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Rolf Wolfgang Martens
(1868 bis 1928)

Einband Befreite Flügel


Unter Verwendung von Angaben des gebürtigen Berliners Martens vermeldet die 1909 erschienene IV. Ausgabe von Herrmann A. L. Degeners Zeitgenossenlexikon Wer ist’s?:

    MARTENS, Rolf Wolfgang, Schriftst. u. Priv.-Gelehrt. — * 11. IX. 68. — V: Rentier Karl M.; M: Blandine v. Haeseler. — Gymn.; Univ. Berlin. — Verh: m. Johanna d’Hornay. — Stud. Philos., m. bes. Berücksichtigg. d. Psychologie; verließ n. 2 J. d. Univ., um z. Bühne z. gehen; war in Danzig, Stralsund, Augsburg a. Schausp. tät.; kehrte als er das Theat. genüg. zu kennen glaubte, zurück, um s. ausschließl. s. Schrift. z. widmen. — W: Charfreitagszauber, Einakt.; Befreite Flügel, mod. Ged.; Störtebecker, Tr.; Machiavelli, Trag. — Psychol. Ges. Berlin. — Berlin W. 30, Neue Winterfeldtstraße 18. *)

Franz Neuberts Deutsches Zeitgenossenlexikon von 1905 datiert die Werke: das »Stimmungsbild« Karfreitagszauber (»die Grundsätze neuester Schreibart« erklären das K) auf 1896, Befreite Flügel auf 1899, die fünfaktige, gut mit Plattdeutsch durchsetzte Tragödie Störtebecker auf 1903, Machiavelli auf 1906. Der Kürschner von 1904 gibt für Charfreitagszauber (Frühling) 1895 an. Für diesen Titel wie auch für Machiavelli konnte ich bisher keinen Standort ermitteln. Womöglich Bühnenanuskripte, die keinen Eingang in Bibliotheken fanden? Wie Befreite Flügel erschien Störtebecker im Verlag von Johann Sassenbach, bei dem Arno Holz bereits seit 1896 veröffentlichte. Martens ist im Anhang zum 1961 erschienenen photomechanischen Nachdruck der ersten vier Jahrgänge von Franz Pfemferts Zeitschrift Die Aktion als Mitarbeiter mit drei Aufsätzen verzeichnet, alle 1912, darunter »Klinische Lyrik« über Gottfried Benns Morgue. Den zusätzlichen Angaben zufolge veröffentlichte er nach Machiavelli drei weitere historische Schauspiele: 1913 Der falsche Woldemar, 1918 Lukretia Borgia, 1920 Alt-Berlin. Zudem sind der Gedichtband Im Schützengraben von 1915 **) und der Roman Burg Heidenstein von 1916 aufgeführt. In Alfred Richard Meyers Lyrischem Flugblatt Ballhaus von 1912 – etwa gleichzeitig das Lyrische Flugblatt mit Benns Morgue – ist Martens mit einem jokos gereimten Gedicht vertreten:

    Ballhaus

    Die neusten Schlager tönen – Walzerklänge
    und buntgewürfelt schiebt sich hier die Menge,
    Studenten, Spießer, manch Räubercivil,
    jung, alt – doch alle treibt ein gleiches Ziel.
    Da galoppiert ein übermütiges Paar,
    die Lore ist’s mit ihrem Referendar.
    Wie ungeniert
    sie cancaniert!
    Dann schüttelt sie sich aus vor Lachen,
    auf einmal blickt sie ernst und denkt bei sich:
    »Wann wird er blos zu seiner Frau mich machen,
    sonst hat das alles keinen Zweck für mich.« . . . . .
    Und plötzlich kreischt es heiser durch den Saal:
    »Nu seh bloß, da is Martha wieder mal
    und wieder gleich in Seide und in Spitzen!
    Bis gestern durft se noch in Barnim [1] sitzen.« . . . . .
    Wie? – Inge hier? Was ist in dich gefahren?
    Du zartes Ding mit bernsteinblonden Haaren!
    Strahlt auch wie sonnbeglänzter Strand dein Hals
    und leuchtet auch dein Auge meeresblau,
    o Mädelchen, du endigst bestenfalls
    als Toilettenfrau. . . . . .
    Hier ist das Licht – ihr seid die Motten.
    Verfluchter Drang, sich selber auszurotten!
    Dies bischen Wärme, Buntheit und den Rausch
    nehmt ihr für Glück. Welch böser Tausch!
    Zum Teufel geht euch Frohsein, Arbeitskraft.
    Kaum eine ist’s, die sich ihr Ziel errafft! [2]

    In Gesellschaft unter anderen von Max Brod, Arno Holz und Else Lasker-Schüler. Mit Autorangabe Rolf Wolfgang Martens und Verlagsangabe Georg Bürkner, Charlottenburg, erschien im selben Jahr Der Dialog mit dem Anarchisten. Ich habe das Buch nicht in der Hand gehabt, meine aber, es ist nicht allzu gewagt, es dem Holzschüler zuzuschreiben. In Max Dessoirs Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft schrieb er 1921 »Über das Komische und den Witz« (15. Jg., H. 4, S. 459-467), 1922 setzte er sich dort mit Konrad Langes Buch Das Kino in Gegenwart und Zukunft auseinander (16. Jg., H. 2, S. 249-251), widersprach dem Autor, der den »Kunstwert des Lichtspiels« verneinte.

