Zu www.fulgura.de mit Navigations-Kolumne


Conrad Lange, Das Kino in Gegenwart und Zukunft. 8°. 337 u. XI S. Stuttgart, Ferdinand Enke, 1920.

Die Literatur über das Lichtspielwesen hat mit dem unerhört schnellen Anwachsen der jungen Industrie und ihrer Kunstschöpfungen gleichen Schritt gehalten; es existieren viele Zeitschriften, wie auch ein ansehnlicher Raum in der Tages-Presse dem Film gewidmet ist, aber das Wissenswerte, das neben dem Reklame-Wust dort geboten wird, findet sich verstreut in zahllosen Artikeln und über jahrelange Zeitspannen hin. Das Buch Langes bringt endlich erfreulicherweise alles, was wohl irgendwie über das Kino gesagt werden kann, und zwar in systematischer Anordnung. Da finden wir eingehende Darlegungen über die in Frage kommenden ethischen und ästhetischen Forderungen und ihre Übertretung unter den heutigen Verhältnissen, und ausgedehnte Erwägungen über die Zukunftsmöglichkeiten des gewaltigen Industriezweiges. Da wird gehandelt über das Kino in Staat und Gemeinde, über die Konzessionspflicht, die Steuer, die Zensur und die Gesetzgebung, wie über die Frage der Sozialisierung und Kommunalisierung. Bei aller Anerkennung der gewissenhaften Arbeit und Zusammenstellung können wir uns an dieser Stelle nur mit dem künstlerischen Teil, wie er sich im zweiten Kapitel und im Nachtrag findet, befassen.

Lange verneint durchaus den Kunstwert des Lichtspiels. Er geht von der Betrachtung der bildenden Kunst aus und schließt folgendermaßen: Der Diskuswerfer des Myron befindet sich in Ruhe, aber seine Stellung ist so gewählt, daß der Beschauer zur Vorstellung gezwungen wird, er sähe Bewegung. Beim Lichtspiel ist die Bewegung aber eine wirkliche und keine vorgetäuschte, also ist es keine Kunst! Der Fehlschluß liegt auf der Hand: Die wirkliche Bewegung ist hier nur ein technisches Mittel und soll an sich nicht die ästhetische Lust auslösen. Deutlicher wird dies noch durch den Vergleich mit der Bühne: Die wirklichen Schauspieler würden dann der Theateraufführung ihren Kunstwert rauben! Das will doch wohl Lange nicht behaupten? Jedenfalls enthält das Bühnenbild mit den lebenden Dartellern und seiner »echten« Ausstattung mehr Realität als der Film mit seiner wirklichen Bewegung – namentlich in der jetzigen technischen Unvollkommenheit der Flächenhaftigkeit, der Farblosigkeit und der Stummheit. Was nun dem Bühnenspiel recht ist, um es nicht von der Kunst auszuschließen, sollte dem Filmspiel billig sein!

Wenn Lange das Lichtspiel verwirft als Photographie, als Bewcgungsphotographie eines Wirklichen – bei der also das artistische Eingreifen und die künstlerische Persönlichkeit ausgeschaltet sind –, so übersieht er, daß diese Verhältnisse nur bei natürlichen Aufnahmen, aber nicht bei künstlerischen zutreffen. Er führt zum Vergleich Adolf Menzel an, der, um die Krönung Wilhelms I. in Königsberg malerisch wiederzugeben, wesentliche Veränderungen an der Wirklichkeit anbringen mußte: Um den Blick auf den König frei zu bekommen, mußten die Mitglieder des Bundesrats in seiner Nähe nach rechts und links auseinandergeschoben werden usw. Aber genau die gleiche kompositionelle Tätigkeit hat der Filmregisseur auch zu leisten! Kurz nachdem ich diese Ausführungen Langes gelesen hatte, wohnte ich der Filmaufnahme einer Königskrönung aus der Rokokozeit bei (in »Zwei Königskinder«). *) Die Szene wurde erst, wie üblich, vor der Aufnahme gestellt und probiert, ganz so, wie bei einer Theaterprobe. Der Regisseur ordnete an, unter fortwährender Rücksprache mit seinen Operateuren, die das Bild auf der Mattscheibe ihrer Kamera verfolgten und ihre Wünsche äußerten. Man änderte, probierte und versuchte dies und das. Endlich konnte zur Aufnahme geschritten werden. Von dieser einen Szene wurden von zwei Operateuren zwei Aufnahmen, also im ganzen vier gemacht, bei den ersten stand der Apparat zu ebener Erde, bei den folgenden begaben sich die Operateure auf den Schnürboden und nahmen von dort auf. Man wog ab, ob diese oder jene Aufnahme zweckentsprechender wirke, d. h. malerischer wäre und sich für die von dem Lichtspieldichter gewollte Situation geeigneter erweise. Von solcher Arbeit, die bei jedem künstlerischen Film stattfinden muß, kann Lange sich jederzeit überzeugen. Worin soll nun der Unterschied der kompositorischen Tätigkeit des Malers und der des Filmregisseurs und seines Stabes gefunden werden? Wohl im Grad, aber nicht im Wesen. Beim Arrangement der Szene entfaltet sich die schöpferische Künstlertätigkeit des Regisseurs genau so, wie es auf der Bühne geschieht! Wenn Lange seinen Vorwurf des Unkünstlerischen dadurch zu stützen sucht, daß er (S. 79) auf den rein technischen Charakter der »kinematographischen Reproduktion« hinweist, so erscheint es uns müßig, nach der künstlerischen Qualität des Übermittlungsapparates zu fragen, der zur Wahrheit nur ein mechanisches Werkzeug sein soll und seinen Zweck vollkommen erfüllt, sobald er die künstlerisch geschaffene Szene ohne Änderung wiedergibt.

