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»Der Schimmelreiter
von Finkenwerder«

Der Schimmelreiter von Finkenwerder

Aus dem Kapitel »Wogenrösser«



Jakob Kinau erzählt, Gorch Fock habe Seefahrt ist not! 1912 in acht Wochen niedergeschrieben (Gorch Fock I 27), Aline Bußmann spezifiert: »in einem Monat im Rohbau fertig und in einem weiteren vollendet« (Sterne 30). Der Beginn der Arbeit läßt sich nach einer Gorch Fockschen Bemerkung in Tagebuch oder Brief von 1912 einigermaßen genau datieren:

    26./4. [...] Ich werde jetzt getrost an den »Klaus Störtebeker« gehen, der in diesem Sommer geschrieben werden soll. Vieles davon steht mir klar vor Augen, klarer und schöner, als mir je etwas vor Augen gestanden hat. In rücksichtsloser Schönheit soll Finkenwärder erscheinen. (Gorch Fock V 232)

Ich überlege hier, ob ich anfangen soll, über die Wortwahl »getrost« nachzudenken. Stand der väterliche Untergang im Skagerrak etwa auch so klar und schön vor Augen? Müßte nicht eigentlich Gorch Focks Untergangsphantasie von der unverfehlbar schreienden Pressesensation Titanic-Katastrophe angerührt (wenn nicht gar katalysiert!) worden sein? Und dann »getrost«? (In der letzten Nacht ist die Fähre Estonia vor der finnischen Küste gesunken.)

Phantasien von Schiffsuntergang spukten damals wohl auch in andren Köpfen. Zufällig begegnete mir Frenssens Untergang der Anna Hollmann, 1911 erschienen. Habs nicht gelesen; weiß nur, daß Frenssen Gorch Fock nicht gleichgültig war. Mit allem Drum und Dran aus zweiter Hand und ebenso wenig gelesen: Im Frühjahr 1912 erschien Gerhart Hauptmanns Roman Atlantis als Vorabdruck im Berliner Tageblatt und in Le Temps ... mit seinem Untergang eines Luxusliners von der Titanic eingeholt. Hauptmanns Goethe-Anmutung gut um den Aspekt des Sehers erweitert.

Atlantis wurde von der dänischen Nordisk Films Kompagni mit vollem Recht sogleich und unter der Regie des vielgeschäftigen August Blom äußerst aufwendig verfilmt (1913), mit dem damals gefeierten Olaf Fønss in der Hauptrolle des Bakteriologen Dr. Kammacher, des Hauptmannschen Alter Ego, auf nicht kommentgerechter Jagd nach einer Varieténymphe in Gestalt von Ida Orloff. So konnte sich Hauptmann mit diesem frühen »Autorenfilm« an die Spitze einer Bewegung zur Popularisierung der Hochliteratur schwingen. Mit dem umgehend sich einstellenden Erfolg, daß sein Roman irgendwo in einer Buchhandlung in Kinonachbarschaft angepriesen wurde als »Das Textbuch zu dem gleichnamigen Filmwerk des Dichters«.

Atlantis, August Blom, 1913
Atlantis (August Blom, 1913) *

Gorch Fock ist solche Erfahrung entgangen. Oder erspart geblieben. Erst 1921 kam der von der Maxim-Film G. m. b. H. hergestellte Film Seefahrt ist not! durch die Ufa in die Kinos. Er lief parallel zu Filmen wie Die Verschwörung zu Genua, Das indische Grabmal, Die Herrin der Welt, Die Hindernisehe, Das einsame Wrack und Der Sohn des Piraten. Anders als der viele Jahre lang gespielte Hauptmann-Film Atlantis jedoch war der Gorch-Fock-Film anscheinend kein bedeutender Kassenerfolg.

Im Film-Kurier Nr. 199 vom 26.8.1921 schrieb der Rezensent p. m. über die Uraufführung des Films Seefahrt ist Not! im Berliner U. T. am Kurfürstendamm und erzählt uns von einem eher düsteren Film, der nicht recht etwas mit der so bemüht durchsonnten Buchvorlage zu tun zu haben scheint. Die dem Buch zugrunde liegende Schimmelreiter-Matrix hat wohl durchgeschlagen. Wir begleiten p. m. ins Union Theater der Ufa:

    Ich kenne den Roman nicht; aber dem Film entströmt wirkliches Erleben. [...] Es ist keine heimatliche Schnitzerei, das Tragisch-Menschliche der Schilderung hebt es darüber hinaus.

    Ein Lebensbild ist auch der Film, den Thomas Hall nach dem Roman geschrieben hat. Es geht nichts vor, nichts, was man sonst von einem Film erwartet. Eine Seemannsfrau bangt um ihren Mann, wenn er draußen ist, zittert immer aufs neue, wenn er im Frühjahr ausfährt, um sich dann abzufinden, als er ganz draußen bleibt. Sie kämpft so lange gegen ihren Jungen, den es auf die See zieht wie den Vater; sie wehrt ihm so lange, was ihm im Blut liegt, bis sie ihn ziehen lassen muß, denn Seefahrt ist not ...

    Die Schilderung ist einfach, ergreifend. Liebevoll sind die Einzelnen gezeichnet, der Fischer, die Frau der Junge. Nichts Gespieltes, Gestelltes ist da; es kann gar nicht anders sein, wenn die Gemeinde in der Kirche betet [...]; alle Figuren, der alte Segelmacher, die Matrosen, selbst der komische Dorfschuster sind bedrückend lebenswahr. – Der Film ist sehr breit angelegt, beinahe zu breit; fünf lange Akte ziehen vorbei, schwer und düster, dem Milieu gleich, das sie zeigen; kaum, daß in der kurzen Szene, in der der Untergang des Fischers erschütternd angedeutet ist, die Erregung steigt. Monotonie, hier Ausdrucksmittel, legt sich auf den Zuschauer wie ein Alp. Das Publikum löste sich gestern nur zögernd zum Beifall. –

    Die Regie ist mit Bedachtheit geführt, mit einheitlicher Auffassung, nur so kann ein Ganzes entstehen, nur so ein Film künstlerischen Wert beanspruchen. Es ist die Arbeit Rudolf Biebrachs.

    Lucie Höflich spielt die Rolle der Mutter; ich glaube, ihre Stärke liegt hier im Kontrast zwischen Figur und Ausdruck: es überrascht, wenn die untersetzte, kräftige Frau die oft etwas herb erscheint, plötzlich ihre Resolutheit in eine weiche Geste wandelt, sobald sie den Sohn küßt, oder – als erwachte sie aus der bäuerlichen Schwere – wenn sie wie ein Mädchen aufspringt, um den Mann zu umarmen. Hans Marr ist ein ebenbürtiger Partner, vierschrötig, nüchtern und dabei mild. Die beiden wirken wundervoll nebeneinander. Sehr hübsch und klug gibt der kleine Werner Pfullmann den Jungen; Hermann Picha, Hugo Döblin stehen als gute Typen neben Rudolf Biebrach, der den biederen, immer heiteren Matrosen darstellt.

    Die Photographie ist nicht beständig klar, im Durchschnitt aber akzeptabel.

Seefahrt ist not!, Rudolf Biebrach, 1921
Gesa Mewes (Lucie Höflich) und ihr Sohn »Störtebeker« (Werner Pfullmann)
im Film »Seefahrt ist not!« (Rudolf Biebrach, 1921) *

Copyright Robert Wohlleben
*) Dank an die Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Berlin, für die Bilder