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Ernst-Jürgen Dreyer
Die Spaltung
Roman

Ernst-Jürgen Dreyer: Die Spaltung 1980

Der Student Landmann, der Held dieses Romans, geschlagen mit einer produktiven Phantasie, aus deren Grund ihm Bilder, Geschichten, Alp- und Tagträume quellen, gerät in eine Spannung gegen das äußere Leben, die sich zuletzt mit einem Sprung quer durch die Individualität befreit. Den Preis ahnt Landmann: »Die brennende Grenze hält mich notdürftig zusammen.«

Inhalt
I
ERSTES KAPITEL
Behördenkorridore. Dringender Reisewunsch. Tagträume vom Fliehen unter der Bank des Zuges. Barbaras Geschichten. Der Wurm im Rettich. L findet Hilfe bei Frau Olbertz und
ZWEITES KAPITEL
sucht Hilfe bei Schorsch. Zielloses Irren in der Nacht. Erlebnis im Treppenhaus. Der Schnaps bei Graser. Der Wein im Carola-Casino. Grandpère Michus Tod. Ls Erwachen im dritten Stock. Die schöne Sorbin. Die Grützwurst. Eine Straßenbahnfahrt. Des Onkels Telegramm.
EXTRABLATT
Gespräch im Eisenbahnabteil.
DRITTES KAPITEL
Theaterkarten. Ls Verhör. Lutz Robert Landmann spaltet sich in Lutz, Robert und Landmann. Der Onkel kehrt heim. Der Kornwein. Wiederkehr vergessener Einzelheiten. Die Verwandten versagen sich Ls Wunsch.
II
hängt ohne Episodenbildung zusammen; die Formen verändern sich gleitend. Nach dem vorangegangenen »Allegro« ist das II. Buch das »Menuett«. Nach glückloser Tour ist L nach Ämterschluß bei Barbara, die ihn ins Sinfoniekonzert mitschleift. Robert dagegen hat längst seine Braut erreicht, wundert sich, nicht das ersehnte Vergnügen zu empfinden; seine sich verschlechternde Laune bringt sie zu Tränen: hier mündet der Text in eine Biographie der Liebe, allmählich gesellen sich Stimmen dazu; Inhalt des Stimmenspiels ist das Treffen der Liebenden bei einer alten Dame, die ihnen auf Vermittlung eine Genehmigung besorgt hat. Flucht am vorgeschobenen Abfahrtstag, Aufenthalt in Leipzig, wo die Streitigkeiten Barbaras mit den Nachbarn zu einem Höhepunkt geraten, Weiterfahrt in Ls Heimatort. Auf der Reise zu diesem einzigen dem Genehmigungstermin abgelisteten Abend, an welchem sie kein Dritter stets auseinanderhielte, ereilen die Braut ihre »Tage«. Den Schluß des Kapitels bildet eine absurd verkürzte Wiedergabe des Ganzen durch vier Protokollanten, die kein Wort verstanden haben.
Menuett-Trio: Selbstmord eines Liebespaares durch einen Sprung vom Turm.
III
ist der langsame Satz. Der Roman stockt bzw. setzt sich in Nebenfiguren fort, in denen die Hauptfiguren kryptisch existent sind. Buch III enthält 47 numerierte Prosastücke ungleicher Länge. – Ohne ihr Wissen oder auch nur eine Ahnung davon ist Barbara eine Replik (von Marion: Nr. 11) – nimmt sich wegen eines jungen Ehepaars eine Witwe das Leben (Nr. 39) – verfolgt Barbara ein Spion (Nr. 40) – behält bei routinemäßigem Dienstbesuch ein Polizist von Frau L einen okkult zu nennenden Eindruck (Nr. 10) – sind Fremde am Gelingen von Liebesgeschichten beteiligt (Nr. 12) usw. – Die 47 Stücke, scheinbar unzusammenhängend, bilden vielfältig sich überschneidende Zyklen: Nr. l und 31 sind »Rätsel«, in Nr. l ist aber auch hingewiesen auf das Fetischistenkapitel Nr. 27 und auf Simons Bordelltraum in Nr. 44. Das Fetischistenkapitel Nr. 27 ist wiederum Teil zweier Zyklen: a) des Zyklus’ mit den Nummern 3 (Thema), 5 (Variation I: Marion), 20 (Variation II: Micki), 27 (Variation III: Marionette) und 39 (Variation IV: Martha), und b) des Tiele-Zyklus’, in dessen Mittelpunkt ein mit Tinte an die Wand gemalter Schattenriß steht: Nr. 7 (Knäul), Nr. 19 und Nr. 27 (mit den Namensformen Tiele, Thiele und Thiehle).
IV
– nach dem langen III. Buch wieder ein kürzeres. Zunehmende Menschenscheu verwehrt L den Fußweg über die für die Straßenbahn gesperrte Brücke, zuletzt gar das Verlassen des Hauses. Gegen den expressiven Ton des I., den aufgelösten des II. und den Erzählton des III. Buches hat das IV. den Ton zerfahrenen Brief- und Tagebuchstils, in Ls Notizen zeichnet sich Verfall und das Wuchern von Wahn-Ideen ab. Doch ist zugleich die Beobachtungsgabe aufs äußerste geschärft. Zwischen den Briefen, Eintragungen und Rundschreiben des irre-gewordenen Landmann, deren Thema das Niemandsland ist, in dem er sich einrichtet, aber auch der Sumpf, in dem er untergeht, zugleich das Minenfeld, in dem er sich nicht bewegen darf, und die Grenze, die nur sein Beharren tilgt usw., stehen sechs Erzählpartien über Dr. N, in welchen dem Wahnsinn Ls der äußere seiner Situation entspricht: N lebt wirklich im Niemandsland; seit einem Treffen mit der Braut in West-Berlin gilt er als republikflüchtig; auch sein Erscheinen widerlegt seine »Tat« nicht, nämlich das Vergehen der Republikflucht, das, als strafwürdig, doch notwendig dann, wenn es gelingt, straffrei bleiben muß, und nur dann gestraft wird, wenn es unterblieb.