Wohlleben über "Radio Hagenbeck" von Ralf Thenior

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»Trine, zwei Pony, ein Korn«
Neue »schmutzige« Geschichten
von Ralf Thenior

Ralf Thenior:
Radio Hagenbeck.
Sieben schmutzige Geschichten
in schmutziger Sprache.
Verlag Michael Kellner
Hamburg 1984


Ralf Thenior erzählt sieben Geschichten. Beim Lesen sehe ich, wie sich vor jedem Wort ein schweifendes Nachdenken in seiner Mundmuskulatur sammelt, höre ich seine Stimme: In allen Tonfällen erstaunt über die Unvermeidbarkeit der Wörter, die da eins nach dem andern was sagen wollen.

Der Ministerpräsident eines bundesdeutschen Flächenstaats mit Assistenten und Gorillas Bilser, Belser und Balser in seiner Provinz unterwegs, um irgendeine Nuklearanlage klarzumachen: »Dann trat der Ministerpräsident durch die ihm von zweien seiner Leute aufgehaltene Tür des weithin bekannten Lokals ›Zum altdeutschen Hörnchen‹ und seine ehrfurchtgebietende Gestalt brachte alle zum Schweigen.«

Vielleicht ist die Erinnerung an einen verschollenen Satz wie den folgenden der Grund fürs Erstaunen über die Wörter, ein Wiedererkennen also: »Dann trat das Fräulein von Westerwinkel an den schweigend durchs Erkerfenster ins tiefverschneite Land starrenden Rittmeister heran, und ihr herzzerreißendes Schluchzen brachte den Mann zum Erbeben.« – Es ist doch wahr: Ralf Theniors Wörter konnten gar nicht anders als mit umständlichen Präsenspartizipien und Adjektiven diesem Ministerpräsidenten hinterhertappen.

Ganz anders kommt Balser zur Sprache, der Gorilla. Der Ministerpräsident ist also im Gastraum, und es geht unvermittelt weiter: »Das muß der Ministerpräsident sein, flüsterte eine Touristin, vor der ein herrliches Zigeunergulasch dampfte. Balser drückte ihr Gesicht in den Teller.« – So ist Balser. So könnte es bei Mickey Spillane heißen, hölzern und ruckzuck: »Sie öffnete vor mir ihren Nerzmantel, unter dem sie nur ihren herrlichen Körper trug. Ich drückte ab.«

Und was ist mit dem Mann, der da mithilft, am Ende alles zum Knallen zu kriegen? »In der Schankstube saß nur noch der örtliche Kampftrinker am Tresen. Er arbeitete an zwei Flaschen und tat so, als überlegte er, welches Glas er im Moment greifen sollte. In Wirklichkeit hatte er die Augen natürlich am Hinterkopf und kriegte alles mit.« Auch da kommt die Erinnerung an ähnliche Texte, aber sie sind mehr gehört als gelesen: »Er tat, als würde er an der Mutter arbeiten. In Wirklichkeit hatte er ganz spitze Ohren und peilte alles.« Dazu paßt ein Sprecher mit schweren Schultern, etwas Bauch und weißem T-Shirt mit roter Aufschrift »Kampftrinker«. Auch aus Ralf Theniors Band »Traurige Hurras« (AutorenEdition 1977) fällt mir was ein: »Max fängt jedenfalls an, die Halben durchzuschicken. Und nu nix wie gib Feuer und ordentlich die Wanne vollgeplanscht.« Das ist gedruckt und lohnt auch das Lesen.

Und was macht Ralf Thenior, nachdem er so sehr weiträumig nachgedacht hat? Außer daß er sich darüber wundert, wie von allüberall aus entlegenen Ecken die Wörter reinkommen und so und nicht anders gesagt sein müssen? Er lenkt die Wörter gegeneinander – daß wir uns beim Lesen vielleicht noch mehr als er beim Schreiben wundern, was da zusammengerät. Ralf Thenior hat damit zu tun, den Zusammenhang herzustellen. Wo er für die Überleitungen seine eigene Sprache braucht, ist sie bis auf ein äußerstes Minimum dünngeschliffen: »Fertig machen zur Abfahrt, sagte der Ministerpräsident. Balser ließ das Mohnbrötchen fallen.«

In meinem Kopf fängt der Text an zu flackern wie alte Kopie von altem Film. Aber es ist noch etwas andres als die Sprünge der Bilder bei geklebten Filmrissen. Beim Lesen entstehen im Kopf Bilder, der Wechsel unterschiedlicher Sprachmuster aus unerwarteten Ecken scheint eine Überlagerung mit anderen Bildern anbahnen zu wollen. Dazu kommt es nicht, aber ein Flimmern setzt ein – zwischen scharf und unscharf, Ton in Ton und hart ausgeleuchtet, zwischen frischem Fuji- und überlagertem Agfamaterial.

Die Geschichte vom Ministerpräsidenten, dem die nukleare Versuchsanlage platzt, ist ein bissiges Kaspertheater zum Mitgrinsen. Andere Geschichten sorgen mehr für Beklemmungen. Ans Herz greift »Radio Hagenbeck«. Da erlebt jemand in einem Büro unsre Gesellschaft »in der Nuß«, bekommt einen Fetzen Schicksal mit: Der neue Lagerarbeiter ist als »ewiger Verlierer« den Job bald wieder los – aber er hat den eigenen Sender mit ein paar Kilometern Reichweite. »Er sagt, er muß gegensenden. […] Aber er macht auch Ansprachen, um den Widerstandsgeist zu wecken. Den Widerstandsgeist!!!«

