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Krokodile
Rolf Wolfgang Martens’ Drache im »Traumulus«
von Arno Holz und Oskar Jerschke


Einst
war meine Seele ein Lämmchen.

Sie packten es,
schoren ihm gierig seinen weißen Flaum,
und auf sein rosiges Schnuffelschnäuzchen schlugen sie mit Knütteln.

Sein jämmerliches Weinen
rührte sie nicht.

Aus meinen Schwielen
wurden Schuppen.

Ich wuchs zum grünen Drachen mit langer Krokodilschnauze,
unter jedem Zahn eine Giftdrüse.

Ich beiße alle in den Bauch!

Sie weichen mir aus.

Ich bin böse, unchristlich und überhaupt ein Gemütsmensch.

(aus »Befreite Flügel« von Rolf Wolfgang Martens)

Anmerkung 1

Um 1970 stand das Gedicht in Fred Viebahns wachsmatriziger »Papiermanschette«, »anar - chistisch & staats - tragend«, »Redaktionsbote: Henryk M. Broder«, wo es sich inmitten von Viebahn, Friedemann Hahn, Reimar Banis, Ana Bé, Manfred Bosch, Michael Rittendorf und Wohlleben bruchlos ins ungestüme Gequirle einfügte. Fred Viebahn war zufällig darauf gestoßen und fand, daß es in sein Blatt paßte.

Anmerkung 2

Das von Arno Holz zusammen mit Oskar Jerschke verfaßte Bühnenstück »Traumulus«, als »Tragische Komödie in fünf Aufzügen« bezeichnet, wurde am 23.9.1904 im Berliner Lessingtheater mit Albert Bassermann in der Hauptrolle uraufgeführt. Buchausgabe 1905. Das Stück war für eine Weile ein Theatererfolg. 1935 verfilmte Carl Froelich das Stück mit Emil Jannings in der Titelrolle. Der Film – von der Filmprüfstelle als »staatspolitisch und künstlerisch besonders wertvoll« prädikatisiert – war ebenfalls erfolgreich.

Traumulus ist Spitzname der Hauptfigur: Professor Dr. Niemeyer, Direktor des Königlichen Gymnasiums in einer Kleinstadt. Um seinen Lieblingsschüler, Kurt von Zedlitz, kommt es aus mancherlei Mißverständnissen und schwierigen, schließlich zu Zedlitz’ Selbstmord führenden Verwicklungen. Der Landrat von Kannewurf, der im vierten Akt Niemeyer unter Druck setzt, scheint das Lämmchen-Gedicht von Martens zu kennen:

    Niemeyer
    Zedlitz steht zur Zeit noch unter meiner Autorität, Herr Landrat!

    Landrat
    Bestreit ich nicht. Aber der Vater is n alter Freund von mir. Und da möcht ich mich doch grade jetzt n bischen um den jungen Mann kümmern. Sah mir etwas … sehr merkwürdig aus.

    Niemeyer
    Ich hätte meine Hand für ihn ins Feuer gelegt! Ich hätte tausend Eide geschworen! Ich habe an ihn mehr als an mich selbst geglaubt! Er hat mich belogen und betrogen! Vertrauen ist Wahnwitz! Güte ist Dummheit! Milde ist Verbrechen!

    Landrat
    Sie kennen nur Schwarz oder Weiß. Heute früh war er noch ein Lämmchen, jetzt is er n zweibeiniges Krokodil, das alte Oberlehrer frißt.

    Niemeyer
    Herr Landrat!


Robert Wohlleben