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Ernst-Jürgen Dreyer: »Wozu Lyrik heute?«

 

Zweitens wollte ich Dir schon ewig ein »statement« beilegen, das sich eine Münsteraner Studentin für eine Examensarbeit erbat – nämlich eine Stellungnahme zu Hilde Domins Frage »Wozu Lyrik heute«.

 

Ernst-Jürgen Dreyer im Brief vom 22. Juni 2010

»Wozu Lyrik heute?« Eine Frage nach Zweck und Nutzen offenbar überflüssig gewordener Erscheinungen – wie »Wozu Igel? Wozu Brennesseln? die ja einmal ihre Existenzberechtigung gehabt haben mögen – aber heute?« Dazu noch ist die Frage unscharf gestellt: Ist es die Selbstverteidigung des Verlegers: »Wozu noch Lyrik drucken? die sich ja heute nicht mehr verkauft?« Oder die der Kultusminister: »Sollen wir die Hirne künftiger Azubis mit Lyrik verstopfen?« Geht darin Adornos Diktum um, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch?

Die Frage des Dichters: »Wozu noch dichten – heute...?« wird es ja wohl nicht sein; denn noch immer, trotz aller Nichtbeachtung, vergrößert sich der »Vorrat ewiger Poesie« um neue Zaubersprüche. »Die Ros’ kennt kein Warum«, dichtet der Cherubinische Wandersmann: »sie blühet, weil sie blühet.« Mit größerem Recht noch könnte man sagen: Sie »kennt kein Wozu.« Lassen wir die Rose als Gleichnis der Lyrik stehen (»Anthologie« heißt schließlich »Blütenlese«) und verstehen wir »Lyrik« als von der Lyra abgeleitet, nicht vom Leierkasten (wofür es ebenfalls Gründe gäbe). Wer die Dichtung liebt, dem strömen aus dem Gedächtnis Beispiele die Fülle zu. »Schöpft des Dichters reine Hand, / Wasser wird sich ballen« (Goethe). – »Und die Lilie duftet / Golden über dem Bach uns auf« (Hölderlin). – An Hölty ist zu denken, nach dem sich der Bach »durchs Gewinde des Veilchentals schraubt«. – Und (um Lyrik von heute zu zitieren) an Hans Amfrid Astels »Provence«-Haiku: »Azurschwarz / scheint der nachtblaue / Taghimmel.«

Dem Banausen muß jedes als barer Unsinn erscheinen. »Wasser ballt sich nicht, es sei denn im Aggregatzustand des Schnees, und dazu ist keine Dichterhand nötig. – ›Gewinde und Schraube‹ passen zum Baumarkt, aber nicht zum ›Veilchental.‹ – ›Golden duften‹ ist eine contradictio in adiecto, das Verb ›jemandem aufduften‹ gibt es schon gar nicht. – Und was schließlich soll ein nachtblauer Taghimmel sein, der auch noch schwarz ›scheint‹? ›azurschwarz‹? Wahrscheinlich denkt der Dichter an das ›Azurit‹ eines metallic-lackierten Autos. – Wozu also dient dieser Unrat?«

Wollte man hierauf antworten, so müßte man sich selber auf den Nutzstandpunkt stellen. Dann könnte man den klugen Aphorismus zitieren, daß bei Pannen das fünfte Rad am Wagen das nützlichste ist. Eine »Panne« weltgeschichtlichen Ausmaßes war das Dritte Reich. Es ist bezeugt, welche Überlebenshilfe im Konzentrationslager ein Gedächtnis bedeutete, in dem Lyrik gespeichert war (und hierbei ist an weit mehr zu denken als an die abgesonderte Spezies, die man so nennt). Wer inmitten von Kommandogebrüll und Krematoriumsgestank Wortgebilde wie die obigen aus den Tiefen seiner Erinnerung hervorzurufen vermag, ist zwar gewiß existenziell nicht weniger gefährdet als der Nachbar, der nur in der Gegenwart – auch der Geistesgegenwart – lebt (wahrscheinlich ist er es sogar mehr), aber ihn hebt etwas in eine bewundernswürdige Ordnung, die ihn tiefinnerlich dessen versichert, daß die globale Nacht nicht alles ist. »... die Lilie duftet / Golden über dem Bach uns auf« wird zur Vision; im Verbzusatz »auf« glänzt der Morgen vor, und der Dativ »uns« begreift den Häftling ein.