Der andere Grund, aus welchem Lange die künstlerische Wertigkeit des Lichtspiels bestreitet, ist die Begrenztheit seiner Ausdrucksmittel. Da der Film vorläufig stumm ist, wirkt für ihn die Vorführung von Szenen, in denen man Personen längere Zeit gestikulieren und sich unterhalten sieht, aber doch kein Wort hört, lächerlich und wie ein Unding. – Darauf ist zweierlei zu antworten: Erstens sind logische Auseinandersetzungen keine Vorwürfe für Lichtspiele: Faust- und Hamletmonologe, Nathans Ringerzählung, die meisten Ibsendramen sind allerdings im Lichtspielhaus nicht möglich. Da die Ausdrucksmittel des Films die der Malerei sind, so hat vieles von dem, was Lessing im Laokoon über die Veränderung des gleichen Stoffes des Malers sagt, auch für das Lichtspiel Gültigkeit. Zugunsten des Kinos ist ferner anzuführen, daß sich der Sinn der gesprochenen Worte aus der Situation ergibt. Man vergegenwärtige sich eine Liebesszene und erwäge, ob die ausgesprochenen Worte irgendwie ausschlaggebend sind.

Meier-Graefe sagt im »Fall Böcklin«: »Wir wünschen ja gar nichts zu wissen, sondern sehnen uns zu empfinden! Wir wollen in unsere Seele hinein, nicht in unseren Verstand!«

Ein übler Behelf der Verständigung ist, wie Lange richtig bemerkt, die übermäßige Verwendung der »Titel«. Diese zwischen den einzelnen Bildern auf der Leinwand erscheinenden Sätze, die uns mitteilen, was die Personen sich sagen, sind eine Anleihe aus dem Wortdrama, und beweisen nur die Ungeeignetheit des gewählten Stoffes oder die Unfähigkeit des Filmdichters, sich durch die rechte Gestaltung der Handlung allein verständlich zu machen. Wenn Lange dabei an die Pantomime erinnert, so kann das nicht glücklich genannt werden, denn die Pantomime, wie sie sich bei den romanischen Völkern vom 16. bis zum 18. Jahrhundert entwickelt hat, beruht auf einer konventionellen Gebärdensprache, die unserem durch die naturalistische Schule gegangenen Geschmack nicht entsprechen dürfte und nur das Feld der Stoffe arg zu begrenzen droht.

Ein wesentliches Moment für die Veranschaulichung sind die Großaufnahmen, die den Schauspielern ermöglichen, ihre mimische Kunst dem Publikum mehr noch, als es im Theater geschehen kann, zu Gesicht zu bringen, denn die große Entfernung des Zuschauers von der Bühne läßt vieles verloren gehen und wird durch Zuhilfenahme des Opernglases nicht völlig überbrückt. Daß Lange es »als eine Geschmacklosigkeit empfindet, die in dem Wechsel des Maßstabes und der daraus hervorgehenden Unruhe liegt«, kann nur geschehen, weil Lange wiederum nicht genügend die psychologischen Ursachen, die hier zugrunde liegen, berücksichtigt. Die Großaufnahme des Kinos entspricht genau dem, was die Psychologie mit »Blickpunkt der Aufmerksamkeit« bezeichnet.

Beim ästhetischen Genuß ist dieses »in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit Rücken« schon immer geübt worden; trotz der stark wirkenden Volksszene in »Julius Cäsar« wird sich die Aufmerksamkeit des Publikums doch immer dem redenden Brutus und dann dem nach ihm sprechenden Antonius zuwenden.

Die Sachlichkeit des nur auf Handlung gestützten Dramas scheint Lange auf eine rohe Naturwiedergabe ohne Kunstveredlung herauszukommen. Er vermißt den Stil, d. h. die Handhabe des Künstlers, mit der er ausdrückt, wie er das Dargestellte aufgefaßt haben will. Ich sehe den Sachverhalt anders an. Was künstlerisch-notwendig ausgedrückt werden muß, kann auch durch die Gestaltung der Handlung allein zum Ausdruck kommen, und es ist dem Kinodichter keineswegs versagt, z. B. die »Sünde und das Verbrechen durch eine eingehende psychologische Begründung verständlich zu machen«, wie Lange (auf S. 88) ausführt. Ist ihm denn nicht jene Technik bekannt, die den Übeltäter, bevor er den Einbruch begeht, bei seinen hungernden Kindern und am Krankenbett der Frau zeigt? Können keine Szenen erfunden werden, die uns vorführen, wie in einem Menschenherzen durch Hinblick auf die vom Schicksal mehr Begünstigten Neid und Haß entstehen und ein Vernichtungswille erzeugt wird? Es ist nicht einzusehen, warum sich solches nicht in wortloser Handlung gestalten und in malerischen Bildern wiedergeben ließe. Allerdings sind solche künstlerisch-einwandfreien Dramen noch nicht auf dem Spielplan unserer Kinos, aber einzelne Ansätze dazu machen sich allerorten geltend. Eine Gruppe von Theaterstücken, die unseren Vätern und auch wohl noch uns in unserer Jugend viel Freude machte, jetzt aber ausgestorben scheint, das Volksstück, wie es z. B. die Birch-Pfeiffer pflegte, dürfte auf der Lichtspielbühne, natürlich mit ihren Mitteln, ein großes Feld haben und ihr Publikum finden.

Berlin-Wannsee.

Rolf Wolfgang Martens.

*) Der Film kam 1921, schön plakatiert, mit dem Titel »Es waren zwei Königskinder …« in die Kinos.

––––––––––

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft.
Hg. von Max Dessoir.
16. Bd., H. 2, S. 249-251.
(Wiedergegeben nach dem OCR-Text zum Digitalisat der Universität Heidelberg.)