    Reinhard Piper kommt in der Autobiographie Vormittag zweimal auf Martens, einen »Beinahe-Millionär« zu sprechen,von dem er sich das Geld für den Druck von Meine Jugend lieh. [3] Um Neujahr 1899 war Piper bei Martens zu einem Abendessen eingeladen, gewann dabei – in seiner »schon etwas mitgenommenen Geschäftsjacke« erscheinend – Einblick in dessen Lebensstil:

      Ich konnte erst verspätet kommen, da der Laden ja bis acht Uhr offen war, und erschrak nicht wenig, als mir von einem Diener in Livree geöffnet wurde. Dieser empfing mich mit den Worten: ›Sie werden schon mit Sehnsucht erwartet.‹ Ich schritt dann über dicke Teppiche. Aus dem ersten Zimmer mit rotem Licht kam ich in ein zweites mit blauem. An den Wänden hingen Waffen, pompös gerahmte Spiegel, Ölgemälde. Unter Palmen funkelten Rüstungen, auf dem Boden lagen Eisbärfelle, überall standen Sessel, Diwans und Taburetts. Endlich kam ich in den Speisesaal. [4]

    Das Menü: Donaukarpfen, Hammelbraten, Eis mit Schokoladen-Crème, Käse und Butter, Obst. »Zu jedem Gang eine andre Sorte Wein.«

    Arno Holz gibt in seinem Dachkammergedicht im zweiten Phantasusheft – in der Nachlaßfassung »Großer Dichtermittwochnachmittag in meiner Feuerstuhlbude« überschrieben und 266 Seiten umfassend [5] – fünf um ihn versammelte, verschieden abschattierte »Meister« an. [6] Dort lieben die »Menschen, die Goya und Utamaro lieben«, neben andren entlegenen Örtlichkeiten auch »den Paß von Maloya« ***), was auf Rolf Wolfgang Martens schließen läßt, der in »Befreite Flügel« eine Bahnfahrt durch Südtirol gen Italien und touristisches Erleben in Venedig bedichtete, so zum Beispiel:

    Aus dem hohen, marmorschimmernden Saal,
    den Maestro Tiziano geschmückt,
    kommen wir durch einen engen Gang
    zu einer Fallthür.

    Der Führer,
    ein fesches Weaner Fiakerg’sicht mit ausgefranzten Hosen,
    zündet seine Laterne an.

    Eine morsche Holztreppe.

    »Hier, meine geehrten Herrschaften, die Seufzerbrücken!«
    Noch tiefer.

    In feuchte Finsternis!

    Schmale, niedrige Gänge,
    am Boden verstreut Thürlöcher zu schwarzen Steinkäfigen!

    »Und hier, sehn’s, meine Herrn, am End,
    für die politischen Verbrecher!
    In diese Maueröffnung stellte der Henker sei Lamperl,
    wenn er hier orbeitete.
    An den Haken, da droben,
    hing er den Körper, mit die Füß’,
    damit er sich ausblutete!
    Und durch diese drei Löcher, schaun’s, floß das Blut ab.« [7]

    Als anscheinend Reiselustiger mag Martens durchaus auch mal – er hätte es sich gut leisten können – im Luxushotel Kursaal de la Maloja †) in den Bündner Alpen abgestiegen sein.

    *) Dank für den Hinweis an Dr. Gerd Lübbers.
    **) Ich meine vielleicht hoffen zu dürfen, daß Martens’ Kriegsgedichte anders ausgefallen sind als die damalige hurrapatriotische Massenware.
    ***) Laut Meyers Lexikon (1905–1909) »hochinteressant« der Gletschermühlen wegen.
    †) Das Hotel laut Pierers Lexikon (1885–1893) »großartig«, der Ort laut Meyer »fashionabel«.

    1] Barnim: Das Frauengefängnis in der Barnimstraße.
    2] Ballhaus. Ein lyrisches Flugblatt. Berlin-Wilmersdorf: A. R. Meyer 1912.
    3] Reinhard Piper: Vormittag. Erinnerungen eines Verlegers. München: R. Piper & Co. 1947, 232.
    4] Ebd., S. 225 f.
    5] Arno Holz: Werke. Hg. v. Wilhelm Emrich und Anita Holz. (Neuwied, Berlin-Spandau): Luchterhand 1961–1964, Bd. 3, S. 7-273.
    6] Arno Holz: Phantasus. Verkleinerter Faksimiledruck der Erstfassung. Hg. von Gerhard Schulz. Stuttgart: Reclam (1968 u. ö.) = RUB Nr. 8549, S. 104.
    7] Rolf Wolfgang Martens: Befreite Flügel. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 43.

    Erweitert nach dem Signalement in  

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