Die Poesie erweist sich als die heimlich fortwirkende »Muttersprache des menschlichen Geschlechts«, in der alte Zauber das Wasser »sich ballen« machen. Höltys genial-nüchterne Wortfügung »ballt« das Gewinde des Abhangs und das Sichzutalschrauben des Bachs zu einer Einheit des Disparaten, in der sich die Sonderung aufhebt: das Schrauben als kein Zwängen ins vorgeformte Gewinde gedacht, das zwei Dinge bis zu Unbeweglichkeit strammzurrt, sondern als ein freies Sprudeln nach der Maßgabe des Spielraums, den es selber sich schafft. In Astels Haiku sind es gerade die Farb-Paradoxa, die durch den Krematoriumsrauch hindurch den reinen Himmel des Südens beschwören. Aus den Zeilen der Lyrik steigt die Epiphanie einer Erde, wie sie dem ersten Menschepaar zugedacht war und wie sie nicht für immer verscherzt und verraten sein kann.

Aber der Überlebensnutzen ist allenfalls ein Nebeneffekt oder, wie Goethe sagen würde, eine »Wirkung natürlicher Ursachen«, wie sie die Sonnenblume verrät, wenn sie sich nach der Sonne dreht. Vielleicht bleiben uns die Genozide erspart, und dann – so könnte der Banause argumentieren – haben wir den Ballast der Dichtung überflüssigerweise ins »Heute« mitgeschleppt. – Daß unsere Lage noch hoffnungsloser sein könnte, klänge nach der Diagnose eines Wahnsinnigen, aber vielleicht gehört auch das Wort aus Georges Gedicht »Der Krieg« an diese Stelle: »... Mord am Leben selbst«.

Nein, es gilt die Frage nicht zu beantworten; es gilt sie zurückzuweisen. Und da sich die Fragestellerin ja Lyrik als Argumentationshilfe ausdrücklich verbittet, soll Philosophenprosa das Fazit bilden. Durch die Kunst – die Lyrik einbegriffen – feiert – so Nietzsche in der »Geburt der Tragödie« – »das eine wahrhaft seiende Subjekt seine Erlösung im Scheine«. – Paracelsus hat sich vor der Benennung jenes »einen wahrhaft seienden Sujekts« weniger gescheut: »Gott will nicht, daß seine mysteria sichtbar seien, aber daß sie gesehen und erkannt werden durch die Werk, das ist, durch die Werk des Menschen, der deswegen da ist, daß er sie sichtbar machen soll.«

Wen das Wort »Gott« stört, der kann, mit Goethe, das Wort »Natur« dafür setzen und vom Kunstwerk (auch wohl dem lyrischen) sagen: »nicht Natur (von außen), sondern der Mensch (Natur von innen)«, und paracelsianisch fortfahren: »der deswegen da ist, daß er sie sichtbar machen soll.« Denn »nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt« (Nietzsche), was man übersetzen könnte: Kein Azurit-metallic der Autobranche kann es mit dem »Azurschwarz« der Lyrik aufnehmen; auch weist das Wort »ewig« ja das Wort »heute« genugsam zurück. – »Wozu Lyrik heute?« – welch ein Armutszeugnis die Frage bedeutet, erhellt wohl noch klarer nur aus einer Tagebuchnotiz Friedrich Hebbels von 1841: »Gerade das kann die Welt entbehren, um dessenwillen sie allein zu existieren verdient.«



 

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