Helfer«.

Ungewollt kommt hier der innerste Charakter von Robert Ress zum Ausdruck: selbstlose Hingabe und tätige Mithilfe zugleich, echte Freundschaft für den Menschen und neidlose Verehrung des schöpferischen Genies.

Ress besaß, wie er sich ausdrückte, das gleiche Ohr wie der Meister und konnte, da er selbst Musikkünstler war, die feinsten Schwingungen der rhythmischen Bewegung miterlebend, am technischen Bau der gewaltigen Symphonie des Phantasus mithelfen.

In noch tieferem Sinne bestand zwischen beiden eine Wahlverwandtschaft des weltanschaulichen Denkens, das man als skeptischen Neutralismus bezeichnen kann; kirchliche Formen und Formulierungen werden abgelehnt, ohne deren symbolischen Gehalt zu überwinden. So gilt für die beiden Freunde das Wort Kants, das merkwürdigerweise am Morgen des Sterbetags ins Haus geschickt wurde und das den christlichen Auferstehungsglauben umschreibt: »Der Anfang des Lebens ist die Geburt, diese ist aber nicht der Anfang des Lebens der Seele, sondern des Menschen. Das Ende des Lebens ist der Tod, dieser ist aber nicht das Ende des Lebens der Seele, sondern des Menschen

So nehmen wir denn getrost Abschied vom äußeren Menschen Robert Ress, um für immer die Gemeinschaft mit dem Inneren seines Wesens zu bewahren: mit dem feinen Künstler, dem unermüdlichen Forscher und Sucher nach den höchsten Idealen des geistigen Lebens, dem treuen, gütigen, edlen, unvergeßlichen Freund.

(Nach der Xerokopie eines Durchdrucks des Typoskripts
der von Otto Eduard Lessing gehaltenen Grabrede)