Ungemütliche Utopien erzählt Ralf Thenior von anderen Verlierern. Ein Detektiv muß hilflos aufgeben, weil ihm anscheinend ein selbständig gewordener Computer, der sich vergrößern will, keine Chance läßt. Ein Schriftsteller verfehlt um Sekunden die Erneuerung seiner Lizenz in der Zensurbehörde: »Leider geschlossen, stand auf dem Pappschild, das noch schaukelte.«

Wie dem Taxifahrer entkommen, der den Fahrgast niemals rechtzeitig zum Flughafen bringen wird? Gegen Dämonen helfen keine Tricks: »Aber wenigstens hatte ich ihn abgehängt. […] Als ich den Kaufhauskomplex auf der anderen Seite verließ, stand er schon da und öffnete mir grinsend den Schlag.« Zu einem mythischen Drachenkampf wird die Rückkehr in die eigene Wohnung, wo inzwischen ein Untermieter und vor allem dessen Katze die vormalige Behaustheit in abstoßend feindselige Fremdheit verwandelt haben. Auch da verliert jemand: »Die Katze knurrte, an ihn gekrallt, während er blindlings auf sie einschlug, seine Kniescheibe ging zu Bruch, er taumelte, stürzte über das aus Nase und Maul blutende Tier und verlor das Bewußtsein.«

Ich glaube, ich kenne solche Träume. Die stolpern über rätselhafte Zwischenstationen (RT: »Einer der Männer, etwa in meinem Alter, war auf mich zugekommen und hatte mir mit dem Mittelfinger etwas Tigerbalm auf der Stirn verrieben«) einem unausweichlichen Knockout entgegen oder sind in unrettbaren Kreisen gefangen. –

So: Ich habe jetzt Ralf Theniors Geschichten zu beschreiben versucht, wie es mir in den Kopf kam: Die flackerige und gerade damit auch motivgerechte Sprache, das davon bewirkte Bildgeflimmer; das durchgehaltene Mitfühlen mit Verlierern, gekontert mit dem giftigen Grinsen über die Witzfigur des Flächenstaat-Ministerpräsidenten – gekontert auch mit der reinen Freude über den kleinen Sieg des Kampftrinkers; wie Mythos und Dämonen sich in einigen Geschichten ankündigen; wie die Handlungen beklemmenden Traummustern folgen.

Eine Ergänzung dazu ist noch nötig: Ralf Theniors Geschichten sind voll von Geschichten. Sie haben für mich in jedem Wort den strengen Geruch von erlebter Wirklichkeit. Das soll sagen: Bei all den wiedergegebenen Wahrnehmungen, die da durcheinanderpurzeln, empfinde ich das genaue Hinsehen, Zuhören, Festhalten für die Erinnerung, BLOSS NICHT VERGESSEN: »Das trübe Licht von der Deckenbeleuchtung fiel ihm auf. War es immer so trübe gewesen« – »An einem kalten, sonnigen Januartag sah er wie der Hund verrückt vor Freude durch die dünnen Eisdecken der Pfützen sprang« – »Trine, ein Pony, zwei kleine und zwei Korn, sagte Maltbrö. Wütend stieß Maltbrö den Korn hinunter.«

Eine weitere Ergänzung spare ich aus: über »Die Krähen« zu sprechen, übers Dableiben beim Wegfliegen und das Zusichkommen: »Es war die Kastanienallee, sein gewohnter Spaziergang, den er zurückkam, die Steine betrachtend, die aus der harten Erde des Weges ragten.« –

1977 erschien Ralf Theniors Buch »Traurige Hurras«. »Der Trapper« steht darin, für mich eins der besten Gedichte in deutscher Sprache:

    Aus den Savannen
    kommt er geritten
    mit heißem Gesicht
    das Gewehr auf dem Rücken
    er hätte noch weiter gejagt
    aber seine Mutti hat gesagt
    wenn die Lampen angehn
    kommst du nach Haus

1979 kam bei Klett-Cotta von Ralf Thenior »Sprechmaschine Pechmarie« (der die Kröten aus dem Mund springen), das war das konsequente Durchspielen von Sprachmontage im Wortgestöber: »Salmisationen Konjunkturfieber Prädikatsschmerzen Substantivkarzinome Gefühl geben Gefühl geben trepaniert verödet geröchelt Luxusverwahrlosung Milchsäure Korsakow Salmisationen sehen unsere Hautfarbe in der Pflege deutschen Kulturgutes cosi fan tutte.« »Radio Hagenbeck« mit seinen Sprüngen im Text zeigt das vorangegangene Training in der »Sprechmaschine«.

1981 im Robert Wohlleben Verlag das Heft »Guten Morgen, Robert – Ein Brief mit Nachträgen«. Da kommt zum Schluß ganz ohne Montage:

    Wildenten!
    Holt mich rauf,
    laßt mich ein Stückchen
    mit Euch fliegen!

1982 bei Klett-Cotta »Der Abendstern, wo ist er hin«. Auch da ist viel, was ich in »Radio Hagenbeck« wiedererkenne: die Dämonen (der Mann mit dem abgeschnittenen Ohr), die vielen, vielen Geschichten in der Geschichte, Clownerien (»Das Schreiben ist da, wo die Tinte naß ist«) und Sprache nach entlegensten Mustern: »Aber, mitleidige Seele, die Du dieses liest, reiß Dich zusammen und denk an Deine eigenen miesen kleinen Schweinereien.«

Ich bin gespannt auf mehr von Ralf Thenior. Vielleicht wird’s wieder was, um immer wieder nachzulesen, nachzufühlen, drüber nachzudenken (und wenn’s dann auch die eigenen miesen kleinen Schweinereien wären).

Robert Wohlleben

die horen, Nr. 136 (1984)

Über RTs »Westerwinkler Hundegras«

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